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HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 841

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 165/09, Urteil v. 12.08.2009, HRRS 2009 Nr. 841


BGH 2 StR 165/09 - Urteil vom 12. August 2009 (LG Mainz)

Fahrlässige Tötung und Körperverletzung (Umgang mit Kindern; Hinweispflicht gegenüber Ärzten; Tatmehrheit und Tateinheit bei Fahrlässigkeitsdelikten); Beweiswürdigung zur Verneinung des Tötungsvorsatzes und des Körperverletzungsvorsatzes (mangelnde Lebensnähe; "Kniehöhefall").

§ 212 StGB; § 222 StGB; § 223 StGB; § 229 StGB; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Das Verhältnis der Tatmehrheit zwischen zwei Fahrlässigkeitstaten gemäß § 229 und § 222 StGB zulasten eines Opfers ist problematisch, wenn der Ursachen- und Zurechnungszusammenhang zwischen der durch aktives Tun herbeigeführten Verletzung (§ 229 StGB) und dem später eintretenden Tod des Kindes (§ 229 StGB durch mangelnde Hinweise auf eine früher zugefügte Verletzung des Opfers) fortbesteht. In diesem Fall kann in dem späteren Todeseintritt keine tatmehrheitliche Unterlassungstat gesehen werden.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Mainz vom 30. September 2008 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tatmehrheit mit fahrlässiger Tötung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Revision der Staatsanwaltschaft, die eine Verurteilung wegen Mordes erstrebt, hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt: Das Tatopfer, der zum Tatzeitpunkt vier Jahre alte Sohn der Lebensgefährtin des Angeklagten, hielt sich am Tattag, dem 25. April 2007, ab 17.00 Uhr zusammen mit dem Angeklagten in dessen Wohnung auf. Am Vormittag dieses Tages war der Geschädigte wegen eines am Vortag erlittenen harmlosen Hundebisses an der Hand und wegen einer Erkältung von seiner Mutter einem Kinderarzt vorgestellt worden; hierbei wurde die Hand des Kindes mit einem Verband versorgt.

Gegen 20.00 Uhr begann der Angeklagte, auf den ausdrücklichen Wunsch des Kindes hin, den Jungen spielerisch in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen. Hierbei warf der 1,68 m große, 70 kg schwere Angeklagte das 17 kg schwere Kind schließlich bis in eine Höhe von etwa 2,25 m. Bei einem dieser Würfe bemerkte der Angeklagte, dass er das Kind, das sich in der Luft verdrehte, nicht würde auffangen können. Um den Sturz abzufangen, zog er ruckartig sein rechtes Knie nach oben. Das Kind fiel mit dem Bauch auf die Kniespitze des Angeklagten; gleichwohl gelang es diesem nun, den Geschädigten aufzufangen. Er legte das Kind auf die Couch; dieses klagte nur über geringe Schmerzen im Bauch. Als es gegen 20.30 Uhr aufstand, brach es nach wenigen Schritten zusammen. Unmittelbar darauf kam die Mutter des Kindes von der Arbeit nach Hause; es wurde nun der Rettungsdienst und nach Anforderung um 21.57 Uhr schließlich auch ein Notarzt alarmiert. Das Kind war bei dessen Eintreffen schläfrig, bewusstseinsgetrübt, klagte über Bauchschmerzen und war schließlich kaum noch ansprechbar.

Die Mutter des Kindes informierte die Sanitäter und den Notarzt über den Hundebiss an der Hand des Kindes; man ging daher von einem möglichen septischen Geschehen als Ursache der Bewusstseinstrübung aus. Das Kind wurde schließlich im Rettungswagen narkotisiert und intubiert. Der Angeklagte klärte weder seine Lebensgefährtin noch das Rettungspersonal über das Sturzgeschehen auf. Hierbei handelte er "aus Scham und in der Annahme, dass das Kind nunmehr medizinisch ausreichend und umfassend versorgt" sei (UA S. 10).

Um 22.53 Uhr wurde das geschädigte Kind in der Intensivstation der Universitäts-Kinderklinik aufgenommen; dort verstarb es etwa zwei Stunden später. Ursache hierfür waren die inneren Verletzungen, die das Kind durch den Aufprall im Bauchraum erlitten hatte, insbesondere eine Leberruptur sowie eine Perforation des Zwölffingerdarms. Bei sofortigem Hinweis des Angeklagten an die eintreffenden Rettungskräfte hätte das Kind signifikant länger gelebt; durch eine sofortige Operation hätte sein Leben wahrscheinlich gerettet werden können.

Das Landgericht hat das Geschehen beim Sturz als fahrlässige Körperverletzung, das Verhalten des Angeklagten nach Eintreffen der Rettungskräfte als in Tatmehrheit hierzu stehende fahrlässige Tötung durch Unterlassen angesehen. Einen Tötungsvorsatz oder einen Körperverletzungsvorsatz des Angeklagten hat es als nicht nachgewiesen, seine den Feststellungen entsprechende Darstellung des Sturzgeschehens als nicht widerlegbar angesehen.

2. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand, so dass es auf die Verfahrensrüge nicht ankommt.

a) Soweit sich das Landgericht bei seiner Bewertung auf die Gutachten der verschiedenen medizinischen Sachverständigen stützt, lässt sich nach den Urteilsgründen nicht ausschließen, dass es den Ergebnissen dieser Gutachten, soweit sie einzelne Elemente der Einlassungen des Angeklagten zum Geschehensablauf und dessen unmittelbaren Folgen als medizinisch nicht ausgeschlossen bezeichnet haben, unzutreffend hohes Gewicht beigemessen hat. So sagt namentlich der Umstand, dass sich Bauchverletzungen wie die von dem Geschädigten erlittene grundsätzlich durch einen wuchtigen Aufprall auf die Kniespitze des Angeklagten erklären lassen, nichts über die Wahrscheinlichkeit eines solchen Geschehensablaufs aus. Zutreffend hat der Generalbundesanwalt darauf hingewiesen, dass der vom Angeklagten geschilderte Ablauf, wonach der Angeklagte, um einen Sturz des Kindes zu "verhindern", das er "nicht mehr würde auffangen können" (UA S. 8), sein Knie "ruckartig" so weit nach oben zog, dass die Kniespitze nach oben zeigte - also annähernd bis zur Kinnhöhe -, und dann trotz (oder wegen) des Aufpralls des Kindes dieses auffing, in sich eher lebensfremd und fern liegend erscheint. Insoweit hätte das wechselnde Einlassungsverhalten des Angeklagten (UA S. 21), insbesondere im Hinblick auf eine Anpassung an die gutachterlichen Erkenntnisse, im Einzelnen erörtert und kritisch geprüft werden müssen. Die Erwägung, für die (angepasste) Einlassung des Angeklagten spreche, dass sie mit der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. E. übereinstimme (UA S. 21), übersieht, dass die Einlassung erst in Kenntnis des und im Hinblick auf das Sachverständigengutachten korrigiert wurde.

Im Hinblick auf die problematische Beweislage hätte das Landgericht zudem eine kritische Gesamtabwägung aller Indizien vornehmen und in den Urteilsgründen umfassend und nachprüfbar darstellen müssen. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass trotz der naturwissenschaftlichen "Möglichkeit" einzelner vom Angeklagten behaupteter Tatsachen sich aus der Zusammenfassung einer Mehrzahl jeweils als "äußerst unwahrscheinlich" festgestellter Umstände ein Gesamtbild ergeben kann, welches der Annahme von "Unwiderlegbarkeit" entgegensteht.

b) Rechtsfehlerhaft ist auch die Beweiswürdigung zum Geschehen nach Eintreffen der Rettungskräfte. Aus den Urteilsgründen ergibt sich nicht, aus welchen Gründen der Angeklagte davon, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt erneut über Schmerzen im Bauch klagte, nicht Kenntnis genommen haben sollte.

Unklar bleibt in den Urteilsgründen auch, worauf sich die Feststellung stützt, der Angeklagte habe eine ausreichende Versorgung des Kindes für gesichert und eine wahrheitsgemäße Information daher für nicht erforderlich gehalten. Vielmehr drängte sich das Gegenteil dieser Annahme nach den festgestellten sonstigen Umständen ersichtlich auf. Selbst wenn der Angeklagte von den Äußerungen des verletzten Kindes gegenüber den Sanitätern keine Kenntnis erlangt hätte, war für ihn doch offenkundig, dass die Hinweise seiner Lebensgefährtin auf den (harmlosen) Hundebiss geeignet waren, die Aufmerksamkeit des Notarztes vom eigentlichen Verletzungsbild abzulenken. Es musste sich ihm offensichtlich aufdrängen, dass eine wahrheitsgemäße Information der Rettungskräfte über das - angebliche - Unfallgeschehen dringend erforderlich war, um eine alsbaldige umfassende Versorgung des augenscheinlich schwer verletzten oder erkrankten Kindes sicherzustellen.

Die Ablehnung nicht nur der Feststellung eines (bedingten) Tötungsvorsatzes, sondern auch der Feststellung eines Vorsatzes der Körperverletzung durch Verlängerung oder Intensivierung der Gesundheitsbeschädigung und des Leidens des Kindes wird von den bisherigen Feststellungen daher nicht getragen. Das Urteil war daher insgesamt aufzuheben.

3. Der neue Tatrichter wird auch der Frage des Konkurrenzverhältnisses zwischen den Geschehensabschnitten genauere Aufmerksamkeit zuzuwenden haben. Das vom Landgericht angenommene Verhältnis der Tatmehrheit zwischen zwei Fahrlässigkeitstaten nach § 229 und § 222 StGB erscheint problematisch, da der Ursachen- und Zurechnungszusammenhang zwischen der durch aktives Tun herbeigeführten Verletzung und dem Tod des Kindes fortbestand; für eine tatmehrheitliche Unterlassungstat fehlt es dann an einer Grundlage.

Anders wäre dies, wenn die neue Hauptverhandlung den Nachweis eines (neuen) Tatentschlusses nach zunächst fahrlässiger Körperverletzung und daher eines zumindest bedingt vorsätzlichen Tötungsdelikts (§§ 211, 212 StGB) oder Körperverletzungsdelikts (§§ 223, 227 StGB) durch Unterlassen ergäbe.

Wieder anders wäre es schließlich, wenn sich ein (bedingter) Vorsatz schon bei dem Verletzungsgeschehen oder in der Zeitspanne zwischen Verletzung und Herbeirufen des Rettungsdienstes (nach Eintreffen der Mutter) erweise. All dies bedarf sorgfältiger neuer Prüfung.

HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 841

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2009, 349

Bearbeiter: Karsten Gaede