hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 357

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 446/10, Urteil v. 26.01.2011, HRRS 2011 Nr. 357


BGH 2 StR 446/10 - Urteil vom 26. Januar 2011 (LG Koblenz)

Bemessung der Gesamtstrafe (sinkende Hemmschwelle); Verfahrensbeendende Verständigung (zugesagte Verfahrenseinstellungen).

§ 54 StGB; § 55 StGB; § 257c StPO; § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Bemessung der Gesamtstrafe ist auch im Falle ihrer nachträglichen Bildung nach §§ 55, 54 Abs. 1 StGB ein eigenständiger und zu begründender Zumessungsakt, der unter zusammenfassender Würdigung der Person des Täters und der einzelnen Straftaten durch angemessene Erhöhung der höchsten Einzelstrafe (sog. Einsatzstrafe) erfolgt. Dabei kann die Erhöhung der Einsatzstrafe geringer ausfallen, wenn zwischen den einzelnen Taten ein enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang besteht, da die wiederholte Begehung gleichartiger Taten der Ausdruck einer niedriger werdenden Hemmschwelle sein kann. Andererseits kann hierin aber je nach den Umständen des Einzelfalles auch ein Indiz für eine besondere kriminelle Energie (§ 46 Abs. 2 StGB) gesehen werden. Gerade bei Sexualdelikten kann die mildernde Wirkung der sinkenden Hemmschwelle durch den ständigen Druck ausgeglichen sein, dem das Opfer dadurch ausgesetzt ist, dass es jederzeit mit einer neuen Tat rechnen muss. Auch zeitlich weit auseinander liegende Taten gegen verschiedene Rechtsgüter sprechen eher für eine deutliche Erhöhung der Einsatzstrafe.

2. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das Tatgericht die Gründe für die Zumessung nicht nur hinsichtlich der neu hinzutretenden Einzelstrafen, sondern auch hinsichtlich der Gesamtstrafe nach § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO im Urteil anzuführen (BGH NStZ 1987, 183; NJW 1953, 1360). Dabei sind an die Begründung der Gesamtstrafenhöhe umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr sich die Strafe der oberen oder unteren Grenze des Zulässigen nähert.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 22. April 2010 im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten und auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung im Gesamtstrafenausspruch; im Übrigen ist die Revision unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts veranlasste der Angeklagte zwischen Februar 2002 und August 2003 seinen damals 12 bzw. 13 Jahre alten Stiefsohn M. W. in zwei Fällen, an ihm den ungeschützten Analverkehr zu vollziehen. Unter Darlegung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände hat die Kammer zunächst zwei Einzelfreiheitsstrafen von jeweils zwei Jahren und sechs Monaten gebildet. Im Rahmen der Gesamtstrafenbildung hat sie die im Urteil des Landgerichts Koblenz vom 1. September 2005 ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten aufgelöst und die dortigen 114 Einzelfreiheitsstrafen, die sich zwischen neun Monaten und drei Jahren bewegen, einbezogen. Insoweit hat das Landgericht ausgeführt, es habe "unter nochmaliger Abwägung sämtlicher für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände" sowie unter Berücksichtigung des "zeitlichen und situativen Zusammenhangs zwischen den einzelnen Taten" die Einzelstrafen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von (wiederum) sechs Jahren und sechs Monaten zurückgeführt (UA S. 19).

Die der Vorverurteilung vom 1. September 2005 zugrunde liegenden Taten betrafen den (teilweise: schweren) sexuellen Missbrauch der weiteren Stiefkinder des Angeklagten, J. und M. C. W., sowie des Kindes S. zwischen April 1997 und Dezember 2004. Drei der abgeurteilten Taten, die zwischen August und Dezember 2004 stattfanden, erfolgten im Beisein des zu diesem Zeitpunkt 15jährigen M. W. Im Rahmen einer verfahrensbeendenden Verständigung jenes Verfahrens hatte die Staatsanwaltschaft für den Fall der geständigen Einlassung des Angeklagten die "wohlwollende Prüfung" der Einstellung eines weiteren, wegen Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs zum Nachteil des M. W. laufenden Ermittlungsverfahrens zugesagt. Nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens stellte die Staatsanwaltschaft dieses Ermittlungsverfahren am 15. September 2005 gemäß § 154 Abs. 1 StPO ein.

Aufgrund einer erneuten Vernehmung des M. W. am 23. April 2009 hat die Staatsanwaltschaft das hiesige Verfahren eingeleitet und insgesamt sechs Taten zum Nachteil dessen angeklagt. Im Hinblick auf vier dieser Taten, die der Geschädigte bereits 2005 geschildert hatte und die Gegenstand des eingestellten Verfahrens waren, hat das Landgericht das Verfahren im Rahmen der Hauptverhandlung gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.

2. Die Einzelstrafaussprüche weisen keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Der Ausspruch über die Gesamtstrafe hält jedoch rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Die Bemessung der Gesamtstrafe ist auch im Falle ihrer nachträglichen Bildung nach §§ 55, 54 Abs. 1 StGB ein eigenständiger und zu begründender Zumessungsakt (vgl. Senat, Beschluss vom 5. August 2010 - 2 StR 340/10; BGH, Beschluss vom 13. November 2008 - 3 StR 485/08), der unter zusammenfassender Würdigung der Person des Täters und der einzelnen Straftaten durch angemessene Erhöhung der höchsten Einzelstrafe (sog. Einsatzstrafe) erfolgt. Dabei kann die Erhöhung der Einsatzstrafe geringer ausfallen, wenn zwischen den einzelnen Taten ein enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang besteht, da die wiederholte Begehung gleichartiger Taten der Ausdruck einer niedriger werdenden Hemmschwelle sein kann. Andererseits kann hierin aber je nach den Umständen des Einzelfalles auch ein Indiz für eine besondere kriminelle Energie (§ 46 Abs. 2 StGB) gesehen werden. Gerade bei Sexualdelikten kann die mildernde Wirkung der sinkenden Hemmschwelle durch den ständigen Druck ausgeglichen sein, dem das Opfer dadurch ausgesetzt ist, dass es jederzeit mit einer neuen Tat rechnen muss (BGH, Beschluss vom 25. August 2010 - 1 StR 410/10 mwN). Auch zeitlich weit auseinander liegende Taten gegen verschiedene Rechtsgüter sprechen eher für eine deutliche Erhöhung der Einsatzstrafe (Fischer StGB 58. Aufl. § 54 Rn. 10).

Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das Tatgericht die Gründe für die Zumessung nicht nur hinsichtlich der neu hinzutretenden Einzelstrafen, sondern auch hinsichtlich der Gesamtstrafe nach § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO im Urteil anzuführen (BGH NStZ 1987, 183; NJW 1953, 1360). Dabei sind an die Begründung der Gesamtstrafenhöhe umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr sich die Strafe der oberen oder unteren Grenze des Zulässigen nähert.

b) Diesen Anforderungen wird die Begründung des Landgerichts nicht gerecht. Sie lässt eine Überprüfung der Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe, insbesondere der sie tragenden Strafzumessungserwägungen nicht zu. Der Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe war deshalb aufzuheben, weil nicht sicher auszuschließen ist, dass er auf dem Rechtsfehler beruht.

Die Revision rügt zu Recht, dass es das Landgericht unterlassen hat, entsprechend § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO in den Urteilsgründen die Umstände anzuführen, die für die Bemessung der Höhe der Gesamtstrafe bestimmend waren. Die formelhafte Begründung der Kammer lässt nicht erkennen, dass sie gesamtstrafenspezifische strafschärfende Umstände, wie etwa die Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung von insgesamt vier Kindern und den langen Tatzeitraum von über sieben Jahren, berücksichtigt hat. Die Erwähnung des zeitlichen und situativen "Zusammenhangs" lässt besorgen, dass die Kammer nur die Vielzahl der gegen das gleiche Rechtsgut gerichteten Fälle und dies mildernd berücksichtigt hat, ohne dabei zu bedenken, dass der sexuelle Missbrauch in vielfältiger Art und Weise und nicht nur zu Lasten der Stiefkinder stattfand, er sich gegen Kinder beiderlei Geschlechts richtete und der Angeklagte in unterschiedlichsten Konstellationen teilweise auch mehrere Kinder gleichzeitig missbrauchte.

Die Begründung des Landgerichts wird auch den vorliegend erhöhten Anforderungen nicht gerecht, die sich daraus ergeben, dass die gebildete Gesamtstrafe mit sechs Jahren und sechs Monaten die unterste Grenze des Zulässigen darstellt, weil die Höhe einer aufgelösten Gesamtfreiheitsstrafe bei der Bildung der (neuen) Gesamtstrafe nicht unterschritten werden darf (BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2001 - 4 StR 329/01; Rissing-van Saan in LK 12. Aufl. § 55 Rn. 31).

Die Bemessung der Gesamtstrafe an der untersten Grenze des Zulässigen lässt zudem besorgen, dass sich die Kammer aufgrund der Verständigung in dem vorangegangenen Verfahren an die dort zugesagte Strafobergrenze gebunden gefühlt hat.

3. Da die Gesamtstrafe wegen eines Wertungsfehlers aufgehoben wird, können - auch im Blick auf die aufrechterhaltenen Einzelstrafaussprüche - die zugehörigen Feststellungen bestehen bleiben. Ergänzende, nicht widersprechende Feststellungen durch den neuen Tatrichter sind möglich.

Der Senat hat nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, nach § 354 Abs. 1b StPO den neuen Tatrichter auf eine Entscheidung im Beschlusswege gemäß §§ 460, 462 StPO zu verweisen. In Fällen, in denen - wie hier - dem Tatgericht bei der Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe echte Zumessungsfehler unterlaufen sind, ist das Beschlussverfahren in der Regel ungeeignet (vgl. BGH, StV 2006, 402).

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 357

Bearbeiter: Karsten Gaede