HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 163
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 535/09, Beschluss v. 27.01.2010, HRRS 2010 Nr. 163
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 8. Juni 2009 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben mit Ausnahme der als Fall 7 oder 8 der Urteilsgründe abgeurteilten, vom Angeklagten mittels Videokamera aufgezeichneten Tat und der hierfür verhängten Einzelstrafe.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,
an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Missbrauch von Schutzbefohlenen, sowie wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in acht Fällen, jeweils in Tateinheit mit Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen - Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern in 52 weiteren Fällen - freigesprochen. Die Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge überwiegend Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts führte der Angeklagte im Zeitraum zwischen August 2006 und Mai 2007 an der damals achtjährigen Tochter seiner Lebensgefährtin in zahlreichen Fällen sexuelle Handlungen aus oder ließ das Kind sexuelle Handlungen an ihm vollziehen. Mangels Konkretisierbarkeit weiterer Fälle hat das Landgericht jeweils mindestens zwei Fälle des Oralverkehrs des Kindes am Angeklagten (Fälle 9 und 10 der Urteilsgründe), der Masturbation des Angeklagten durch das Kind (Fälle 7 und 8) sowie verschiedener sexueller Handlungen des Angeklagten an dem Kind (Fälle 1 bis 6) festgestellt. Eine der beiden als Fälle 7 und 8 abgeurteilten Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen im Mai 2007 zeichnete der Angeklagte mittels einer an seinem im Arbeitszimmer stehenden Computer installierten webcam auf und speicherte die Aufnahme auf seinem PC; dies führte zur Entdeckung durch seine Lebensgefährtin, die aber erst etwa sechs Monate später, als der Angeklagte sich einer anderen Frau zuwandte, Strafanzeige erstattete.
Der Angeklagte hat die aufgezeichnete Tat im Wesentlichen eingeräumt, weitere Übergriffe aber bestritten. Das Landgericht hat seine Einlassung insoweit als durch die Aussagen der Geschädigten bei der Polizei, im Rahmen der Exploration durch eine Sachverständige sowie in der Hauptverhandlung als widerlegt angesehen, jedoch mangels weitergehender Konkretisierbarkeit jeweils nur zwei Fälle der insgesamt fünf unterschiedlichen Handlungsabläufe als hinreichend bewiesen angesehen.
2. Der Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen § 244 Abs. 4 StPO liegt folgender Ablauf zugrunde:
Die Geschädigte wurde am 5. Februar 2008 polizeilich zur Sache vernommen, äußerte sich bei dieser Gelegenheit aber nicht detailliert zu einzelnen Vorfällen. Nach Beauftragung einer Sachverständigen durch die Staatsanwaltschaft fand am 3. Juli 2008 ein zweistündiges aussagepsychologisches Explorationsgespräch in Anwesenheit der Mutter der Geschädigten statt. Auf der Grundlage dieser Exploration erstattete die Sachverständige ihr vorläufiges schriftliches Gutachten, dem ein Wortprotokoll der Exploration beigefügt war.
Die Hauptverhandlung begann am 27. Mai 2009. In ihrem Verlauf wurden ein Polizeibeamter zum Inhalt der Vernehmung vom 5. Februar 2008 und die Sachverständige zum Inhalt der Äußerungen bei der Exploration am 3. Juli 2008 vernommen; die Geschädigte selbst hat bei ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung sodann "ihre Angaben gegenüber der Sachverständigen im Wesentlichen bestätigt" (UA S. 23), wobei allerdings "wie schon bei der Sachverständigen ... kaum ein Bericht in freier Rede zu erhalten (war)" (ebd.). Danach erstattete die Sachverständige ihr Gutachten zur Frage der Glaubhaftigkeit der Aussage der Geschädigten.
Im Anschluss daran stellte die Verteidigerin den Beweisantrag, ein weiteres aussagepsychologisches Gutachten zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten einzuholen. Zur Begründung führte der Antrag aus, das Gutachten der Sachverständigen Dr. U. weise "qualitative Mängel in Bezug auf die Fragetechnik sowie die Analyse der speziellen Aussagetüchtigkeit, Aussageentstehung und -entwicklung sowie der Prüfung motivationaler Faktoren für eine Falschaussage auf". Der Antrag legte im Folgenden anhand von Auszügen aus dem Wortprotokoll der Exploration dar, die Sachverständige habe die Befragung der damals 10jährigen Zeugin in Form sog. "geschlossener" Fragen oder unter Vorgabe mehrerer Antwortmöglichkeiten durchgeführt, wobei das Kind in zahlreichen Fällen Vorgaben der Sachverständigen nur einsilbig oder durch zustimmende Laute bestätigt habe. Dies sei aussagepsychologisch fehlerhaft gewesen, da es suggestive Wirkungen haben und die Erinnerung der kindlichen Zeugin in Richtung auf bestimmte Ergebnisse habe verändern können. Dies habe sich auch auf die Vernehmung der Geschädigten in der Hauptverhandlung auswirken können. Diese suggestiven Effekte und Besonderheiten bei Aussageentstehung und -entwicklung seien im Gutachten der Sachverständigen nicht berücksichtigt worden; es weise daher erhebliche qualitative Mängel auf und entspreche nicht den in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten Anforderungen an aussagepsychologische Gutachten.
Das Landgericht hat den Beweisantrag mit der Begründung abgelehnt, die Kammer verfüge selbst über die erforderliche Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO). Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen sei Aufgabe des Gerichts; ein aussagepsychologisches Gutachten könne nur eine zusätzliche Entscheidungshilfe sein. Der Beschluss führte sodann aus: "Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall die Hinzuziehung eines Sachverständigen erfordern würden, sind nicht ersichtlich. Die Kammer hat allein zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung die ... Sachverständige U. zur Hauptverhandlung hinzugezogen, zumal ihr hinsichtlich der Angaben der Zeugin ... im Rahmen der Exploration zwecks Überprüfung der Aussagekonstanz ohnehin die Funktion einer Zeugin zufiel."
In den Urteilsgründen hat das Landgericht eine ausführliche Würdigung der Aussage der Geschädigten vorgenommen und diese als glaubhaft angesehen. Abschließend hat es ausgeführt: "Hinsichtlich der Bewertung der Zuverlässigkeit der Bekundungen der Zeugin ... hat sich die Kammer auch der Beratung durch die ihr aus vielen Verfahren als zuverlässig bekannte, forensisch erfahrene Sachverständige Dr. U. bedient. Diese ist auf dem Hintergrund ihrer umfassenden Exploration sowie ihrer Eindrücke aus der Hauptverhandlung zu dem Schluss gelangt, die Angaben der Zeugin seien aus aussagepsychologischer Sicht einschränkungslos als erlebnisfundiert zu beurteilen. Dem schließt sich die Kammer nach eigener Prüfung aus den dargelegten Gründen an" (UA S. 28).
3. Diese Verfahrensweise war rechtsfehlerhaft; es ist nicht auszuschließen, dass sich der Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat.
a) Der Beweisantrag der Verteidigerin zielte auf die Vernehmung eines weiteren Sachverständigen ab (§ 244 Abs. 4 Satz 2 StPO) und stützte sich zur Begründung auf die Darlegung methodischer und inhaltlicher Mängel des von der Sachverständigen Dr. U. erstatteten Gutachtens. Demgegenüber bezog sich der den Antrag zurückweisende Beschluss nicht auf einen Ablehnungsgrund gemäß § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO, sondern beschränkte sich auf den Ablehnungsgrund eigener Sachkunde gemäß § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO. Aus dem Zusammenhang des Ablehnungsbeschlusses ergibt sich, dass der Tatrichter die vom Beweisantrag aufgeworfene Frage der methodischen Mangelhaftigkeit des von der Sachverständigen erstatteten Gutachtens mit der Begründung dahinstehen lassen wollte, schon die Erstattung des ersten Gutachtens sei gar nicht erforderlich gewesen und nur deshalb erfolgt, weil die Sachverständige schon von der Staatsanwaltschaft beauftragt worden war und ohnehin als Zeugin zu vernehmen gewesen sei. Insofern konsequent hat der ablehnende Beschluss daher die substantiierten Einwendungen des Beweisantrags gegen die Qualität des (vorbereitenden) Gutachtens weder erörtert noch überhaupt erwähnt.
b) Ein solches Vorgehen ist zwar nicht von vornherein rechtsfehlerhaft. Wenn der Tatrichter der Ansicht ist, bereits die (vollzogene) Einholung eines ersten Sachverständigengutachtens sei überflüssig gewesen, da er unabhängig von diesem Gutachten über hinreichende eigene Sachkunde verfüge, kommt es für die Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines weiteren Gutachtens auf die Voraussetzungen des § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO unter Umständen nicht an.
Das setzt freilich voraus, dass den Bekundungen des ersten, bereits vernommenen Sachverständigen nach Auffassung des Gerichts unabhängig von möglichen qualitativen Mängeln keine Bedeutung für die Beweiswürdigung zukommt, weil das Gericht schon dieses Gutachten wegen ausreichender eigener Sachkunde nicht hätte einholen müssen. In diesem Fall erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit der in einem Beweisantrag behaupteten Mangelhaftigkeit des Erstgutachtens oder der Überlegenheit der Forschungsmittel eines anderen Sachverständigen. Es handelt sich dann zwar nicht um eine auf den Ablehnungsgrund der - tatsächlichen - Bedeutungslosigkeit gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO gestützte Ablehnung, da das - nach Auffassung des Gerichts überflüssige - Erstgutachten bereits erstattet und das beantragte weitere Gutachten nicht für die Entscheidung ohne Bedeutung ist. Der Sache nach ist die Ablehnung der beantragten Einholung eines Zweitgutachtens aber in der hier vorliegenden besonderen Konstellation dem Ablehnungsgrund der (tatsächlichen) Bedeutungslosigkeit einer Beweisbehauptung verwandt. Wie in jenem Fall in der Ablehnung des Beweisantrags eine konkludente Zusage des Gerichts liegt, den unter Beweis gestellten Tatsachen nicht nachträglich entgegen den Gründen des Ablehnungsbeschlusses doch Bedeutung zuzumessen (vgl. BGH NStZ 1988, 38; 1994, 195; BGH StV 1997, 338; Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 244 Rdn. 56; Fischer in KK-StPO 6. Aufl. § 244 Rdn. 146; Becker in LR 26. Aufl. § 244 Rdn. 227; Eisenberg Beweisrecht der StPO, 6. Aufl. Rdn. 216 a; jeweils m.w.N.), kann die substantiiert geltend gemachte Fehlerhaftigkeit eines Sachverständigengutachtens nur dann dahinstehen, wenn es auf das Ergebnis des Gutachtens für das Beweisergebnis in keiner Richtung ankommt. Wenn also das Gericht, wie hier, den auf Mängel des Erstgutachtens gestützten Antrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens allein mit der Begründung ablehnt, es verfüge selbst über die erforderliche Sachkunde, und sich mit den geltend gemach ten Mängeln nicht auseinandersetzt, bezieht sich diese Begründung nach dem Empfängerhorizont des Antragstellers nicht allein auf das beantragte Zweitgutachten, sondern notwendig auch auf die Beweisbedeutung des Erstgutachtens: Auf dessen Fehlerhaftigkeit kann es nur dann nicht ankommen, wenn der Tatrichter es im Hinblick auf seine eigene Sachkunde seinen Feststellungen nicht zugrunde legt. Umgekehrt wird es daher regelmäßig ausgeschlossen sein, Schlussfolgerungen zur Beweiswürdigung ohne nähere Erörterung auf ein Gutachten zu stützen, dessen in einem Beweisantrag gemäß § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO geltend gemachte methodische Mangelhaftigkeit das Gericht ausdrücklich oder konkludent hat dahinstehen lassen.
c) So liegt es hier. Der Beweisantrag der Verteidigerin hat substantiiert methodische Mängel des Erstgutachtens und deren mögliche, nach aller Erfahrung sogar nahe liegende Folgewirkungen für die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung dargelegt. Wenn der Tatrichter die Frage der Mangelhaftigkeit des Gutachtens nicht offen lassen wollte, hätte er sich in dem ablehnenden Beschluss mit den Argumenten des Antrags im Einzelnen auseinander setzen müssen. Wenn er hierauf verzichtete, durfte er seine Beweiswürdigung in den Urteilsgründen nicht gerade auch auf das Gutachten stützen. Entgegen der u.U. noch missverständlich erscheinenden Begründung des Ablehnungsbeschlusses hat das Landgericht die Überzeugung von der "einschränkungslosen" Richtigkeit der Bekundungen der Geschädigten aber ausdrücklich auch auf das aussagepsychologische Gutachten der "als zuverlässig bekannten" Sachverständigen gestützt (UA S. 28). Im Übrigen hat es auch die Feststellung der die Glaubhaftigkeit der Geschädigten stützenden Aussagekonstanz auf die Bekundungen der Sachverständigen gestützt, ohne die diesbezüglichen Einwendungen des Beweisantrags erkennbar zu berücksichtigen.
Hierin liegt ein Widerspruch zu der Ablehnungsbegründung, mit welchem der Beschwerdeführer nicht rechnen musste. Er konnte sich vielmehr nach der Begründung des Ablehnungsbeschlusses darauf verlassen, dass das Landgericht die geltend gemachten - sich nach dem Wortlautprotokoll der Exploration in der Tat aufdrängenden - methodischen Fehler des Gutachtens als solche erkannt habe und das Gutachten daher - im Hinblick auf seine eigene Sachkunde - seinem Urteil nicht zugrunde legen würde. Andernfalls hätte das Landgericht den Angeklagten auf seine abweichende oder geänderte Beurteilung hinweisen und die geltend gemachten Mängel in den Urteilsgründen erörtern müssen; bei Erneuerung des Beweisantrags hätte es einer gemäß § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO substantiierten Begründung bedurft, wenn ein Zweitgutachten nicht eingeholt werden sollte.
Die Urteilsgründe, die sich auf das Gutachten der Sachverständigen Dr. U. stützen, ohne die von der Verteidigung zu Recht problematisierte, wissenschaftlichen Standards kaum entsprechende suggestive Befragungstechnik zu thematisieren, stehen damit im Widerspruch zur Ablehnung des Beweisantrags.
d) Auf dem Verfahrensfehler beruht das Urteil auch, soweit es die Feststellung der vom Angeklagten bestrittenen Fälle betrifft. Das Landgericht hat seine Beweiswürdigung ausdrücklich auf die Feststellung der "Aussagekonstanz" sowie auf die "Beratung durch die als zuverlässig bekannte Sachverständige" gestützt; soweit es eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat, ist aus den Urteilsgründen nicht erkennbar, dass es sich der Problematik der Aussageentwicklung, auch im Hinblick auf das Kriterium der Konstanz, bewusst war.
Dagegen kann die Verurteilung zu einer Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten wegen der vom Angeklagten aufgezeichneten Tat des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit dem Missbrauch einer Schutzbefohlenen bestehen bleiben, da insoweit das Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler ausgeschlossen werden kann und auch die Prüfung aufgrund der Sachrüge keinen Rechtsfehler ergeben hat. Der Angeklagte hat diese Tat gestanden; sie ist überdies per Videokamera aufgezeichnet worden; die Strafzumessung lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Die Revision war daher insoweit gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.
4. Das Urteil war daher in den Fällen 1 bis 6, 9, 10 sowie demjenigen der Fälle 7 oder 8 aufzuheben, der vom Angeklagten nicht aufgezeichnet und nicht gestanden wurde; damit entfällt auch die Gesamtstrafe. Im Umfang dieser Aufhebung war die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 163
Externe Fundstellen: BGHSt 55, 5; NJW 2010, 1214; NStZ 2010, 405; NStZ 2010, 586; StV 2011, 713
Bearbeiter: Karsten Gaede