hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 1041

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 392/13, Urteil v. 23.10.2013, HRRS 2013 Nr. 1041


BGH 2 StR 392/13 - Urteil vom 23. Oktober 2013 (LG Darmstadt)

Kompensation der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (revisionsrechtliche Rüge einer Kompensationsentscheidung; Begründung der Kompensationsentscheidung im Urteil).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 13 EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für die revisionsgerichtliche Prüfung, ob im Einzelfall eine Art. 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK verletzende Verfahrensverzögerung vorliegt, ist grundsätzlich eine Verfahrensrüge erforderlich (vgl. BGHSt 49, 342, 344). Diese ist gleichermaßen zu erheben, wenn ein Angeklagter beanstandet, Art, Ausmaß und Umstände einer angenommenen Verzögerung seien zu seinen Lasten nicht oder nicht genügend festgestellt (vgl. BGH, NStZ 2004, 504 zu einer Revision des Angeklagten). Nichts anderes kann aber gelten, wenn die Staatsanwaltschaft zu Ungunsten einer Angeklagten geltend macht, der Kompensationsausspruch halte sich nicht innerhalb des dem Tatgericht zustehenden Beurteilungsspielraums, weil Tatsachen, aus denen sich die vom Tatgericht angenommene Verzögerung ergibt, nicht hinreichend dargelegt seien.

2. Der Tatrichter hat zwar Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen (vgl. BGHSt 52, 124, 146). Der sachlich-rechtlich zu fordernde Erörterungsbedarf darf jedoch mit Rücksicht auf die vielen denkbaren Verfahrensvorgänge, die für die Entscheidung eine Rolle spielen können, nicht überspannt werden (vgl. BGHSt 49, 342, 344). Es reicht deshalb aus, wenn das Revisionsgericht anhand der Ausführungen im Urteil im Sinne einer Schlüssigkeitsprüfung nachvollziehen kann, ob die festgestellten Umstände die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK tragen und sich die Kompensationsentscheidung innerhalb des dem Tatrichter insoweit eingeräumten Bewertungsspielraums hält (vgl. BGH StV 2010, 228, 230 f.).

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 18. Februar 2013 wird verworfen.

Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Ferner hat es ausgesprochen, dass wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung von der verhängten Strafe zehn Monate als vollstreckt gelten. Die Staatsanwaltschaft beantragt mit ihrer Revision die umfassende Aufhebung des Urteils und erhebt mit einer Verfahrensrüge und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts Einwendungen gegen die Entscheidung über die Kompensation der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

1. Die Staatsanwaltschaft wendet sich in ihrer Revisionsbegründung der Sache nach allein gegen die Kompensationsentscheidung des Landgerichts, die grundsätzlich isoliert auf Rechtsfehler überprüfbar ist (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Dezember 2010 - 2 StR 563/10). Trotz des umfassenden Aufhebungsantrags ist die Revision daher auf die Kompensationsentscheidung beschränkt. Dem steht hier nicht entgegen, dass die Staatsanwaltschaft auch die vom Landgericht festgestellten besonderen Belastungen der Angeklagten durch das Verfahren beanstandet, die auch für den Strafausspruch relevant sein können; denn das Landgericht hat diesen Gesichtspunkt nicht bei der Strafzumessung, sondern nur bei der Höhe der Kompensation berücksichtigt, und die Revision wendet sich auch nur in diesem rechtlichen Zusammenhang gegen das Urteil des Landgerichts.

2. Das Landgericht begründet seinen Kompensationsausspruch wie folgt: Gemessen an Umfang, Bedeutung und Schwierigkeit der Sache sei das Verfahren nach Beginn des Ermittlungsverfahrens im Juli 2009 bis zur Verurteilung für einen Zeitraum von nahezu zwei Jahren und neun Monaten aufgrund in der Sphäre der Strafverfolgungsbehörden liegender Verzögerungen nicht angemessen gefördert worden. So habe nach Erhebung der Anklage im Dezember 2009 im Zwischenverfahren durch die Kammer zunächst ein ergänzendes kinderneurologisches Gutachten in Auftrag gegeben werden müssen, das aufgrund weiterer Verzögerungen infolge Verhinderung und daraufhin erforderlich werdender Auswechslung des bestellten Sachverständigen erst im Mai 2010 bei Gericht eingegangen sei. Dies habe zur Folge gehabt, dass das Verfahren nicht mehr zeitnah habe weiterbetrieben werden können, da in der Zwischenzeit umfangreiche Haftsachen eingegangen seien, aufgrund derer die Kammer für die nächsten Jahre übermäßig belastet gewesen sei. Wäre das ergänzende Gutachten schon durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren in Auftrag gegeben worden, wäre es nicht zu den beschriebenen Verzögerungen gekommen, so dass das Verfahren noch vor Eingang der zur Überlastung der Kammer führenden anderweitigen Haftsachen hätte terminiert werden können. Trotz der offenkundigen Erforderlichkeit eines entsprechenden Gutachtens habe die Staatsanwaltschaft dessen Einholung zuvor im Ermittlungsverfahren unter Hinweis auf das zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegende rechtsmedizinische Gutachten der Sachverständigen Dr. N., die nach ihrer eigenen Einschätzung in der Hauptverhandlung in dem relevanten Bereich der Neuropädiatrie und Neonatologie nur über eine begrenzte Sachkunde verfüge, voreilig abgelehnt, obwohl der Verteidiger die Einholung eines solchen Gutachtens noch vor Abschluss der Ermittlungen bereits frühzeitig zu Recht angeregt habe. Abgesehen von der Eröffnungsentscheidung im September 2012 habe dann seit Eingang des neuropädiatrischen Gutachtens aufgrund der dauerhaften Überlastung der Strafkammer keine weitere Förderung des Verfahrens mehr stattgefunden.

Für die psychisch ohnehin äußerst instabile Angeklagte sei das Andauern des schwebenden Verfahrens gerade im Hinblick auf ihre persönliche Situation in besonderem Maße belastend gewesen. Aufgrund der Schwere des Tatvorwurfs habe sie auch nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft über einen entsprechenden Zeitraum mit der Möglichkeit einer Verurteilung zu einer empfindlichen Haftstrafe und einer erneuten Inhaftierung rechnen müssen. Hinzu komme, dass ihre Kinder seit der Tat und der anschließenden Untersuchungshaft nicht mehr bei ihr lebten und sie zu ihnen, obwohl sie sich eine engere Beziehung wünsche, nur noch eine eingeschränkte Verbindung habe. Diese Umstände erschwerten der ohnehin unter Depressionen leidenden Angeklagten während der Dauer des schwebenden Verfahrens die Schaffung einer langfristigen Lebensperspektive erheblich.

Angesichts des Umfangs der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, des Maßes des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie der konkreten Auswirkungen all dessen auf die Angeklagte seien zur Kompensation zehn Monate der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt zu erklären.

3. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand.

a) Soweit die Revision mit der Verfahrensrüge geltend macht, dass die Darlegungen des Landgerichts zur Verzögerung des Verfahrens durch die Nichteinholung eines kinderneurologischen Gutachtens im Ermittlungsverfahren nicht die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung von zwei Jahren und neun Monaten tragen, ist diese nicht in zulässiger Weise erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Denn die Staatsanwaltschaft hat es versäumt, den Inhalt der in der Revisionsbegründungsschrift erwähnten rechtsmedizinischen Gutachten der Sachverständigen Dr. N. und Dr. A. mitzuteilen. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, um dem Senat eine Prüfung der Verfahrensrüge zu ermöglichen. Der Inhalt der Gutachten konnte von erheblicher Bedeutung für die Beurteilung der Frage sein, ob die Nichteinholung eines ergänzenden kinderneurologischen Gutachtens bereits im Ermittlungsverfahren eine von der Justiz zu verantwortende Verfahrensverzögerung verursacht hat und der insoweit verstrichene Zeitraum vom Landgericht zu Recht bei seiner Kompensationsentscheidung berücksichtigt wurde.

Damit kann die Revision auch sachlich-rechtlich nicht mit der im Kern identischen Beanstandung gehört werden, die Urteilsgründe ließen nicht erkennen, welche konkreten Umstände der Staatsanwaltschaft zu welchem Zeitpunkt bereits vor der Erhebung der Anklage hätten Anlass geben müssen, ein die bereits vorliegenden Gutachten ergänzendes kinderneurologisches Gutachten in Auftrag zu geben. Für die revisionsgerichtliche Prüfung, ob im Einzelfall eine Art. 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK verletzende Verfahrensverzögerung vorliegt, ist grundsätzlich eine Verfahrensrüge erforderlich (BGHSt 49, 342, 344). Diese ist gleichermaßen zu erheben, wenn ein Angeklagter beanstandet, Art, Ausmaß und Umstände einer angenommenen Verzögerung seien zu seinen Lasten nicht oder nicht genügend festgestellt (vgl. BGH, NStZ 2004, 504 zu einer Revision des Angeklagten). Nichts anderes kann aber gelten, wenn die Staatsanwaltschaft - wie hier - zu Ungunsten einer Angeklagten geltend macht, der Kompensationsausspruch halte sich nicht innerhalb des dem Tatgericht zustehenden Beurteilungsspielraums, weil Tatsachen, aus denen sich die vom Landgericht angenommene Verzögerung ergibt, nicht hinreichend dargelegt seien. Dies hat zur Folge, dass die Beschwerdeführerin nicht mit der Sachrüge die Nichterörterung von Umständen im Urteil beanstanden kann, die von ihr für eine zulässige Verfahrensrüge im Sinne von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO hätten vorgetragen werden müssen.

b) Auch im Übrigen lässt die Überprüfung des Kompensationsausspruches auf die Sachrüge Rechtsfehler nicht erkennen. Der Tatrichter hat zwar Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen (BGHSt 52, 124, 146). Der sachlich-rechtlich zu fordernde Erörterungsbedarf darf jedoch mit Rücksicht auf die vielen denkbaren Verfahrensvorgänge, die für die Entscheidung eine Rolle spielen können, nicht überspannt werden (vgl. BGHSt 49, 342, 344). Es reicht deshalb aus, wenn das Revisionsgericht anhand der Ausführungen im Urteil im Sinne einer Schlüssigkeitsprüfung nachvollziehen kann, ob die festgestellten Umstände die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK tragen und sich die Kompensationsentscheidung innerhalb des dem Tatrichter insoweit eingeräumten Bewertungsspielraums hält (vgl. BGH StV 2010, 228, 230 f.). Diesen Anforderungen genügt das landgerichtliche Urteil. Die Strafkammer legt den Umfang der nach ihrer Auffassung von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortenden Verzögerung mit zwei Jahren und neun Monaten für das Revisionsgericht nachvollziehbar dar und zeigt in ausreichendem Maße die besonderen Belastungen auf, denen die Angeklagte durch das Verfahren ausgesetzt war.

Soweit die Revision und der Generalbundesanwalt geltend machen, dass - was zutrifft - der für die gerichtliche Prüfung und Zustellung sowie die Durchführung des Zwischenverfahrens einschließlich der Vorbereitung der Eröffnungsentscheidung erforderliche Zeitraum nicht als Verfahrensverzögerung gewertet werden könne, ergibt sich aus den Urteilsgründen noch hinreichend (UA S. 38), dass das Verfahren ohne die beschriebenen Verzögerungen noch vor Eingang der die spätere Terminierung hindernden Haftsachen hätte terminiert werden können, mithin zwei Jahre neun Monate vor dem tatsächlichen Hauptverhandlungsbeginn im Januar 2013. Dieser Zeitraum entspricht der vom Landgericht zugrunde gelegten Verzögerung.

Schließlich sind auch die Feststellungen der Strafkammer zu den besonderen Belastungen der Angeklagten durch das Verfahren nicht zu beanstanden. Aus der Begründung der Kompensationsentscheidung in Verbindung mit den Feststellungen zum Werdegang der Angeklagten nach der Tat sowie ihren gegenwärtigen Lebensverhältnissen ergibt sich, dass das Landgericht insoweit vor allem auf die Sorge der ohnehin psychisch sehr labilen Angeklagten abgestellt hat, eine Verurteilung zu einer empfindlichen Haftstrafe könne die trotz der Tat nach ihrer Haftentlassung in kleinen Schritten zumindest teilweise wieder mühsam aufgebaute Beziehung zu ihren beiden Kindern wieder zerstören. Eine besondere Belastung der Angeklagten durch die von der Justiz zu verantwortende Verzögerung des Verfahrens ist damit ohne Rechtsfehler dargetan. Mit Rücksicht darauf hält sich auch der als vollstreckt zuerkannte Zeitraum von zehn Monaten noch innerhalb des dem Landgericht zustehenden Beurteilungsspielraums.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 1041

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2014, 21

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel