HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 517
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 495/10, Urteil v. 15.12.2010, HRRS 2011 Nr. 517
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 16. Juni 2010 im Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren bei Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft, deren Rechtsmittel mit einer Verfahrensrüge in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg hat.
Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der Angeklagte in der Nacht vom 26. auf den 27. November 2009 in der Zeit von 23.30 Uhr bis 03.00 Uhr mit seinem Bekannten K. in der Diskothek in D. Wodka und Tequila getrunken. Sein Blutalkoholgehalt betrug danach bis zu 2,51 Promille.
Der Angeklagte stand gegen 04.00 Uhr vor der Diskothek, als die Geschädigte, die er nur flüchtig kannte, sich auf den Weg zu einer Bushaltestelle machte, um nach Hause zu fahren. Er bot ihr seine Begleitung an, die sie annahm, um nicht alleine im Dunkeln gehen zu müssen. Der Angeklagte war aber entschlossen, mit der Geschädigten notfalls gegen deren Willen sexuell zu verkehren. In Höhe des Anwesens erklärte er wahrheitswidrig, sie müssten zur Abkürzung des Weges den Hof überqueren. Tatsächlich wollte er dort sexuelle Handlungen vornehmen. Die Geschädigte ahnte unlautere Absichten des Angeklagten und versuchte zunächst vergeblich mit ihrem Mobiltelefon Kontakt zu einer Freundin aufzunehmen. Sie wollte dann aus der Hofeinfahrt fliehen, was der Angeklagte verhinderte, indem er sie festhielt. Er öffnete seine Hose und verlangte von der Geschädigten, die "völlig überfordert und geschockt war", dass sie ihn mit der Hand befriedigen solle, was sie auf seine wiederholte Aufforderung tat. Es gelang ihr dann, heimlich die Notruftaste des Mobiltelefons zu drücken und nach anfänglichem Abbruch der Verbindung über die Wahlwiederholung eine feste Telefonverbindung zur Polizei herzustellen. Ab diesem Zeitpunkt wurden Äußerungen am Tatort aufgezeichnet.
Nachdem beim Angeklagten die sexuelle Befriedigung durch Manipulationen mit der Hand des Opfers an seinem Geschlechtsteil ausgeblieben waren, fasste er die Geschädigte an den Haaren, drückte ihren Kopf nach unten und erzwang den Oralverkehr sowie anschließend auch die Duldung des Analverkehrs durch die Geschädigte, wobei er sie festhielt. Anschließend entschuldigte sich der Angeklagte und versuchte, sein Verhalten mit der Alkoholisierung zu erklären, bevor er den Tatort verließ. Die Geschädigte litt schon vor der Tat und leidet bis heute unter Angst- und Schlafstörungen und sieht in ihren Träumen, dass ein "Mann mit einem Messer" sie verfolgt und verletzt.
Am Tage vor der Hauptverhandlung schlossen der Verteidiger des Angeklagten und die anwaltliche Vertreterin der Geschädigten eine Vereinbarung, durch die ein Täter-Opfer-Ausgleich herbeigeführt werden sollte.
Das Landgericht hat seine Feststellungen auf das Geständnis des Angeklagten und auf die Angaben der Geschädigten gestützt. Bestritten hat der Angeklagte allerdings, dass er die Geschädigte mit dem Einsatz eines Messers bedroht habe. Dies hatte die Geschädigte als Zeugin bekundet und dazu erklärt, sie habe die sexuellen Handlungen vor allem deshalb hingenommen, weil der Angeklagte mehrfach gesagt habe, er führe ein Messer bei sich und werde es herausholen, wenn sie nicht tue, was er verlange. Gesehen habe sie das Messer nicht. Hinsichtlich der Behauptung einer solchen Drohung des Angeklagten ist das Landgericht der Darstellung der Geschädigten nicht gefolgt. Es hat ausgeführt, die Niederschrift der Aufzeichnungen des Notrufs, die im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt wurde, enthalte keine Äußerung des Angeklagten über eine Drohung mit einem Messer. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass manche Passagen des Notrufs schwer verständlich seien und nach zwei Minuten und vierzig Sekunden ab dem Beginn der akustischen Aufzeichnungen ausschließlich gut verständliche Äußerungen nachträglich auch in Schriftform übertragen worden seien, sei die Strafkammer davon überzeugt, dass dann, wenn eine Drohung mit einem Messer stattgefunden hätte, zumindest "einzelne Textstellen vorhanden sein müssten, aus denen sich zumindest andeutungsweise eine entsprechende Vorgehensweise des Angeklagten gegenüber der Zeugin entnehmen lässt". Daran fehle es jedoch.
Das Landgericht hat den Sachverhalt als Vergewaltigung im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB gewertet. Es hat aber die Regelwirkung des Abs. 2 Satz 2 entfallen lassen und unter Berücksichtigung des Vorliegens von Milderungsgründen nach §§ 21, 46a StGB einen minder schweren Fall gemäß § 177 Abs. 5 Halbsatz 1 StGB angenommen.
Hiergegen richtet sich die zuungunsten des Angeklagten eingelegte und auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Die Beschwerdeführerin vermisst die Anwendung von § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB und macht die Verletzung von § 261 StPO geltend.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Verfahrensrüge Erfolg, soweit sie den Rechtsfolgenausspruch angreift. Der Schuldspruch bleibt unberührt, während die nach der Verfahrensbeanstandung in Betracht kommende Feststellung der Anwendung eines weiteren Nötigungsmittels durch den Angeklagten neben der vom Landgericht angenommenen Gewalt (§ 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB) durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben des Opfers (§ 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB) bei der Strafzumessung Bedeutung erlangen kann. Auf die Sachbeschwerde kommt es nicht mehr an; ein weiter gehender Erfolg des Rechtsmittels kann damit nicht erzielt werden.
1. Die Annahme des Tatgerichts, es könne nicht festgestellt werden, dass der Angeklagte tatsächlich im Sinne von § 177 Abs. 3 Nr. 1 StGB ein Messer bei sich geführt oder es sogar nach § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB verwendet hat, ist rechtsfehlerfrei. Der Angeklagte selbst hat schon eine Äußerung über das Mitführen eines Messers bestritten. Die Geschädigte hat zwar von einer Drohung gesprochen, zugleich aber angegeben, sie habe ein Messer tatsächlich nicht gesehen. Sonstige Beweismittel dafür, dass der Angeklagte zur Tatzeit ein Messer bei sich führte, waren nicht vorhanden und sind nicht ersichtlich.
2. Das Landgericht hat jedoch § 261 StPO verletzt, soweit es um die Frage einer Drohung des Angeklagten mit dem Einsatz eines Messers geht. Nach dieser Vorschrift hat das Tatgericht sein Urteil aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen. Es muss dann aber auch alle wesentlichen Tatsachen und Beweisergebnisse, die dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu entnehmen sind, erschöpfend in einer Gesamtschau würdigen (vgl. BGHSt 44, 153, 158 f.; 49, 112, 122 f.). Daran fehlt es hier.
Da die Niederschrift des bei dem Notruf der Geschädigten gefertigten Mitschnitts Gegenstand des Urkundenbeweises in Form des Selbstleseverfahrens war, kann der Senat ihren Inhalt mit den Mitteln des Revisionsrechts rekonstruieren (vgl. BGHSt 43, 212, 214). Daraus ergibt sich, dass die Geschädigte unmittelbar nach der Tat noch am Tatort geäußert hat, der Täter habe ein "Messer dabei". Es drängte sich auf, diese Äußerung der Geschädigten in die Gesamtwürdigung aller Umstände einzubeziehen. Die Urteilsgründe lassen jedoch nicht erkennen, dass sie berücksichtigt wurde. Insoweit besteht eine Darstellungslücke.
Der Senat kann auch unter Berücksichtigung der schon vor der Tat bei der Geschädigten vorhandenen Angststörungen nicht sicher ausschließen, dass das Tatgericht die in Zeugenaussagen der Geschädigten erwähnte Drohung des Angeklagten mit dem Einsatz eines Messers festgestellt hätte, wenn sie ergänzend die in unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Nähe zur Tat spontan gemachte Äußerung der Geschädigten berücksichtigt hätte. Dies gilt auch deshalb, weil die Geschädigte bei ihrer Äußerung am Tatort davon ausgegangen war, die Polizeibeamten hätten über den Notruf "alles mitbekommen".
3. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit im Sinne von § 21 StGB nach den bisherigen Feststellungen, nach denen weder dem Zeugen K. noch der Geschädigten besondere Ausfallerscheinungen aufgefallen sind und der Angeklagte bei der Tatbegehung zielgerichtet gehandelt hat, nicht nahe liegt. Bei der weiteren Frage, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB "erheblich" ist, handelt es sich um eine Rechtsfrage, die der Tatrichter in eigener Verantwortung zu beantworten hat. Darin fließen normative Überlegungen ein. Die Erheblichkeit der Verminderung des Hemmungsvermögens hängt danach vor allem von den Ansprüchen ab, welche durch die Rechtsordnung an das Wohlverhalten eines Berauschten gestellt werden müssen (vgl. BGHSt 43, 66, 77).
Auch das kann bei der neuen Entscheidung näher zu erörtern sein.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 517
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2011, 214
Bearbeiter: Karsten Gaede