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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 870

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 546/11, Urteil v. 11.07.2012, HRRS 2012 Nr. 870


BGH 2 StR 546/11 - Urteil vom 11. Juli 2012 (LG Kassel)

Sexuelle Nötigung (Vergewaltigung).

§ 177 Abs. 1 StGB; § 177 Abs. 2 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 13. Juli 2011 in den Fällen II.1 und II.5 der Urteilsgründe sowie im Gesamtstrafenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen und wegen sexueller Nötigung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Seine auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit der Sachrüge den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts arbeitete der Angeklagte seit dem Jahre 2005 in einer Filiale einer Lebensmittelhandelskette in Kassel. Dort nahmen im gleichen Jahr die beiden Nebenklägerinnen, die Zeuginnen D. und V., Tätigkeiten als Einzelhandelskauffrau bzw. als Auszubildende auf. In den Jahren 2008/2009 übernahm der Angeklagte vom Zeugen H., der zum stellvertretenden Filialleiter befördert worden war, dessen Tätigkeit als Warenfachverantwortlicher für Obst und Gemüse. Ab Sommer 2009 begann der Angeklagte gegenüber den Nebenklägerinnen sowie der Zeugin E. sexuell übergriffig zu werden, indem er - trotz Aufforderung, dies zu unterlassen - im Vorbeigehen deren BH - Verschlüsse öffnete und der Zeugin D. ins Kühlhaus folgte, dort den BH öffnete, Bluse und BH hochschob und ihre nackten Brüste gegen die Kühlhauswand drückte. Es kam zu weiteren Taten, die Gegenstand der Verurteilung des Angeklagten sind.

1. An einem Abend im Februar 2009 wartete die Zeugin V. im Lager des Lebensmittelmarktes auf eine Lieferung. Der Angeklagte näherte sich ihr, öffnete ihre Halbschürze sowie ihren BH und zog mit einer Hand ihre Arme nach oben, um sie unter ihrer Bluse an die Brust zu fassen. Die Nebenklägerin wehrte sich, so dass er mit seinen Händen lediglich bis zum unteren Rand des BHs gelangte. Daraufhin fasste er ihr zwischen die Beine, berührte sie im Genitalbereich oberhalb ihrer Hose und meinte dabei zu ihr u.a., dass sie ihm auch mal einen "blasen" könne. Als sich eine andere Person näherte, ließ er die Zeugin los und verließ das Lager.

2. An einem Tag im September/Oktober 2009 hielt sich die Zeugin D. im Büro auf. Dort näherte sich ihr der Angeklagte und versuchte, ihren BH zu öffnen. Dies gelang nicht. Daraufhin zerrte der Angeklagte die sich wehrende Zeugin in den hinteren Büroraum und warf sie dort auf einen Tisch. Der Angeklagte schob Bluse und BH der Nebenklägerin hoch, fasste ihr mit einer Hand an die nackte Brust und saugte mit seinem Mund an ihrer linken Brustwarze. Als der Angeklagte hörte, dass jemand in den Bürobereich gelangen wollte, ließ er von seinem Tun ab.

3. An einem Tag im Herbst/Winter 2009 zog der Angeklagte die Zeugin D. gegen ihren Willen in den Herrenumkleideraum. Diese befürchtete einen erneuten sexuellen Übergriff und ging deshalb zusammen gekrümmt in die Hocke. Der Angeklagte schubste sie zu Boden, kniete sich hinter ihren Kopf und hielt ihre Hände auf deren Rücken fest. Die Nebenklägerin wehrte sich. Trotzdem gelang es dem Angeklagten, ihre locker sitzende Jeanshose ein Stück weit herunter zu ziehen, in die Unterhose der Zeugin zu fassen und einen Finger in ihre Scheide zu stecken. Er zog ihn mehrfach hin und her, bevor er wieder von ihr abließ. Der gesamte Vorgang dauerte rund zehn Minuten.

4. Im Februar 2010 betrat der Angeklagte das Kühlhaus, in dem die Zeugin D. zu diesem Zeitpunkt arbeitete. Er schloss die Tür, näherte sich ihr im Dunkeln und versuchte, ihr den BH aufzumachen und "an ihre Hose" zu gelangen. Die Nebenklägerin ging in die Hocke und kniete an der Kühlhauswand. Der Angeklagte hielt sie mit seinem Knie fest und drückte mit einer Hand so auf die Wangenknochen, dass sie ihren Mund zwangsläufig öffnen musste. Mit seiner anderen Hand schob er sodann rund eine Minute lang sein unbekleidetes erigiertes Glied immer wieder in ihren Mund, bevor er von ihr abließ.

5. Zwischen dem 15. und 20. März 2010 kurz vor 21.00 Uhr zog der Angeklagte die Zeugin V. in den Herrenumkleideraum des Lebensmittelmarktes, drückte sie gegen eine Wand und hielt ihre Hände auf dem Rücken fest. Er fasste sie mit seiner rechten Hand an ihrer rechten Brust und sodann zwischen ihre Beine, jeweils über der Kleidung. Danach forderte er sie auf, ihm einen zu "blasen". Dazu kam es jedoch nicht, da eine Kassiererin an der Tür des Umkleideraums vorbeiging und der Angeklagte von seinem Vorhaben Abstand nahm.

Nachdem der Angeklagte am 17. April 2010 die Zeugin D. erneut im Kühlhaus überrascht hatte, sie jedoch noch rechtzeitig entkommen war, entschloss sie sich, am 19. April 2010 den Filialleiter von den Vorfällen in Kenntnis zu setzen und am 21. April 2010 Anzeige bei der Polizei zu erstatten.

Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten und hat sich dahingehend eingelassen, es handele sich um erfundene Geschichten.

II.

Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen II.1 und II.5 sowie im Gesamtstrafenausspruch. Im Übrigen bleibt sie - auch mit den Verfahrensrügen, die aus den vom Generalbundesanwalt zutreffend dargelegten Gründen versagen - ohne Erfolg.

1. Die Verurteilung im Fall II.1 der Urteilsgründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Feststellungen zur Tatzeit stehen in einem unauflösbaren Widerspruch mit weiteren Feststellungen, der auch nicht mit einem offensichtlichen Schreibfehler oder Fassungsversehen erklärt werden kann.

Einleitend führt das Urteil aus, dass die sexuellen Übergriffe des Angeklagten auf Arbeitskolleginnen, darunter die beiden Nebenklägerinnen, im Sommer 2009 begannen. Die erste Tat zum Nachteil der Zeugin V. datiert das Landgericht allerdings auf Februar 2009 und damit auf einen Zeitpunkt, zu dem nach den vorangegangenen Feststellungen die Übergriffe des Angeklagten auf seine Arbeitskolleginnen noch gar nicht begonnen hatten.

Dabei handelt es sich ersichtlich nicht um ein Schreibversehen. Das Landgericht ordnet die abgeurteilten Fälle chronologisch, beginnend mit der ersten Tat im Februar 2009 und endend mit der letzten im März 2010; wäre das Landgericht nach der Beweisaufnahme davon ausgegangen, die Tat hätte sich im Februar 2010 ereignet, hätte es dieses Geschehen unmittelbar vor der letzten Tat in den Urteilsgründen dargelegt. Gegen eine Annahme, die Strafkammer sei eigentlich von einem Tatzeitpunkt im Februar 2010 ausgegangen, und habe die Tat in den Urteilsgründen nur versehentlich auf den Februar 2009 datiert, spricht im Übrigen auch die Wertung des Landgerichts in der Begründung des Gesamtstrafenausspruchs, zu Lasten des Angeklagten sei auch der Tatzeitraum von rund einem Jahr zu berücksichtigen (UA S. 27). Bei einem Tatzeitpunkt im Februar 2010 läge zwischen der ersten und der letzten Tat lediglich ein halbes Jahr.

Der festgestellte Widerspruch lässt sich auch nicht dadurch nachvollziehbar auflösen, dass man von einem Fassungsversehen hinsichtlich des Beginns der Übergriffe im Sommer 2009 ausgeht. In diesem Fall müsste man zugrunde legen, dass festgestellt wäre, der Angeklagte habe bereits im Sommer 2008 angefangen, sich Arbeitskolleginnen durch Öffnen des BHs zu nähern. Dagegen spricht schon der Umstand, dass die Nebenklägerin V. erst im Jahr 2008 ihre Ausbildung in dem Lebensmittelmarkt aufgenommen hatte und jegliche Anhaltspunkte für unmittelbar danach einsetzende Übergriffe fehlen. Auch erscheint es wenig lebensnah, dass bei einem Beginn der Übergriffe im Sommer 2008 eine erste als verfolgungswürdig angesehene Tat (erst) im Februar 2009 und die weiteren dann erst beginnend im Herbst 2009 begangen worden wären.

Der festgestellte Widerspruch kann auch nicht dahinstehen, da die Nämlichkeit der Tat auch durch die Tatzeit bestimmt ist und der Angeklagte im Falle der Begehung der Tat im Februar 2010 Gefahr laufen könnte, insoweit erneut der Strafverfolgung unterzogen zu werden. Hinzu kommt, dass die Strafkammer bei der Bemessung der Gesamtstrafe zu Lasten des Angeklagten von einem (längeren) Tatzeitraum von rund einem Jahr ausgegangen ist und dies - wie dargelegt - bei einer Tatbegehung im Februar nicht zuträfe.

2. Die widersprüchlichen Feststellungen zur zeitlichen Einordnung des Tatgeschehens im Fall II.1 der Urteilsgründe bedingen auch die Aufhebung im Fall II.5. Das Landgericht hat seine Überzeugung von beiden Tatgeschehen im Wesentlichen auf die Angaben der Nebenklägerin V. gestützt, die diese zu ihrem Nachteil begangenen Handlungen des Angeklagten (und damit auch die jeweilige Tatzeiten) wie festgestellt geschildert habe. Es ist deshalb davon auszugehen, dass sie im Fall II.1 der Urteilsgründe Angaben zur Tatzeit gemacht hat, die im Widerspruch zu den vom Landgericht festgestellten Beginn der Übergriffe des Angeklagten gegenüber seinen Arbeitskolleginnen stehen. Den Urteilsausführungen ist zwar nicht im Einzelnen zu entnehmen, auf wessen Bekundungen die Feststellung hierzu beruht. Ungeachtet dessen hätte sich das Landgericht mit diesem Widerspruch, der die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin V. insgesamt in Frage stellen kann, auseinandersetzen müssen. Letztlich kann der Senat nicht ausschließen, dass die Strafkammer - hätte sie dies in ihre Erwägungen einbezogen - zu einem anderen Ergebnis bei der Würdigung der Angaben der Zeugin V. gelangt wäre.

3. Die Verurteilungen in den Fällen II.2-4 halten hingegen einer rechtlichen Nachprüfung stand. Die Überzeugungsbildung des Landgerichts lässt insoweit Rechtsfehler nicht erkennen. Die Strafkammer hat sich in rechtsfehlerfreier Weise mit der Glaubwürdigkeit der Zeugin D. sowie der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben auseinandergesetzt. Es hat - wie der Generalbundesanwalt in seiner schriftlichen Stellungnahme im Einzelnen ausgeführt hat - die womöglich hiergegen sprechenden Umstände, wie etwa knappe Angaben zum Tatgeschehen, Erinnerungslücken, abweichende Angaben im Verlauf des Verfahrens oder die Möglichkeit eines Komplotts, gesehen und ist dabei mit jeweils tragfähiger Begründung zu dem Ergebnis gelangt, dass diese durchgreifende Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Bekundungen der Nebenklägerin nicht zu begründen vermögen. Die insoweit vorgebrachten Einwendungen der Revision zeigen beachtliche Rechtsfehler nicht auf und nehmen letztlich eine revisionsrechtlich unbeachtliche eigene Würdigung der Beweise vor, die sich zum Teil in bloßen Spekulationen erschöpft.

4. Die Aufhebung in den Fällen II.1 und II.5 der Urteilsgründe zieht den Wegfall des Gesamtstrafenausspruchs nach sich.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 870

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel