HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 152
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 444/09, Urteil v. 27.01.2010, HRRS 2010 Nr. 152
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kassel vom 17. Juni 2009 wird verworfen.
Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten seines Rechtsmittels aufzuerlegen; jedoch hat er seine sowie die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Fall 3) sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (Fälle 1 und 2) zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Revision, mit der er Verfahrensrügen und die Sachrüge erhebt, bleibt ohne Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte am Abend des 2. Dezember 2008 gegen 23.00 Uhr unter Alkoholeinfluss auf seinen Nachbarn, den Zeugen W., drei Mal mittels eines nicht mehr feststellbaren gefährlichen Gegenstandes eingeschlagen und ihm im Gesichtsbereich erhebliche Verletzungen zugefügt (Fall 1).
Gegen Mitternacht ließ der Angeklagte am Fernsehgerät in seiner Wohnung einen Musiksender in voller Lautstärke laufen. Der Nebenkläger, der zu Besuch bei der Geschädigten G. und ihrer Tochter in der darunter liegenden Wohnung war, begab sich wegen des Lärms nach oben, hämmerte gegen die Wohnungstür des Angeklagten und rief, er solle die Musik leiser stellen. Der Angeklagte fühlte sich hierdurch persönlich angegriffen und beleidigt, öffnete die Wohnungstür jedoch nicht. Einige Zeit später begab er sich zur Wohnung der Geschädigten G., klopfte gegen die Wohnungstür und rief nach dem Nebenkläger. Der Angeklagte hatte eine Schere, die vorne spitz zulief und eine Schnittklingenlänge von 5,5 cm hatte, sowie einen Kerzenständer dabei. Nachdem die Geschädigte G. die Tür geöffnet hatte, schlug er mit dem Kerzenständer nach ihr und traf sie zwei Mal am Hinterkopf. Die Geschädigte erlitt dadurch u.a. Verletzungen am Schädel (Fall 2).
Der Nebenkläger kam der Geschädigten G. zu Hilfe, so dass diese in die Wohnung flüchten konnte. Der Angeklagte stach zielgerichtet mit der Schere in Richtung des ungeschützten Kopfes des Nebenklägers. Der Stich durchdrang die Wange und reichte bis in den Gaumen. Der Nebenkläger, der sofort stark blutete, wehrte sich. Im Laufe des Kampfes gingen beide zu Boden. Dem Angeklagten gelang es, sich auf den Nebenkläger zu setzen. Von dieser Position aus stach er noch mindestens zwei weitere Male mit der Schere in das Gesicht des Nebenklägers, wodurch dieser weitere Schnittverletzungen im Gesicht sowie Verletzungen an Gaumen und Zunge davontrug. Bei allen Stichen erkannte der Angeklagte die Möglichkeit, tödliche Verletzungen an Schläfe oder Halsschlagader herbeizuführen und nahm dies in Kauf. Der Geschädigten G. gelang es schließlich, dem Angeklagten die Schere, mit der er weiter zustechen wollte, zu entreißen, sie in ihren Wohnungsflur zu werfen und den Angeklagten von dem Nebenkläger herunterzuziehen, weshalb er den Angriff abbrechen musste (Fall 3).
2. Die Sachrüge sowie die Verfahrensrügen haben überwiegend aus den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen keinen Erfolg.
Näherer Erörterung bedarf allein zu Fall 3 die Rüge, die Verlesung des Berichtes des Klinikums K. vom 8. Dezember 2008 verstoße gegen § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO, weil sie zumindest auch zum Nachweis des versuchten Tötungsdelikts zum Nachteil des Nebenklägers gedient habe. Der Generalbundesanwalt hat sich der Rüge angeschlossen.
a) Sie greift jedoch nicht durch. Ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ist nicht bewiesen. Im Protokoll (Bl. 95 Bd. II) heißt es, "dass der Vermerk über die Aufnahme des Klinikums K. vom 8.12.2008, Bl. 127 f. Bd. I d.A. ... von dem Vorsitzenden verlesen" wurde. Diese Formulierung lässt vor dem Hintergrund, dass der betreffende Arztbericht im Zusammenhang mit der Vernehmung des Nebenklägers in die Hauptverhandlung eingeführt wurde, die Möglichkeit offen, dass die Verlesung nicht nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO im Urkundsbeweis, sondern zum Zwecke des Vorhalts im Rahmen dieser Vernehmung erfolgte. Für die Annahme eines bloßen Vernehmungsbehelfs könnte - außer dem Umstand, dass § 256 StPO nicht ausdrücklich genannt wird - insbesondere sprechen, dass das Schriftstück nicht als Attest oder Gutachten, sondern als "Vermerk" bezeichnet wird.
Soweit der Generalbundesanwalt auf die Formulierung im Urteil hinweist, dass die Feststellungen zu den Verletzungen auch auf der Verlesung des ärztlichen Attestes beruhten (UA 19), könnte mit Rücksicht darauf allenfalls in Betracht gezogen werden, das Landgericht habe bei seiner Überzeugungsbildung ein Beweismittel verwertet, das nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war. Insoweit hätte es jedoch der - vom Beschwerdeführer nicht erhobenen - Verfahrensrüge bedurft, das Landgericht habe seine Überzeugung entgegen § 261 StPO nicht aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpft.
b) Darüber hinaus würde das Urteil selbst dann nicht auf einem etwaigen Verstoß gegen § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO beruhen, wenn man eine Verlesung nach dieser Vorschrift als bewiesen erachtete. Der Senat kann - anders als dies etwa in der vom Generalbundesanwalt zitierten Entscheidung (BGH StV 2007, 569) der Fall war - ausschließen, dass das Landgericht seine Überzeugung von einem bedingten Tötungsvorsatz zumindest auch aus dem Arztbericht des Klinikums K. gewonnen hat. Die Urteilsgründe (UA 21 ff.) nehmen zu dieser Frage weder wörtlich noch sinngemäß auf das Schriftstück Bezug, sondern enthalten davon unabhängige, eigenständige Überlegungen der Kammer. Dies gilt auch, soweit das Landgericht bei der Feststellung "dass die Stiche mit großem Kraftaufwand ausgeführt worden sind" u.a. auf die "gefundenen Verletzungen" abstellt. Auch soweit die Kraftentfaltung bei den Stichen indiziell den Tötungsvorsatz mit begründen könnte, stellt das Landgericht lediglich von dem Attest unabhängige Erwägungen an, die "bereits ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen" zu klären waren und deren Grundlagen ihm durch die Vernehmung des Nebenklägers sowie die Inaugenscheinnahme der Lichtbilder von seinen Verletzungen vermittelt worden sein konnten.
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 152
Externe Fundstellen: NStZ 2010, 466
Bearbeiter: Karsten Gaede