HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 839
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 105/09, Urteil v. 17.06.2009, HRRS 2009 Nr. 839
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger H. S. und M. S. wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 9. September 2008 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Revisionen der Nebenkläger werden als unzulässig verworfen, soweit sie über ihre jeweilige Nebenklagebefugnis hinausgehen.
3. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags in einem Fall sowie des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen freigesprochen. Die auf die Sachrüge gestützten, gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger H. S. und M. S. haben Erfolg, soweit sich die Revisionen der Nebenkläger im Rahmen ihrer jeweiligen Nebenklagebefugnis halten. Sie sind unzulässig, soweit die Revision des Nebenklägers H. S. Taten zum Nachteil von Y. S. und die Revision der Nebenklägerin M. S. Taten zu Lasten von H. und Y. S. betreffen.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts entstand am Tattag, dem 11. November 2007, zwischen dem Angeklagten P. und dem Nebenkläger H. S., die beide als Autohändler tätig waren, ein zunächst in mehreren Telefongesprächen und SMS geführter Streit um eine angeblich unberechtigte Nutzung eines Stellplatzes S. durch ein von P. abgestelltes Fahrzeug. Schließlich kam man gegen 20.00 Uhr überein, dass das Fahrzeug alsbald abgeholt werden sollte und man sich vor Ort treffen wollte.
Dabei gingen beide Seiten davon aus, dass es zu einer auch tätlichen Auseinandersetzung kommen konnte. P. bat deshalb seinen Schwager, den Angeklagten A., zu seiner Unterstützung mitzufahren; beide führten Messer mit sich. Der Nebenkläger H. S. nahm seinen Sohn Y. S. und seinen - stark körperbehinderten - Bruder A. S. mit; Letzterer war ebenfalls mit einem Messer bewaffnet.
Am Tatort kam es alsbald zu Tätlichkeiten. H. und Y. S. schlugen auf den Angeklagten P. ein. Möglicherweise setzte nun A. S. als erster sein 7 cm langes Messer gegen P. ein. Dieser griff, da er sein Leben bedroht sah, in ein Türfach seines Pkw, ergriff ein Messer und "stach nach den Angreifern". A. holte gleichfalls sein Messer aus dem Fahrzeug und stach Y. S. in die Leistengegend, um P. zu helfen und S. kampfunfähig zu machen. Dieser erlitt eine lebensbedrohliche schwere Verletzung, entfernte sich einige Meter und blieb kampfunfähig liegen. H. S. erlitt bei dem Versuch, P. das Messer wegzunehmen, Abwehrverletzungen; er wandte sich daher ab und suchte in seinem Pkw nach zum Einsatz geeigneten Werkzeugen. P. kämpfte unterdessen wieder mit A. S. . Dieser fügte ihm mehrere Stich- und Schnittverletzungen am Kopf zu, die nicht lebensgefährlich waren, jedoch sehr stark bluteten. Nun stach P. mit Tötungsvorsatz A. S. in den Oberbauch und sodann in die Brust, wobei der Stich 15 cm tief eindrang, drei Rippen durchtrennte und die linke Herzkammer eröffnete. S. verstarb unmittelbar darauf.
Inzwischen hatte H. S. aus seinem Pkw eine Kurbel geholt, schlug damit auf P. ein und brach ihm die Hand. Sodann schlug er auf A. ein. Dieser stach ihn in die Brust; S. brach ihm mit einem Schlag der Kurbel die linke Hand. Schließlich flüchteten beide Angeklagte in ihren Pkw und fuhren davon, während H. S. mit der Kurbel noch auf Tür und Scheibe des Fahrzeugs einschlug. In der Folge wurden Polizei und Notarzt verständigt. Unbeteiligte Zeugen des unmittelbaren Tatgeschehens gab es nicht.
Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat das Landgericht die Angeklagten als nicht überführt angesehen. Alle Beteiligten haben im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung unterschiedliche, auch jeweils zum Teil mehrfach voneinander abweichende Angaben zum Geschehen gemacht. Das Landgericht hat keine der geschilderten Versionen als glaubhaft erachtet und seinen Feststellungen "nur die übereinstimmenden bzw. die nicht zu widerlegenden Angaben der Angeklagten" (UA S. 16) zugrunde gelegt. Auf dieser Grundlage hat es sich nicht davon zu überzeugen vermocht, "dass die Angeklagten mit der tätlichen Auseinandersetzung begannen und nicht in Notwehr bzw. Nothilfe handelten" (UA S. 38).
2. Die gegen die Beweiswürdigung gerichteten Revisionen sind begründet. Dabei kommt es auf die von den Nebenklägern H. und M. S. im Einzelnen ausgeführten, zum Großteil urteilsfremden Erwägungen nicht an. Zutreffend rügt nämlich die Staatsanwaltschaft, dass die Urteilsgründe in entscheidenden Punkten lückenhaft sind und dass sich daher nicht ausschließen lässt, dass der Freispruch auf einem rechtsfehlerhaften Verständnis des Zweifelsgrundsatzes beruht.
a) Für die Annahme des Landgerichts, die Angeklagten hätten ihre jeweiligen Tathandlungen möglicherweise allesamt in einer Notwehrlage begangen, welche die "Gesamt-Kampfsituation" umfasste (UA S. 38), war die Feststellung von entscheidendem Gewicht, der später getötete A. S. habe als erster und seinerseits ohne rechtfertigenden Grund sein Messer eingesetzt. Diese Feststellung hat das Landgericht - neben den Einlassungen der Angeklagten, die es allerdings als in wesentlichen Punkten unglaubhaft angesehen hat - vor allem darauf gestützt, dass von zwei zum Tatort geeilten Anwohnern neben der Hand des Getöteten ein Messer gesehen worden sei und der Nebenkläger H. S., der sich über seinen Bruder beugte, ihnen gegenüber geäußert habe, es handele sich um das Messer seines Bruders (UA S. 14, 37). Das Landgericht hat darauf hingewiesen, dass diese beiden Zeugen in der Hauptverhandlung in Abweichung von ihrer polizeilichen Vernehmung ausgesagt haben, H. S. habe ihnen erklärt, es sei sein eigenes Messer (welches er nachträglich aus seinem Fahrzeug geholt hatte). Dem hat das Landgericht aber nicht geglaubt: "Die Zeugen haben nämlich nicht erklären können, wie es bei der Polizei zu jener anderen Aussage gekommen war" (UA S. 37).
Mit dieser Würdigung durfte sich der Tatrichter angesichts der hier vorliegenden besonders schwierigen Beweislage nicht begnügen. Da unbeteiligte Zeugen des unmittelbaren Tatgeschehens nicht vorhanden waren und sowohl die Seite der Nebenkläger als auch die Angeklagten nach Ansicht des Landgerichts jeweils unzutreffende, zu ihren Gunsten geschönte Schilderungen des Geschehens abgaben, kam einer sorgfältigen, ins Einzelne gehenden Würdigung objektiver Beweise und der Aussagen der alsbald nach der Tat eintreffenden unbeteiligten Zeugen besondere Bedeutung zu. Das Landgericht hätte daher, da es der Zuordnung des neben dem Getöteten liegenden Messers entscheidendes Gewicht beimaß, den in den verschiedenen Aussagen der Zeugen W. und G. zutage getretenen Widersprüchen genauer nachgehen müssen. Aus dem Urteil ergibt sich nicht, ob und gegebenenfalls mit welchem Ergebnis die vernehmenden Polizeibeamten als Zeugen vernommen worden sind.
b) Ein Erörterungsmangel besteht weiterhin insoweit, als das Landgericht zwar festgestellt hat, dass sich an beiden Händen des getöteten A. S. Abwehrverletzungen fanden (UA S. 13), deren Bedeutung für die Feststellung der als möglich angenommenen Notwehrlage des Angeklagten P. aber nicht erörtert. Hinsichtlich des Nebenklägers H. S. hat das Landgericht dem Vorhandensein von Abwehrverletzungen wesentliches Gewicht bei der Beweiswürdigung beigemessen (UA S. 34).
c) Zutreffend rügt die Revision auch, dass sich das Urteil zur Spurenlage an dem dem Getöteten zugeordneten Messer nicht verhält. Da nach den Urteilsfeststellungen offenbar DNA-Untersuchungen an allen aufgefundenen Werkzeugen durchgeführt wurden (UA S. 33 ff.), ist nicht erklärlich, warum die Urteilsgründe nicht darlegen, von wem die an dem A. S. zugeordneten Messer festgestellten Blut- und Hautabriebspuren stammten und welche Schlüsse das Landgericht hieraus gezogen hat.
Da schon diese Lücken der Urteilsgründe zur Aufhebung des Urteils führen, kommt es auf die weiteren Einzelausführungen der Revision und des Generalbundesanwalts zur Beweiswürdigung nicht an.
3. Zutreffend hat im Übrigen der Generalbundesanwalt auch darauf hingewiesen, dass die Annahme einer Notwehrlage beider Angeklagter hinsichtlich der "Gesamt-Kampfsituation" zu pauschal ist. Auch die Angeklagten hatten sich, mit langen Messern bewaffnet, in der Erwartung einer tätlichen Auseinandersetzung an den Tatort begeben; beide Parteien waren jedenfalls zunächst Angreifer und Verteidiger zugleich. Der Tatrichter hat, anstatt die einzelnen Handlungsabschnitte und die festgestellten Gewalthandlungen jeweils einer konkreten Betrachtung im Hinblick auf mögliche Notwehr- oder Nothilfelagen zu unterziehen, nur in pauschaler Form eine Gesamt-Notwehrlage angenommen.
Dies war hier nicht ausreichend. So bedurfte schon die Frage der Erörterung, ob der vorwarnungslose Messereinsatz des Angeklagten A. gegen Y. S., der seinerseits unbewaffnet war, durch Nothilfe gerechtfertigt sein konnte. Auch die Beurteilung, ob der außerordentlich massive Messereinsatz des Angeklagten P. gegen den körperbehinderten, ihm körperlich weit unterlegenen A. S. auch nach vorheriger Ausschaltung des Nebenklägers Y. S. erforderlich und geboten war, bedurfte sorgfältigerer Prüfung.
Schließlich hat der Generalbundesanwalt auch zutreffend darauf hingewiesen, dass das Landgericht das Geschehen rechtsfehlerhaft nicht unter dem Gesichtspunkt des § 231 StGB gewürdigt hat.
Die Sache muss daher insgesamt neu verhandelt werden.
HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 839
Bearbeiter: Karsten Gaede