hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 475

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 440/12, Urteil v. 13.03.2013, HRRS 2013 Nr. 475


BGH 2 StR 440/12 - Urteil vom 13. März 2013 (LG Aachen)

Versuchter Totschlag (Mittäterschaft: Exzess des Mittäters; minderschwerer Fall).

§ 212 StGB; § 22 StGB; § 23 StGB; § 213 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten S. S. wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 16. März 2012 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit es ihn betrifft.

2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorgenannte Urteil im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

3. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten S. S., an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

4. Die Revision des Angeklagten T. S. gegen das vorbezeichnete Urteil wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die beiden Angeklagten wegen (gemeinschaftlich begangenen) versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers zu Freiheitsstrafen von jeweils drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wenden sich beide Angeklagten mit der Sachrüge, die hinsichtlich des Angeklagten S. S. zur Aufhebung des Urteils führt; die Revision des Angeklagten T. S. ist unbegründet. Die auf den Strafausspruch beschränkte, ebenfalls auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat hinsichtlich beider Angeklagter Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es aufgrund eines familiären Streits am 4. September 2010 zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen dem Nebenkläger, der von zahlreichen weiteren Personen unterstützt wurde, und den beiden Angeklagten, die Brüder sind. Im Zuge dieser Auseinandersetzung fügte der Nebenkläger beiden Angeklagten zum Teil lebensgefährliche Messerstich-Verletzungen zu. Ein Strafverfahren gegen den Nebenkläger wegen dieses Vorfalls ist anhängig.

In der Folgezeit kam es bei zufälligen Zusammentreffen der Angeklagten und des Nebenklägers zu gegenseitigen Beleidigungen und Drohungen. Die Angeklagten beschafften sich jeweils einen Teleskop-Schlagstock, der Angeklagte T. S. zudem einen Revolver nebst Munition.

Am 24. Dezember 2010 begaben sich die beiden Angeklagten gegen 17.15 Uhr auf das Gelände einer Tankstelle, um dort eine Telefonkarte zu kaufen. Sie waren leicht alkoholisiert und hatten im Laufe des Tages Diazepam- und Bromazepam-Tabletten eingenommen. Als sie das Tankstellengebäude wieder verließen, stießen sie auf den Nebenkläger, der sich zufällig auf dem Gelände aufhielt.

Die Angeklagten griffen aufgrund eines spontan gefassten gemeinsamen Entschlusses den Nebenkläger, der sie nicht bemerkt hatte, mit ihren Schlagstöcken an und schlugen auf ihn ein. Dem Nebenkläger gelang es zunächst, bis zur Tür des Kassenraums zu flüchten; dort drehte er sich um. Der Angeklagte T. S. zog nun seinen Revolver hervor und schoss dem Nebenkläger gezielt in den Oberschenkel. Der Nebenkläger, der nicht schwer verletzt war, floh weiter, wurde von den beiden Angeklagten jedoch alsbald eingeholt und anhaltend massiv mit den Schlagstöcken auf Kopf und Körper geschlagen. Sodann entfernte sich T. S. ein paar Meter und beobachtete, wie sein Bruder weiter auf den Nebenkläger einschlug. Als der Geschädigte sich in eine hockende Stellung begab, schoss T. S. aus wenigen Metern Entfernung gezielt auf die Körpermitte des Nebenklägers; dieser erlitt einen (s. UA 23) Hüftsteckschuss, fiel um und blieb regungslos liegen. Bei der Schussabgabe nahm der Angeklagte T. S. den Tod des Nebenklägers billigend in Kauf. Beide Angeklagte flohen nun von dem Tankstellengelände; hierbei rechneten sie damit, dass der Geschädigte sterben werde. Dieser wurde jedoch gerettet.

Im Laufe der Hauptverhandlung haben die beiden Angeklagten dem Nebenkläger einen Vergleich angeboten, wonach wechselseitig auf zivilrechtliche Ansprüche wegen der Vorkommnisse am 4. September und 24. Dezember 2010 verzichtet werden solle; dies lehnte der Nebenkläger ab. In ihrem letzten Wort haben sich die Angeklagten bei dem Nebenkläger entschuldigt.

Das Landgericht hat aufgrund sachverständiger Beratung beide Angeklagte für zur Tatzeit voll schuldfähig gehalten. Es hat angenommen, dass die Angeklagten aufgrund eines - im Zuge der Geschehnisse erweiterten - gemeinsamen Tatplans gehandelt hätten; der Tötungsvorsatz des Angeklagten T. S. sei daher auch seinem Bruder zuzurechnen. Ein Mordmerkmal hat es nicht als verwirklicht angesehen; eine gefährliche Körperverletzung hat es in den Varianten des § 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4 und Nr. 5 StGB als gegeben angesehen.

Bei der Strafzumessung ist das Landgericht jeweils vom Strafrahmen des § 213 StGB ausgegangen, da es minder schwere Fälle gem. § 213, 2. Variante StGB bejaht hat. Diesen Strafrahmen hat es zum einen wegen Versuchs (§ 23 Abs. 2 StGB), zum anderen im Hinblick auf einen Täter-Opfer-Ausgleich gem. § 46a StGB zweimal nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert.

2. Die Revision des Angeklagten S. S. ist begründet, denn die Feststellungen tragen die Verurteilung wegen versuchten Totschlags nicht. Der Angeklagte erlangte zwar jedenfalls bei Abgabe des ersten Schusses durch seinen Bruder Kenntnis davon, dass dieser eine Schusswaffe führte. Rechtsfehlerhaft ist aber die Erwägung, auf welche das Landgericht die Annahme eines gemeinsamen Tatplans zur Tötung gestützt hat: Es hat ausgeführt, da der Angeklagte sich nach dem ersten Schuss weiter aktiv an der Tatausführung beteiligt habe, lasse "das gesamte Tatgeschehen" eine arbeitsteilige Tatbegehung erkennen, in welche auch die Tötung des Nebenklägers einbezogen gewesen sei. Es habe sich bei dem zweiten Schuss nicht um eine Exzesshandlung des T. S. gehandelt (UA S. 29, 39).

Hieraus ergibt sich kein tragfähiger Grund, dem Angeklagten S. S. den Tötungsvorsatz seines Bruders zuzurechnen. Er hatte bemerkt, dass dieser den Geschädigten "gezielt" in das Bein schoss, also gerade nicht mit Tötungsvorsatz handelte. Eine ausdrückliche Absprache hat das Landgericht nicht festgestellt. Zum Zeitpunkt der Abgabe des zweiten Schusses war der Angeklagte T. S. einige Meter zurückgetreten und hatte beobachtet, wie sein Bruder auf den Geschädigten einschlug. Es ist nicht dargetan, dass S. S. mit der Abgabe eines zweiten Schusses überhaupt rechnete und dass er tatsächlich annahm, sein Bruder werde das Opfer nun nicht mehr nur verletzen, sondern töten. Die aktive Beteiligung an den weiteren Körperverletzungshandlungen nach dem ersten Schuss trägt, entgegen der Annahme des Landgerichts, nicht die Annahme von Tatherrschaft und eines gemeinsamen Tatenschlusses zur Tötung.

Soweit eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen in Betracht kommt, steht zwar seine Garantenstellung außer Frage; es ist aber nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt, welche Vorstellungen sich der Angeklagte zum Zeitpunkt des Weggehens über den Zustand des Geschädigten machte, insbesondere ob er dessen Rettung überhaupt noch für möglich hielt. Das Landgericht hat zwar einen beendeten Versuch angenommen, sich mit der Frage des Unterlassens-Vorsatzes aber - aus seiner Sicht konsequent - nicht näher befasst.

3. Die Revision des Angeklagten T. S. ist nicht begründet. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei den Tötungsvorsatz des Angeklagten festgestellt und einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch ausgeschlossen. Auch die Annahme voller Schuldfähigkeit begegnet aufgrund der umfangreichen und sorgfältigen Erörterungen des sachverständig beratenen Landgerichts keinen rechtlichen Bedenken.

4. Die Revision der Staatsanwaltschaft, die sich mit der Sachrüge nur gegen die Strafaussprüche hinsichtlich beider Angeklagter wendet, ist in vollem Umfang begründet. Die Annahme minderschwerer Fälle im Sinne von § 213, 2. Variante StGB ist vom Landgericht nicht rechtsfehlerfrei begründet. Es fehlt bei den Erwägungen des Landgerichts schon jeder Hinweis auf - nahe liegende - straferschwerende Gesichtspunkte, etwa die einschlägige Vorverurteilung des Angeklagten S. S. sowie die Vollendungsnähe bei dem Angeklagten T. S.; auch eine Gesamtabwägung, die belastende und entlastende Gesichtspunkte gegenüberstellt, ist nicht erkennbar. Bedenken begegnet im Übrigen auch die Annahme eines vertypten Milderungsgrunds gemäß § 46a StGB. Insoweit fehlt schon ein Hinweis darauf, nach welchem der beiden Tatbestände des § 46a StGB die Milderung erfolgt ist; ihre Voraussetzungen überschneiden sich zwar, sind aber zu unterscheiden. Soweit - was nahe liegt - § 46a Nr. 1 StGB gemeint ist, hat ein kommunikativer Prozess ersichtlich nicht stattgefunden. Das Angebot eines Vergleichs, das vom Geschädigten sogleich zurückgewiesen wurde, kann hier nicht als ausreichende Bemühung angesehen werden. Denn weder konnte von dem Geschädigten erwartet werden, dass er seinerseits zunächst eine Vor- oder Gegenleistung erbrachte, noch kann seine Weigerung, den zivilrechtlichen Vergleich abzuschließen, als rechtsmissbräuchlich angesehen werden. Auf der Grundlage der Feststellungen kann auch nicht angenommen werden, dass das Angebot der Angeklagten als Ausdruck der Übernahme von Verantwortung anzusehen war. Dass das Landgericht den Vollzug von Untersuchungshaft ausdrücklich strafmildernd berücksichtigt hat, begründet wegen deren Anrechenbarkeit gleichfalls einen Rechtsfehler zugunsten der Angeklagten.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 475

Externe Fundstellen: NStZ 2013, 462

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel