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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 16

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 428/06, Beschluss v. 25.10.2006, HRRS 2007 Nr. 16


BGH 2 ARs 428/06 / 2 AR 242/06 - Beschluss vom 25. Oktober 2006

BGHSt 51, 136; nachträgliche Entscheidung über einheitliche Festsetzung von Maßnahmen oder Jugendstrafe; Absehen von der Einbeziehung der rechtskräftig abgeurteilten Straftaten (Sperrwirkung); Einheit zwischen Schuld- und Strafspruchrichter; Schuldfeststellung.

§ 27 JGG; § 30 JGG; § 31 JGG; § 62 JGG; § 66 JGG; § 14 StPO

Leitsätze

1. Die Sperrwirkung des § 66 Abs. 1 Satz 2 JGG tritt nur ein, wenn der Richter in früheren Entscheidungen ausdrücklich aus erzieherischen Gründen auf die Einbeziehung der rechtskräftig abgeurteilten Straftaten verzichtet hat. (BGHSt)

2. Die Schuldfeststellung nach § 27 JGG ist keine noch nicht vollständig erledigte Entscheidung im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 JGG. (BGHSt)

3. Bei Zusammentreffen einer Schuldfeststellung (§ 27 JGG) und einer anderen rechtskräftigen Entscheidung hat grundsätzlich der im Verfahren nach §§ 30, 62 JGG zuständige Richter zu prüfen, ob die Voraussetzungen für den Ausspruch einer Jugendstrafe vorliegen. (BGHSt)

4. Die Sperrwirkung des § 66 Abs. 1 Satz 2 JGG tritt nicht ein, wenn nach den Urteilsgründen nicht auszuschließen ist, dass die Möglichkeit der einheitlichen Festsetzungen einer Rechtsfolge lediglich übersehen worden ist. (Bearbeiter)

5. Ist in einer späteren Entscheidung über die Frage der einheitlichen Rechtsfolgenentscheidung durch Einbeziehung früherer Entscheidungen (§ 31 Abs. 2 JGG) nicht ausdrücklich entschieden worden, so ist für diese Frage grundsätzlich wieder der sachnähere Richter gemäß §§ 30, 62 JGG zuständig, der seinerseits die spätere Entscheidung einbeziehen kann. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Das Amtsgericht - Jugendrichter - Trier ist gemäß §§ 30, 62 JGG für die Entscheidung zuständig.

Gründe

I.

Das Amtsgericht - Jugendrichter - Trier hatte durch Urteil vom 6. Juli 2004 die Schuld des B. hinsichtlich mehrerer begangener Delikte festgestellt und die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt (§ 27 JGG). Am 23. März 2006 verhängte das Amtsgericht - Jugendrichter - Düsseldorf gegen den B. wegen zweier Straftaten eine Jugendstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. In dieser Entscheidung wird das Urteil des Amtsgerichts Trier vom 6. Juli 2004 in der Vorgeschichte erwähnt; bei der Begründung der Rechtsfolgenentscheidung kommt das Amtsgericht Düsseldorf auf dieses Urteil aber nicht mehr zurück.

Das Amtsgericht Trier ist der Auffassung, es stehe eine Nachtragsentscheidung nach § 66 JGG an, die durch das Amtsgericht Düsseldorf zu erfolgen habe. Dieses Amtsgericht vertritt die Rechtsansicht, das Amtsgericht Trier habe - jedenfalls zunächst - gemäß § 30 Abs. 1 JGG i.V.m. § 62 JGG darüber zu befinden, ob gegen den Verurteilten Jugendstrafe zu verhängen ist.

II.

Der Bundesgerichtshof ist als das gemeinschaftliche obere Gericht zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreites berufen (§ 2 JGG i.V.m. § 14 StPO).

Zuständig ist gemäß §§ 30, 62 JGG das Amtsgericht - Jugendrichter - Trier, § 66 Abs. 1 JGG findet keine Anwendung.

III.

Eine nachträgliche Entscheidung gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 JGG zur Ergänzung rechtskräftiger Entscheidungen bei mehrfacher Verurteilung ist dann nicht zulässig, wenn der Richter nach § 31 Abs. 3 JGG von der Einbeziehung rechtskräftig abgeurteilter Straftaten abgesehen hatte (§ 66 Abs. 1 Satz 2 JGG). Die Sperrwirkung des § 66 Abs. 1 Satz 2 JGG tritt jedoch nur ein, wenn der Richter in früheren Entscheidungen ausdrücklich aus erzieherischen Gründen auf die Einbeziehung der rechtskräftig abgeurteilten Straftaten verzichtet hat (vgl. u. a. Diemer/Schoreit/Sonnen JGG 4. Aufl. Rdn. 5 zu § 66, Brunner/Dölling JGG 11. Aufl. Rdn. 2 zu § 66; Ostendorf JGG 6. Aufl. Rdn. 4 zu § 66). Diese Ausnahmeregelung hat ihre Berechtigung darin, dass eine - von der Ermessensentscheidung des erkennenden Richters nach § 31 Abs. 3 JGG abweichende - Ermessensentscheidung des für das nachträgliche Verfahren zuständigen Richters erzieherisch nicht zu rechtfertigen wäre. Diesem Zweck entsprechend tritt die Sperrwirkung des § 66 Abs. 1 Satz 2 JGG nur ein, wenn der Richter in der früheren Entscheidung aus erzieherischen Gründen auf die Einbeziehung der rechtskräftig abgeurteilten Straftaten verzichtet hat, nicht dagegen, wenn nach den Urteilsgründen nicht auszuschließen ist, dass die Möglichkeit der einheitlichen Festsetzungen einer Rechtsfolge nur übersehen worden ist (Eisenberg JGG 11. Aufl. Rdn. 18 zu § 66 m.w.N.).

Im Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 23. März 2006 wird zwar das Urteil des Amtsgerichts Trier vom 6. Juli 2004 mitgeteilt, eine ausdrückliche Entscheidung gemäß § 31 Abs. 3 JGG hat der Jugendrichter jedoch nicht getroffen. Die Sperrwirkung des § 66 Abs. 1 Satz 2 JGG tritt daher nicht ein. Zwar hätte das Amtsgericht - Jugendrichter - Düsseldorf gemäß § 31 Abs. 2 JGG die Entscheidung des Amtsgerichts - Jugendrichter - Trier einbeziehen können. Hat es dies aber versäumt, so ist für diese Frage grundsätzlich wieder der sachnähere Richter gemäß §§ 30, 62 JGG zuständig, der seinerseits die spätere Entscheidung einbeziehen kann.

IV.

§ 66 Abs. 1 JGG findet auf Entscheidungen nach § 27 JGG keine Anwendung.

Die Frage, ob die Schuldfeststellung im Rahmen von § 27 JGG als eine im Sinne von § 66 Abs. 1 Satz 1 JGG noch nicht vollständig erledigte Entscheidung angesehen werden kann, ist allerdings umstritten (vgl. Eisenberg aaO Rdn. 22 zu § 66). Nach überwiegender Ansicht im Schrifttum kann auch eine Schuldfeststellung nach § 27 JGG in die nachträgliche einheitliche Entscheidung einbezogen werden (vgl. u. a. Diemer/Schoreit/Sonnen aaO Rdn. 8 zu § 66; Brunner/Dölling aaO Rdn. 2 und 3 zu § 66; Ostendorf aaO Rdn. 7 zu § 66). Zur Begründung wird darauf abgestellt, dass ansonsten zwei richterliche Entscheidungen erforderlich seien, zunächst jene nach § 30 JGG durch den Richter, der die Entscheidung nach § 27 JGG getroffen hatte, sodann die Nachtragsentscheidung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 JGG durch den nach § 66 Abs. 2 JGG zuständigen Richter. Dies verstoße gegen prozessökonomische Grundsätze.

Dieser Ansicht folgt der Senat jedoch nicht; zuständig ist vielmehr gemäß §§ 30, 62 JGG der Richter, der die Entscheidung über die Verhängung der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt hat. Für diese Lösung gibt es gewichtige Gründe:

1. Schon der Wortlaut des § 66 JGG spricht gegen eine Einbeziehung der Fälle des § 27 JGG in die Nachtragsentscheidung. Während in § 31 Abs. 2 Satz 1 JGG ausdrücklich die rechtskräftige Schuldfeststellung aufgeführt wird, ist in § 66 Abs. 1 Satz 1 JGG nur von Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und Strafen die Rede; die Feststellung der Schuld nach § 27 JGG wird nicht erwähnt.

2. Die Entscheidung nach § 30 Abs. 1 JGG über die Verhängung der Jugendstrafe ergeht gemäß § 62 Abs. 1 JGG zwingend aufgrund einer Hauptverhandlung durch Urteil. § 66 Abs. 2 JGG hingegen sieht nur fakultativ eine Hauptverhandlung vor. Der Betroffene würde daher bei Zusammenfassung einer Schuldfeststellung mit einer anderen rechtskräftigen Entscheidung bei einer Nachtragsentscheidung gemäß § 66 JGG schlechter gestellt, weil ihm für den Fall der Verhängung einer Jugendstrafe nach § 30 JGG eine obligatorische Hauptverhandlung zusteht (so zutreffend Eisenberg aaO Rdn. 22 zu § 66; Dallinger/Lackner JGG 2. Aufl. Rdn. 8 zu § 66). Dies kann nicht dadurch ausgeglichen werden, dass man - gegen den Gesetzeswortlaut des § 66 Abs. 2 Satz 1 JGG - eine "Bindung des Ermessens für die Durchführung einer Hauptverhandlung" annimmt (so aber Ostendorf aaO Rdn. 7 zu § 66 JGG).

3. Das Argument, Gründe der Prozessökonomie sprächen dafür, die Entscheidung nach § 30 JGG im Rahmen der Nachtragsentscheidung des § 66 Abs. 1 JGG zu fällen, da ansonsten zwei Richter zur Entscheidung erforderlich seien, trifft nicht zu, da auch bei einer Zuständigkeit nach §§ 30, 62 JGG nur eine Entscheidung ergeht.

Bei Zusammentreffen einer Schuldfeststellung (§ 27 JGG) und einer anderen rechtskräftigen Entscheidung hat der im Verfahren nach §§ 30, 62 JGG zuständige Richter zu prüfen, ob die Voraussetzungen für den Ausspruch einer Jugendstrafe vorliegen. Bejahendenfalls wird er Hauptverhandlung anberaumen, wobei er seinerseits die andere rechtskräftige Entscheidung nach § 31 Abs. 2 JGG in seine Entscheidung einbeziehen oder hiervon absehen kann (Eisenberg aaO Rdn. 22 zu § 66, Dallinger/Lackner aaO Rdn. 8 zu § 66). Auch in diesem Fall ist daher nur eine Entscheidung erforderlich.

4. Für die Zuständigkeit des Richters gemäß §§ 30, 62 JGG spricht auch seine größere Sachnähe für die Beurteilung der Frage, ob und welche Jugendstrafe zu verhängen ist. Gemäß § 30 Abs. 1 JGG hat er auf die Strafe zu erkennen, die er im Zeitpunkt des Schuldspruchs bei sicherer Beurteilung der schädlichen Neigungen des Jugendlichen ausgesprochen hätte. Dies kann er selbst am besten beurteilen. Zur Wahrung der Einheit zwischen Schuld- und Strafspruchrichter ist daher der Richter des Schuldspruchs nach wie vor zum Erlass der Entscheidung gemäß § 30 Abs. 1 JGG berufen (vgl. auch Potrykus Recht der Jugend 1956 S. 209, 211).

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 16

Externe Fundstellen: BGHSt 51, 136; NJW 2007, 447; NStZ 2008, 693; StV 2008, 116

Bearbeiter: Ulf Buermeyer