HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 887
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 124/11, Urteil v. 06.07.2011, HRRS 2011 Nr. 887
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Trier vom 20. August 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Körperverletzung in sieben Fällen, davon in fünf Fällen in Tateinheit mit Vergewaltigung, sowie der Freiheitsberaubung in drei Fällen - jeweils begangen zum Nachteil seiner früheren Ehefrau S. H. - freigesprochen. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft.
Die Revision hat mit einer Verfahrensrüge - Verletzung des § 245 Abs. 2 StPO - Erfolg. Ihr liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde:
1. In der Hauptverhandlung vom 9. April 2010 stellte die Staatsanwaltschaft den Beweisantrag, Prof. Dr. S. und Diplom-Psychologin G. als sachverständige Zeugen zu einer von ihnen durchgeführten Exploration der Nebenklägerin zu vernehmen, in der sie zu dem Ergebnis gelangten, dass die Aussagen der Nebenklägerin auch im vorliegenden Verfahren auf Erlebnisfundierung verweisen. Das Gericht legte das Beweisbegehren der Staatsanwaltschaft als Antrag auf Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens aus und wies den Antrag mit der Begründung zurück, es besitze selbst die zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussagen der Zeugin erforderliche Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO). In der Hauptverhandlung vom 23. Juni 2010 beantragte daraufhin der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, die nunmehr gemäß §§ 214 Abs. 3, 222 Abs. 1 Satz 2 StPO zu dem Termin geladenen und erschienenen Prof. Dr. S. und Diplom-Psychologin G. als präsente Sachverständige zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, dass die Aussagen der Zeugin H. über körperliche und gewalttätige Übergriffe durch den Angeklagten in aussagepsychologischer Hinsicht auf Ergebnisfundierung hinweisen. Das Gericht wies diese Beweisanträge mit der Begründung zurück, es handele sich bei den Sachverständigen um völlig ungeeignete Beweismittel. Sie hätten an der Beweisaufnahme, insbesondere der sich über mehrere Verhandlungstage erstreckenden Vernehmung der Nebenklägerin, nicht teilgenommen. Insofern fehle es ihnen an geeigneten Anknüpfungstatsachen für eine zuverlässige Begutachtung; die den Sachverständigen übergebene Zusammenfassung der Aufzeichnungen des Vertreters der Staatsanwaltschaft reiche hierfür nicht aus. Es sei unerlässlich, dass sich ein Sachverständiger von den zu beurteilenden Angaben einen unmittelbaren eigenen Eindruck verschaffen könne. Die erforderlichen Anknüpfungstatsachen könnten auch nicht nachträglich beschafft werden, da eine Rekonstruktion der Beweisaufnahme nicht möglich sei.
2. Diese Verfahrensweise ist mit § 245 Abs. 2 StPO nicht zu vereinbaren.
Ein Beweisantrag kann - auch bei präsenten Beweismitteln - wegen völliger Ungeeignetheit abgelehnt werden, wenn das Gericht ohne jede Rücksicht auf das bisherige Beweisergebnis ausschließen kann, dass sich mit dem angebotenen Beweismittel das in Aussicht gestellte Ergebnis erzielen lässt (Meyer-Goßner § 244 StPO Rn. 58 m.N.). Ein geminderter, geringer oder zweifelhafter Beweiswert reicht dagegen nicht aus. Ein Sachverständiger ist als Beweismittel völlig ungeeignet, wenn das Gutachten zu keinem verwertbaren Ergebnis führen kann, so z.B. wenn die für das Gutachten notwendigen tatsächlichen Grundlagen nicht gegeben sind und auch nicht beschafft werden können (BGH NStZ 2003, 611). Keine völlige Ungeeignetheit liegt vor, wenn nur wenige Anknüpfungstatsachen vorliegen (BGH StV 07, 513).
a) Nach diesen Maßstäben war die Ablehnung des Beweisantrags auf Vernehmung der präsenten Sachverständigen Prof. Dr. S. und Diplom-Psychologin G. wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels rechtsfehlerhaft. Ein aussagepsychologischer Sachverständiger ist nicht schon deshalb ein völlig ungeeignetes Beweismittel im Sinne von § 245 Abs. 2 StPO, weil er während der Vernehmung des betreffenden Zeugen in der Hauptverhandlung nicht anwesend war. Dass die Sachverständigen sich keinen unmittelbaren eigenen Eindruck von der Aussage der Zeugin H. machen konnten, ist erforderlichenfalls bei der Würdigung ihres Gutachtens in Rechnung zu stellen, macht sie entgegen der Auffassung des Landgerichts aber nicht zu Beweismitteln ohne jeden Beweiswert.
Die Sachverständigen hatten unabhängig von der unmittelbaren Wahrnehmung der Vernehmung in der Hauptverhandlung eine hinreichende tatsächliche Grundlage für die aussagepsychologische Begutachtung der Zeugin. Sie hatten die Nebenklägerin auf der Grundlage der Ermittlungsakte und ihrer darin dokumentierten polizeilichen und richterlichen Vernehmungen selbst eingehend exploriert und ihre Erkenntnisse in einem detaillierten schriftlichen Gutachten niedergelegt. Dass den Sachverständigen insoweit wesentliche Anknüpfungstatsachen für die Erstattung des Gutachtens zur Verfügung standen, wird daran deutlich, dass auch das Gericht im Urteil ausführlich auf die früheren Vernehmungen der Nebenklägerin sowie auf einzelne Ergebnisse der Exploration durch die Sachverständigen eingegangen ist und diese Umstände bei seiner Überzeugungsbildung berücksichtigt hat.
Darüber hinaus hatte der Vertreter der Staatsanwaltschaft die Sachverständigen ausführlich schriftlich darüber informiert, was die Zeugin nach seiner Wahrnehmung in der Hauptverhandlung bekundet hatte. Insoweit bestand ergänzend die Möglichkeit, den Sachverständigen durch eine Unterrichtung seitens des Vorsitzenden über die Aussage der Zeugin weitere Anknüpfungstatsachen für das zu erstattende Gutachten zur Verfügung zu stellen. Zwar war hierdurch keine Rekonstruktion der Vernehmung und des persönlichen Eindrucks der Zeugin möglich. Anders als das Gericht, das seine Überzeugung alleine aus dem Inbegriff der Verhandlung schöpfen darf, ist es aber grundsätzlich dem Sachverständigen überlassen, auf welche Weise er sich die erforderlichen Anknüpfungstatsachen für sein Gutachten verschafft. Hier hätten die Sachverständigen durch die Kenntnis vom Inhalt der Angaben der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung, wie sie von Gericht und Staatsanwaltschaft aufgenommen worden waren, zumindest zusätzliche Tatsachen verwerten können, die - etwa für die Beurteilung der Konstanz der Aussagen der Nebenklägerin - von Relevanz für die Begutachtung sein konnten.
b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts war das Beweisbegehren auch nicht dadurch in der Sache bereits beschieden, dass es einen an einem früheren Hauptverhandlungstermin von der Staatsanwaltschaft gestellten Beweisantrag auf Vernehmung der - zum damaligen Zeitpunkt nicht präsenten - Sachverständigen mit der nicht zu beanstandenden Begründung zurückgewiesen hatte, es besitze die erforderliche eigene Sachkunde zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO). Denn im Hauptverhandlungstermin vom 23. Juni 2010 war eine neue prozessuale Situation eingetreten; da die Staatsanwaltschaft die Sachverständigen Prof. Dr. S. und Diplom-Psychologin G. zu diesem Termin geladen hatte und sie erschienen waren, war der Beweisantrag nunmehr nach § 245 Abs. 2 StPO zu beurteilen, der den Katalog der sachlichen Ablehnungsgründe bei präsenten Beweismitteln bewusst enger fasst und die Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Sachverständigen wegen eigener Sachkunde nicht zulässt (BGH NStZ 1994, 400).
3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht, da die Sachverständigen in ihrem vorläufigen schriftlichen Gutachten von einer Erlebnisfundierung der den Angeklagten belastenden Angaben der Nebenklägerin ausgingen.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 887
Externe Fundstellen: StV 2011, 711
Bearbeiter: Karsten Gaede