HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 882
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 90/11, Urteil v. 01.06.2011, HRRS 2011 Nr. 882
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 3. November 2010 im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der gefährlichen Körperverletzung und der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig ist.
2. Im Übrigen wird der Angeklagte freigesprochen; insoweit trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.
3. Das vorbezeichnete Urteil wird im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbliebenen Kosten der Rechtsmittel, an eine andere, allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
5. Die weitergehenden Revisionen werden als unbegründet verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin haben den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen sind sie unbegründet.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts erschlich sich der Angeklagte am späten Vormittag des 5. Februar 2010 den Zutritt zur Wohnung seiner damaligen Freundin, der späteren Geschädigten, indem er sich an der Türsprechanlage als Polizeibeamter ausgab. Hintergrund war, dass die Geschädigte den Angeklagten nach einem heftigen Streit am Vorabend nicht treffen wollte. Nachdem die Geschädigte die Tür geöffnet hatte, drängte sich der Angeklagte sofort in die Wohnung, schloss die Tür ab, packte die schreiende Geschädigte an Hals und Kopf und zerrte sie ins Badezimmer. Er schlug auf sie ein und begann dann, sie sowohl von vorne als auch von hinten mit beiden Händen heftig zu würgen. Die Geschädigte verlor dabei ein- oder zweimal kurzzeitig das Bewusstsein und war nahe dem Erstickungstod. Als Folge erlitt sie starke Einblutungen in den Bindehäuten beider Augen. Der Angeklagte, der den Tod der Geschädigten billigend in Kauf genommen hatte, beendete das Würgen letztlich von sich aus, obwohl er es hätte fortsetzen können.
Das Geschehen verlagerte sich nun in den Wohn-Schlafraum. Es folgten über Stunden abwechselnd eher ruhige Phasen, in denen beide miteinander redeten oder am Computer saßen, sowie Phasen mit erneuten, auch körperlichen Auseinandersetzungen. Der Angeklagte verlangte mehrfach und eindringlich von der Geschädigten, alle auf dem Computer gespeicherten gemeinsamen Bilder zu löschen. Die Geschädigte weigerte sich jedes Mal und schlug mit einer Vase und einem Telefonhörer dem Angeklagten auf den Kopf. Auch kam es zu Oralverkehr, wobei sich der Angeklagte letztlich selbst befriedigte. Insoweit konnte die Kammer nicht feststellen, dass die sexuellen Handlungen gegen den Willen der Nebenklägerin stattfanden und von wem "letztlich der Anstoß ausging" (UA S. 11).
Gegen 20 Uhr trafen die Mutter und die Tante des Angeklagten in Begleitung der Zeugin S. ein, da sie nach einem kurzen telefonischen Kontakt mit der Geschädigten befürchteten, dass "etwas nicht stimme" (UA S. 12). Es folgten Gespräche in unterschiedlichen Konstellationen, wobei sich der Angeklagte und die Geschädigte auch küssten. Letztlich eskalierte die Situation und der Angeklagte begann erneut, die Geschädigte zu würgen. Das Würgen erfolgte mit einer Hand und war weniger intensiv als zuvor; auch wollte der Angeklagte die Geschädigte nicht töten. Mutter und Tante des Angeklagten versuchten, der Geschädigten zu helfen. Nach einem Biss in den Finger ließ der Angeklagte schließlich von der Geschädigten ab, die panisch zu einem Nachbarn flüchtete.
Insgesamt hielt sich der Angeklagte ca. 10 Stunden in der Wohnung der Geschädigten auf.
2. Das Landgericht hat das Tatgeschehen vom Eindringen des Angeklagten bis zum Verlassen der Wohnung als einheitliche Tat gewürdigt und den Angeklagten auf der Grundlage seiner Feststellungen wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB verurteilt. Den späteren Würgevorgang und "weitere Körperverletzungsdelikte" hat es als nicht gesondert verfolgbare Teilakte angesehen (UA S. 25). Im Hinblick auf den versuchten Totschlag durch das anfängliche Würgen der Geschädigten ist das Gericht von einem strafbefreienden Rücktritt des Angeklagten ausgegangen.
Mit ihren zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Revisionen rügen Staatsanwaltschaft und Nebenklägerin zu Recht die Bewertung des Tatgeschehens als einheitliche Tat. Die tatmehrheitliche Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung war daher nachzuholen. Im Übrigen hält der Schuldspruch rechtlicher Überprüfung stand.
1. Die der Nichtverurteilung des Angeklagten wegen versuchter Tötung (durch das spätere Würgen), Geiselnahme und Vergewaltigung zugrundeliegende Beweiswürdigung lässt - entgegen dem Revisionsvorbringen - keine durchgreifenden Rechtsfehler erkennen.
a) Sieht der Tatrichter von einer weitergehenden Verurteilung ab, weil er Zweifel nicht zu überwinden vermag, so ist dies vom Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt insoweit nur, ob dem Tatgericht bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2004, 238; 2005, 147).
b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung der Kammer im Ergebnis gerecht. Zwar werden weder die Angaben der Geschädigten noch die Einlassung des Angeklagten zusammenhängend geschildert. Das Ergebnis der Beweiswürdigung ist indes unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe noch vertretbar dargestellt. Es wird deutlich, dass der Tatrichter alle nahe liegenden wesentlichen Beweistatsachen gesehen und jedenfalls nicht unzutreffend gewertet hat. Aus einzelnen denkbaren oder tatsächlichen Lücken der Erörterung kann nicht abgeleitet werden, der Tatrichter habe nach den sonstigen Urteilsgründen auf der Hand liegende Wertungsgesichtspunkte nicht bedacht.
Soweit das Landgericht zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen ist, dass es der Geschädigten möglich gewesen wäre, die Wohnung "mittels des Schlüssels" zu verlassen (UA S. 24), kann allein daraus, dass ausdrückliche Feststellungen zum zwischenzeitlichen Verbleib des Schlüssels fehlen, nicht geschlossen werden, das Landgericht könnte nicht bedacht haben, dass der Angeklagte die Wohnung zunächst abgeschlossen hatte. Das Landgericht hat im Rahmen der Beweiswürdigung auch diesen Umstand ausdrücklich erwähnt und ergänzend erörtert, dass die Geschädigte - wenngleich zu einem späteren Zeitpunkt - die Wohnung kurzzeitig verlassen hatte, um zu rauchen. Die Beweiswürdigung im Hinblick auf die zu Gunsten des Angeklagten angenommene Einvernehmlichkeit der sexuellen Handlungen erfolgt unter Berücksichtigung der Beweisergebnisse und Indizien im Rahmen einer Gesamtwürdigung.
Die Kammer würdigt die Angaben der Geschädigten, sie habe aufgrund des vorangegangenen Würgens die sexuellen Handlungen über sich ergehen lassen, "um Schlimmerem zu entgehen" (UA S. 16, 17). Wenn die Kammer gleichwohl unter Berücksichtigung dessen, dass es auch nach Angaben der Geschädigten friedliche Phasen gab, in denen einvernehmlich Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden (UA S. 18), der insgesamt außerordentlich ambivalenten Beziehung der beiden Beteiligten und aufgrund des Umstandes, dass nach dem ersten Würgevorgang die zeitliche Reihenfolge der Geschehnisse in der Wohnung nicht sicher festgestellt werden konnten, letztlich nicht ohne vernünftige Zweifel ausschließen konnte, dass die sexuellen Handlungen einvernehmlich stattfanden oder der Angeklagte zumindest davon ausgehen konnte (UA S. 18), lässt diese Würdigung einen Rechtsfehler nicht erkennen.
Auch soweit sich die Kammer im Hinblick auf den späteren Würgevorgang nicht vom Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes zu überzeugen vermochte, hält dies revisionsgerichtlicher Überprüfung stand. Die Kammer stützt sich insoweit auf die Angaben der Geschädigten, der Würgegriff sei nur mit einer Hand und weniger intensiv als der frühere geführt worden, und sie habe sich mit einem Biss in den Finger des Angeklagten befreien können (UA S. 20). Eine Lebensbedrohlichkeit konnte nicht festgestellt werden und weitere Beweiszeichen, aus denen auf das Vorstellungsbild des Angeklagten zu diesem Zeitpunkt geschlossen werden könnte und mit denen sich die Kammer hätte auseinandersetzen müssen, fehlen.
2. Die Feststellungen des Landgerichts tragen indes nicht die Bewertung des mehraktigen Tatgeschehens als einheitliche Tat.
Für die Annahme von Tateinheit fehlt es bereits an einer zumindest teilweisen Identität der Ausführungshandlungen in einem für die verwirklichten Körperverletzungsdelikte notwendigen Teil. Die beiden Würgevorgänge liegen zeitlich weit auseinander, dazwischen gab es wiederholt friedliche Phasen, in denen die Beteiligten auch Zärtlichkeiten austauschten; weitere Körperverletzungen, deren Ausführungshandlungen diesen Zeitraum überdauert haben könnten, hat die Kammer nur seitens der Geschädigten festgestellt (UA S. 25). Auch die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit liegt fern (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2010 - 2 StR 453/10).
Der Angeklagte ist wegen des anfänglichen lebensbedrohlichen Würgens der gefährlichen Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) und wegen des späteren Würgens der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) schuldig. Die insoweit mangels Strafantrags der Geschädigten gemäß § 230 StGB erforderliche Annahme des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung wurde seitens der Strafverfolgungsbehörde im Rahmen des Revisionsverfahrens erklärt.
Der Senat hat den Schuldspruch in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO selbst geändert, da ergänzende Feststellungen - auch im Hinblick auf weitere Körperverletzungsdelikte - nicht zu erwarten sind. § 265 Abs. 1 StPO steht dem nicht entgegen. Der Angeklagte hätte sich insoweit nicht anders verteidigen können.
Wegen der veränderten Bewertung der Konkurrenzverhältnisse war der Angeklagte aufgrund der auch zu seinen Gunsten wirkenden Revisionen (§ 301 StPO) im Übrigen freizusprechen um klarzustellen, dass die angeklagte Vergewaltigung dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden konnte.
Im Eröffnungsbeschluss war für alle Gesetzesverletzungen Tateinheit angenommen worden, weil dort, in Übereinstimmung mit der Anklage, ein die ganze Zeit über andauerndes Verbrechen der Geiselnahme gemäß § 239b StGB angenommen wurde. Da aber die Geiselnahme in der Hauptverhandlung nicht erwiesen werden konnte, ist die durch sie bewirkte rechtliche Klammer zwischen den untereinander in Tatmehrheit stehenden Körperverletzungsdelikte und der mit diesen in keinem Zusammenhang stehenden angeklagten Vergewaltigung entfallen. Erweist sich aber nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung die Annahme von Tateinheit als offensichtlich fehlerhaft und ist eine der Taten nicht erwiesen, so ist jedenfalls aus Billigkeitsgründen ein Teilfreispruch geboten (BGH NStZ 1992, 398; Meyer-Goßner StPO 53. Aufl. § 260 Rn. 12 mwN). Dies gilt auch für den Fall des Wegfalls einer Dauerstraftat, wenn dadurch der tateinheitliche Zusammenhang mit mehreren rechtlich selbständigen Taten, von denen eine nicht erwiesen werde konnte, verloren geht (vgl. BGH VRS 21, 341, 343). Der Senat hat aus diesem Grunde den Teilfreispruch mit der Kostenfolge aus § 467 Abs. 1 StPO nachgeholt.
Die auf Grundlage der Annahme des Vorliegens einer einheitlichen Tat verhängte Freiheitsstrafe war (auch gemäß § 301 StPO) aufzuheben. Zwar muss allein eine fehlerhafte Beurteilung der Konkurrenzen bei gleich bleibenden Schuld- und Unrechtsgehalt nicht zwingend auch den Strafausspruch im Ergebnis gefährden (BGH NJW 1996, 936, 938; BGH Beschluss vom 17. März 2011 - 1 StR 407/10; vgl. Fischer StGB 58. Aufl. § 46 Rn. 58). Hier muss der Strafausspruch aber schon deshalb aufgehoben werden, weil für die vorsätzliche Körperverletzung noch eine Einzelstrafe festzusetzen ist.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 882
Bearbeiter: Karsten Gaede