HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 964
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 305/10, Beschluss v. 27.08.2010, HRRS 2010 Nr. 964
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 3. Dezember 2009, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter anderem vom Vorwurf eines versuchten Tötungsdelikts freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Einen Mitangeklagten hat es vom Vorwurf der Beihilfe zum versuchten Totschlag freigesprochen. Die Revision des Angeklagten führt mit der allgemeinen Sachrüge zur Aufhebung des Urteils, soweit es ihn betrifft.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts entwendete der Angeklagte am 24. Juli 2008 eine fremde Brieftasche, in der sich unter anderem Führerschein und Personalausweis des Eigentümers R. befanden; oder er gelangte auf sonstige Weise in den Besitz der Brieftasche. Dies hat das Landgericht wahldeutig als Diebstahl oder Unterschlagung angesehen.
Am 17. August 2008 wurde der Angeklagte von der Polizei festgenommen; hierbei wurde der Führerschein des Geschädigten R. bei ihm gefunden. Der Angeklagte erklärte auf Befragen, er sei die im Führerschein abgebildete Person. Das Landgericht hat dies - unter ausdrücklicher Abweichung von Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - als Missbrauch von Ausweispapieren (§ 281 StGB) angesehen.
Am 16. August 2008 gegen 2.50 Uhr näherte sich der Angeklagte einer Gruppe von Drogenabhängigen, die in der T. straße in F. standen und unter denen sich der mit dem Angeklagten verfeindete Nebenkläger A. befand. Ohne Vorwarnung sprühte der Angeklagte diesem Pfefferspray ins Gesicht und stach unmittelbar darauf ein Messer gezielt in die Brust des Nebenklägers, um diesen zu töten. Er nahm an, dass der Nebenkläger an der Verletzung versterben werde, und entfernte sich vom Tatort. Der Nebenkläger konnte durch eine Notoperation gerettet werden. Dieses Geschehen hat das Landgericht als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet.
Bei allen drei genannten rechtswidrigen Taten war nach den Feststellungen des Landgerichts die Schuldfähigkeit des Angeklagten sicher erheblich vermindert, möglicherweise ganz aufgehoben.
2. Die Feststellungen des Landgerichts zur Schuldfähigkeit des Angeklagten halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Landgericht hat insoweit festgestellt, der Angeklagte höre seit seinem 12. Lebensjahr "imaginäre Stimmen", sei deswegen medikamentös behandelt worden, habe in Deutschland ab 2008 keine Medikamente mehr eingenommen und deshalb wieder Stimmen gehört. Er leide, nach der Diagnose des vernommenen Sachverständigen, an "paranoider und hebephrener Schizophrenie", zeige schädlichen Kokaingebrauch und antisoziales Verhalten (UA S. 21). Daher sei seine Einsichtsfähigkeit "jedenfalls eingeschränkt" gewesen, "nicht ausschließbar sogar ausgeschlossen" (UA S. 22). Die Lebensführung des Angeklagten vor der Tat erscheine "insgesamt als Ausdruck seiner Erkrankung und allenfalls nur noch eingeschränkt als von freier Willensbildung und freien Entscheidungen geprägt" (UA S. 23). Er sei jedenfalls vermindert schuldfähig, möglicherweise schuldunfähig.
Diese Darlegungen erfüllen die rechtlichen Anforderungen an die Feststellung von Schuldunfähigkeit nicht; gleichermaßen nicht die Anforderungen an die Feststellung der Voraussetzungen des § 63 StGB.
Es fehlt insbesondere ein Hinweis darauf, wie sich die Geisteskrankheit des Angeklagten auf die Begehung der konkret festgestellten Taten ausgewirkt haben soll. Dieser Mangel liegt bei den beiden ersten Taten auf der Hand; es ist nicht ersichtlich, welchen Einfluss das (zeitweise) Hören von Stimmen auf diese beiden Taten gehabt haben soll. Aber auch hinsichtlich des versuchten Tötungsdelikts ergibt sich aus dem Urteil kein konkreter Zusammenhang zwischen den Symptomen der festgestellten Geisteskrankheit und der Tatmotivation, - planung oder -ausführung.
Im Hinblick darauf, dass der frühere Mitangeklagte F. den Angeklagten darauf hinwies, er solle sich mit dem von F. auftragsgemäß gekauften Messer allenfalls verteidigen, dass der Angeklagte nach der Tatausführung floh und zur Erklärung eine - unglaubhafte - Schutzbehauptung einer Notwehrsituation aufstellte, lag die Annahme, er habe keine Einsicht in das Unrecht seines Handelns gehabt, eher fern; das Landgericht erläutert nicht, wie es gleichwohl zu dieser Feststellung gelangt ist. Offenbar übersehen ist, dass die Feststellung "eingeschränkter Einsichtsfähigkeit" für die Anwendung der §§ 20, 21 StGB grundsätzlich ohne Bedeutung, jedenfalls aber problematisch und auch in Kombination mit der Möglichkeit einer gänzlichen Aufhebung der Unrechtseinsicht (nicht: der Fähigkeit hierzu) im einzelnen zu prüfen und zu erörtern ist (vgl. dazu BGHSt 34, 22, 25 ff.; 40, 341, 349; 49, 347, 349; BGH NStZ 2006, 682 f.; NStZRR 2008, 106; 2009, 170: Fischer, StGB, 57. Aufl., § 21 Rn. 3 mwN).
Die Annahme möglicher Schuldunfähigkeit findet in den Urteilsgründen daher keine hinreichende Grundlage. Aus denselben Gründen mangelt es an der tragfähigen Feststellung eines die Unterbringung gemäß § 63 StGB rechtfertigenden Zustands.
3. Der neue Tatrichter wird, wenn die Taten wiederum wie geschehen festgestellt werden sollten, ihrer rechtlichen Würdigung größere Aufmerksamkeit zuzuwenden haben. Bei der Tat 1 bleibt bisher unklar, worauf die (wahldeutige) Annahme einer Unterschlagung beruht und ob der Tatbestand der Hehlerei gesehen worden ist. Bei der Tat überzeugt die Ansicht des Landgerichts, im Hinblick auf "Sinn und Zweck" des Gesetzes sei der Auslegung des § 281 StGB durch den Bundesgerichtshof nicht zu folgen, jedenfalls bislang nicht.
Hinsichtlich der Tat bleibt unklar, aus welchen Gründen das "unvermittelte" (UA S. 8), vorwarnungslose Handeln des Angeklagten gegen den Nebenkläger, der sich "unterhielt" und mit einem Angriff offensichtlich nicht rechnete, nicht als heimtückisch angesehen worden ist.
Der Umstand, dass nur der Angeklagte das auf Freispruch und Anordnung der Maßregel lautende Urteil angefochten hat, würde nach Einfügung von § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO durch das Gesetz vom 16. Juli 2007 (BGBl I 1327) der Verhängung einer Strafe für den Fall abweichender neuer Feststellungen nicht entgegen stehen.
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 964
Bearbeiter: Karsten Gaede