HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 1090
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 404/10, Urteil v. 20.10.2010, HRRS 2010 Nr. 1090
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 11. Januar 2010, soweit es den Angeklagten M. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben,
a) soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist,
b) im Strafausspruch, insoweit zugunsten des Angeklagten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten M. wegen schwerer Vergewaltigung in zwei Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit Körperverletzung, wegen Vergewaltigung in acht Fällen, wegen sexueller Nötigung sowie wegen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Es hat dabei eine Geldstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Bensheim vom 17. November 2008 sowie unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren aus einem Urteil des Amtsgerichts Offenbach vom 12. Januar 2009 die darin gebildeten Einzelstrafen einbezogen. Außerdem hat es den Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer weiteren Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Die Revision der Staatsanwaltschaft richtet sich mit der Sachrüge allein dagegen, dass die Strafkammer die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht geprüft habe. Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg. Wegen der hier zu bejahenden inneren Abhängigkeit der Sicherungsverwahrung von der Strafzumessung ist es jedoch nicht auf die Entscheidung der Maßregelfrage beschränkbar, sondern erfasst zugleich zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) den Strafausspruch.
1. Das Landgericht hat folgendes festgestellt:
Der Angeklagte M. weist zahlreiche Vorstrafen auf - u. a. wegen Raubes und gefährlicher Körperverletzung - und befand sich zur Tatzeit aufgrund einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung unter laufender Bewährung. Er kannte die Geschädigte bereits seit Mitte der 80er Jahre flüchtig. Nach einem Kneipenbesuch in der Zeit zwischen Mitte und Ende April 2008 ließ sich die angeheiterte Geschädigte bei einem zufälligen Zusammentreffen mit dem Angeklagten M. auf der Straße dazu überreden, mit ihm und seinem Sohn, dem Mitangeklagten H., in seiner Wohnung weiter zu trinken. Gegen Mitternacht befand sich die Geschädigte aufgrund des Konsums des Alkohols und möglicherweise auch aufgrund der unbemerkten Verabreichung eines Medikamentes oder Betäubungsmittels in einem so bewusstseinsgetrübten Zustand, dass ihr Erinnerungsvermögen aussetzte. Die Angeklagten M. und H. fassten den Entschluss, diesen Zustand dazu auszunutzen, sich die Geschädigte sexuell gefügig zu machen. Nachdem sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, vermittelten sie ihr glaubhaft, dass sie mit beiden Geschlechtsverkehr gehabt habe und sie kompromittierende Fotos gemacht hätten. Der Angeklagte M. drohte der stark übergewichtigen, sich ihres Körpers schämenden Geschädigten, die Fotos an Personen in ihrem privaten und beruflichen Umfeld zu versenden, wenn sie ihm und seinem Sohn nicht sexuell zur Verfügung stehen sollte. Die Geschädigte sah in der Folgezeit aus Scham und weil sie aufgrund ihres Erscheinungsbildes daran zweifelte, dass ihr die Polizei Glauben schenken würde, von einer Strafanzeige ab. In der Zeit von Mai bis September 2008 zwang der Angeklagte M. die Geschädigte teilweise unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage, teilweise mit Drohungen, aber auch durch die Anwendung von Gewalt in 11 Fällen zu sexuellen Handlungen, die sich regelmäßig über Stunden hinzogen. Dabei kam es zu Oral- und Geschlechtsverkehr sowie in einzelnen Fällen zu weiteren, das Opfer in ganz besonderem Maße erniedrigenden sexuellen Handlungen. In neun Fällen beteiligte sich der Mitangeklagte H., in einem Fall der Mitangeklagte W., der mit dem Angeklagten M. bekannt war, an den sexuellen Übergriffen.
Bei der Geschädigten entwickelte sich infolge des Geschehens eine posttraumatische Belastungsstörung, die stationärer Behandlung bedurfte. Weil sie der Belastung durch die laufende Hauptverhandlung nicht mehr gewachsen war, trank sie in Suizidabsicht Alkohol, was zu einer lebensbedrohlichen Blutalkoholkonzentration führte.
Darüber hinaus hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte M. es am 18. November 2008 unterließ für den D., der aufgrund des Konsums von Alkohol und Drogen die Besinnung verloren hatte, ärztliche Hilfe zu holen, obwohl er erkannt hatte, dass dieser sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befand. D. verstarb im Zeitraum zwischen 18. November 2008, 22.00 Uhr und dem Abend des 19. November 2008 an einer Alkohol- und Betäubungsmittel-Mischintoxikation.
Die schriftlichen Urteilsgründe enthalten zur Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung keine Ausführungen.
2. Das Urteil hat hinsichtlich der Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung keinen Bestand. Das Landgericht hat nicht erkennbar geprüft, ob gegen den Angeklagten die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 bzw. § 66 Abs. 3 StGB angeordnet werden kann. Zwar bestand keine verfahrensrechtliche Pflicht zur Erörterung der maßgeblichen Umstände, da die Staatsanwaltschaft - insoweit unverständlicherweise - in der Verhandlung keinen entsprechenden Antrag gestellt hat (§ 267 Abs. 6 Satz 1 StPO). Das Schweigen des Urteils zur Sicherungsverwahrung kann jedoch einen sachlich-rechtlichen Mangel darstellen, wenn der Tatrichter die Sicherungsverwahrung nicht prüft, obwohl deren formelle Voraussetzungen gegeben sind und die Feststellungen die Annahme nahe legen, dass der Täter infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist (vgl. BGH NJW 1999, 2606; 3723, 3724). Bei den Ermessensentscheidungen nach § 66 Abs. 2 oder § 66 Abs. 3 StGB müssen die Urteilsgründe zudem in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise erkennen lassen, dass und aus welchen Gründen der Tatrichter von seiner Entscheidungsbefugnis in einer bestimmten Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. BGH NJW 1999, 3723, 3724; BGHR StGB § 66 Abs. 2, Ermessensentscheidung 2, fehlende Erörterung).
Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.
Nach den von der Jugendkammer getroffenen Feststellungen liegen die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 und Abs. 3 StGB vor. Der Angeklagte M. wurde in dem angefochtenen Urteil wegen 11 Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB zu Einzelstrafen zwischen zwei und neun Jahren verurteilt. Die Einzelstrafen betrugen in zehn Fällen mehr als drei Jahre (§ 66 Abs. 3 Satz 2, 66 Abs. 2 StGB).
Die Umstände des Falles legten auch die Prüfung der Frage nahe, ob der Angeklagte M. infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Dies ergibt sich aus dem jeweils festgestellten Tatbild, den zahlreichen Vorstrafen des Angeklagten, vor allem wegen Gewaltdelikten, sowie dem Umstand, dass er sich zu den Tatzeiten unter laufender Bewährung wegen einer Straftat gemäß § 224 StGB befand. Das Landgericht hatte deshalb unbeschadet eines insoweit fehlenden Antrags der Staatsanwaltschaft sachlichen Anlass, sich mit der Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung zu befassen und seine dahin gehenden Überlegungen in den Urteilsgründen zu dokumentieren.
3. Der Rechtsfehler führt, insoweit zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO), zur Aufhebung des Strafausspruchs. Der Senat kann trotz insoweit an sich rechtsfehlerfreier Strafzumessungserwägungen nicht ausschließen, dass die den Strafrahmen ausschöpfende Gesamtstrafe von 15 Jahren und die sie bildenden Einzelstrafen sowie die Freiheitsstrafe von acht Monaten wegen unterlassener Hilfeleistung niedriger ausgefallen wären, wenn das Landgericht zugleich auf Sicherungsverwahrung erkannt hätte.
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 1090
Bearbeiter: Karsten Gaede