hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 14

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 475/06, Beschluss v. 01.12.2006, HRRS 2007 Nr. 14


BGH 2 StR 475/06 - Beschluss vom 1. Dezember 2006 (LG Trier)

Nachträgliche Sicherungsverwahrung (neue Tatsache; Hang; Gewaltphantasien im Vollzug: Ernsthaftigkeit); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 66b StGB; § 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Neue Tatsachen im Sinne von § 66b Abs. 1 StGB können auch innere Tatsachen, also Umstände und Veränderungen in der Persönlichkeit, der psychischen Stabilität, der Lebensplanung oder Motivation des Verurteilten sein.

2. Die Maßregel des § 66b StGB ist eine auf Ausnahmefälle zu beschränkende Maßnahme. Sie dient nicht dazu, unklare Gefährdungslagen "vorsorglich" abzuwenden.

3. Eine Umgehung der Grenzen des § 63 StGB auf dem Weg über die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung ist nicht zulässig. Eine "nachträgliche" Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kennt das Gesetz nicht; dies darf nicht dadurch umgangen werden, dass die psychische Störung eines Verurteilten ohne Weiteres in einen Hang im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB umgedeutet wird.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Trier vom 28. Juni 2006 aufgehoben. Der Antrag auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens einschließlich der Rechtsmittelkosten und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.

Die Entscheidung über die Entschädigung des Verurteilten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.

Der Unterbringungsbefehl des Landgerichts Trier vom 14. November 2005 wird aufgehoben. Der Verurteilte ist in dieser Sache sofort auf freien Fuß zu setzen.

Gründe

Das Landgericht hat gegen den Verurteilten die nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 1 und 2 StGB angeordnet. Seine Revision führt mit der Sachrüge zur Aufhebung dieser Entscheidung und zur Zurückweisung des Antrags der Staatsanwaltschaft.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der Verurteilte im Jahr 2002 wegen schweren Raubs in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dem lag zugrunde, dass der Verurteilte im März und Mai 2001 zwei Postfilialen überfallen und unter Verwendung einer ungeladenen Schreckschusspistole Bargeldbeträge und Postwertzeichen im Gesamtwert von ca. 48.000 DM geraubt hatte. Motiv für diese Taten waren wirtschaftliche Schwierigkeiten des Verurteilten, der sich mit einem Transportunternehmen selbständig gemacht hatte, nachdem er wegen psychischer Instabilität und depressiver Verstimmungen seine zuvor betriebene Ausbildung als Kommissaranwärter im Polizeidienst abbrechen musste. Mit dem erbeuteten Geld zahlte er Bankschulden zurück.

Die wegen der genannten Taten verhängten Einzelfreiheitsstrafen betrugen jeweils drei Jahre. Eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit hat das sachverständig beratene Ausgangsgericht nicht festgestellt. Nach seinen Feststellungen handelt es sich bei dem Verurteilten allerdings um "eine deutlich gestörte Persönlichkeit mit Schwierigkeiten bei der Selbstwertregulation"; zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Person sei er nicht in der Lage. Kritisches Infragestellen führe zu schneller Gekränktheit und Rückzug. Er weise eine emotional instabile Persönlichkeitsstruktur auf; Größenideen mit Selbstüberschätzung wechselten mit depressiven Phasen; die Ursachen für Misserfolg suche der Verurteilte regelmäßig (allein) bei Dritten.

a) Strafende der zu verbüßenden Strafe war am 25. November 2005; seither war der Verurteilte durch Unterbringungsbefehl des Landgerichts gemäß § 275a Abs. 5 Satz 1 StPO untergebracht. Während des Vollzugs der Strafhaft kam es lediglich einmal zu einer - vollzugstypischen - Auseinandersetzung mit einem Mithäftling, die mit einem "Geschubse" endete und zu einer Disziplinarmaßnahme gegen den Verurteilten führte.

Der Verurteilte fühlte sich während der Haft ungerecht behandelt und "diskriminiert", mit zunehmender Haftdauer überdies psychisch instabil. Er bemühte sich auf verschiedene Weise um die Aufnahme in eine Psychotherapie, war hiermit jedoch im Ergebnis nicht erfolgreich. Einer externen Drogenberaterin teilte er (wahrheitswidrig) mit, er sei seit Jahren Konsument harter Drogen. Einer konsiliarisch in der JVA tätigen Psychiaterin offenbarte er, er höre zeitweise "leises Gemurmel"; eine Bestätigung einer paranoid schizophrenen Erkrankung hat sich jedoch nicht ergeben.

b) Im März 2003 verfasste der Verurteilte daraufhin im Zeitraum von mehreren Stunden in unmittelbarem Fortgang insgesamt sechs Briefe, die nicht datiert oder auf den 15. November 2005 (10 Tage vor Strafende) vordatiert waren. Er bewahrte sie danach in seinem unverschlossenen Spind im Haftraum auf; dort wurden sie am 29. März 2004 aufgefunden und beschlagnahmt.

Zu den - weitgehend identisch formulierten - Briefen an die Redaktionen der Zeitschriften Sp., St. und F. sowie einem Brief an die Kriminalinspektorin W. "offenbarte" der Verurteilte unter anderem, er sei seit seiner Jugend "ein psychisch geistesgestörter Sexualstraftäter" mit "brutalsten Tendenzen". Durch exzessiven Konsum von "Internetpornos" sei er zu einem äußerst gefährlichen Gewalttäter geworden, der bereits zahllose - unentdeckte - Gewaltdelikte, insbesondere Morde, Vergewaltigungen, schwere Körperverletzungen und exhibitionistische Taten begangen habe. Tatsächlich habe er seit dem Jahr 2000 sämtliche Gewaltdelikte in Süddeutschland begangen, die von der Polizei in der Vergangenheit nicht hätten aufgeklärt werden können.

Er sei "total krank im Kopf und gehöre für immer weggesperrt"; er sei "der Horror", "gruselig", "Deutschlands Antwort auf Hannibal Lecter", der "größte deutsche Gewaltstraftäter aller Zeiten". Er leide unter fünf verschiedenen Geisteskrankheiten und sei eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

Nach seiner - zu befürchtenden - Entlassung werde er sich nach Schweden begeben. Dorthin werde er von einem Sondereinsatzkommando der deutschen Polizei verfolgt werden. Dessen Angehörige werde er dann allesamt kaltblütig ermorden, denn er sei "der allergrößte Gewaltverbrecher des 21. Jahrhunderts".

Einem der Briefe fügte der Verurteilte eine "Liste des Grauens" bei, in welcher er eine Vielzahl angeblich von ihm begangener Straftaten aufführte.

An seine Tante schrieb er einen ähnlichen Brief, in welchem er ausführte: "Es wäre am besten, für immer in der geschlossenen Psychiatrie zu bleiben". Wenn man ihm nicht glaube, sei er nicht verantwortlich für das, was dann passiere; dies hätten dann die Ärzte und Behörden zu verantworten.

Zweí ähnliche Briefe schickte der Verurteilte an seinen Vater und seine Großmutter ab; sie wurden im Rahmen der Postkontrolle angehalten. Darin führte er aus, noch könne ein nie dagewesenes Massaker verhindert werden, wenn er "ordentlich" therapiert werde. Die Schuld daran, dass er geisteskrank geworden sei, trage allein seine Mutter, denn diese habe ihn grausam gedemütigt und erpresst.

c) Die Staatsanwaltschaft leitete nach dem Auffinden der Briefe gegen den Verurteilten Ermittlungsverfahren wegen der (angeblichen) zurückliegenden Straftaten sowie wegen Bedrohung unbekannter Polizeibeamter mit zukünftigen Verbrechen ein. Die Verfahren wurden, da sich Anhaltspunkte für die Verwirklichung dieser Taten nicht ergaben, gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Am 1. April 2005 hat die Staatsanwaltschaft beantragt, gegen den Verurteilten im Hinblick auf die in den genannten Schreiben neu zutage getretenen Tatsachen die nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuordnen. Das Landgericht beauftragte am 17. August 2005 gemäß § 275a Abs. 4 Satz 2 StPO zwei Sachverständige mit der Erstattung von Gutachten; am 14. November 2005 erließ es einen Unterbringungsbefehl gemäß § 275 a Abs. 5 Satz 1 StPO. Die Hauptverhandlung begann am 5. April 2006 und endete mit der Urteilsverkündung am 28. Juni 2006.

d) Das Landgericht hat als neue Tatsachen im Sinne von § 66b Abs. 1 StGB "die Gewaltgedanken des Verurteilten (bezeichnet), die er - nach außen hin erkennbar - konkret und wiederholt in seinen Briefen zum Ausdruck gebracht hat" (UA S. 64); darüber hinaus auch die "Warnungen vor sich selbst" (UA S. 66). Die "von Gewaltphantasien schlimmster Art geprägte Gedankenwelt" des Verurteilten sei neu im Sinne von § 66b StGB. Zwar sei dem Ausgangsgericht die Persönlichkeitsstörung des Verurteilten bekannt gewesen. Diese habe danach aber noch keinen "Krankheitswert" gehabt. Anhaltspunkte für Gewaltphantasien hätten sich nach dem damals eingeholten Sachverständigengutachten nicht ergeben; auch frühere Freundinnen des Verurteilten hätten irgendwelche Gewalttendenzen in seinem Verhalten übereinstimmend verneint.

Nunmehr habe sich aber eine "qualitative Verschlechterung der damals bereits vorliegenden narzisstischen Persönlichkeitsstörung" ergeben (UA S. 69). Der Verurteilte leide einerseits unter "Größenwahn", andererseits an Selbstzweifeln. Er habe immer "nach oben" gewollt; dafür spreche auch sein Eintritt in den Polizeidienst. Er suche die Ursachen für die Niederlagen seines Lebens in einer psychischen Erkrankung und zeige Kennzeichen einer sogenannten "narzisstischen Wut"; seine Briefe seien als die "narzisstischen Rachephantasien eines Verlierers" (UA S. 71 f.) anzusehen.

Der Verurteilte hat sich dahin eingelassen, er habe die Briefe geschrieben, um "seinen Frust abzubauen", weil er sich ungerecht behandelt gefühlt habe. Es sei zwar nicht alles, was in den Briefen stehe, "Quatsch"; es habe sich aber nicht um ein "Geständnis" gehandelt und er habe sich auch nichts "von der Seele reden" wollen. Man habe versucht, ihn zu diskriminieren. Er habe vor sich selbst gewarnt, um Resozialisierung und Therapie zu bekommen; er brauche Behandlung. Aufgrund seiner Labilität und Therapiebedürftigkeit könne es heute eher als früher zu irrationalen Handlungen, nämlich Körperverletzungen oder Bedrohungen kommen, wenn er sich unter Druck gesetzt fühle.

e) Das Landgericht hat die Angaben zur Motivation als glaubhaft angesehen; die Einlassung, seit 2003 keine entsprechenden Gedanken mehr gehabt zu haben, hat es dagegen für unglaubhaft gehalten, ebenso die Versicherung des Verurteilten, er würde nichts tatsächlich ausführen, was in den Briefen steht (UA S. 73).

Nach Ansicht des Landgerichts stehen die Gewaltgedanken und Drohungen in symptomatischem Zusammenhang mit den Anlasstaten, denn sie seien Ausdruck der Persönlichkeitsstörung, die bereits zum Zeitpunkt der früheren Taten vorgelegen habe. Dass der Verurteilte die früheren Taten in seine Briefe "eingebaut" habe, zeige, "dass aus seiner Sicht die Anlasstaten wie ein Mosaikstein auf dem Weg zu seiner Entwicklung zum 'größten deutschen Gewaltverbrecher des Jahrhunderts' sind" (UA S. 75). Auch dem Tatbestand des schweren Raubs sei überdies die Gewalt immanent.

Das Landgericht hat - in Übereinstimmung mit den Sachverständigen - angenommen, es liege bei dem Verurteilten ein Hang im Sinne von § 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB vor, denn seine Gewaltphantasien seien der motivationalen Grundstruktur zuzuordnen und daher "eine eingewurzelte Neigung" (UA S. 77).

Die Briefe stünden in Widerspruch zur guten Intelligenz des Verurteilten; dies zeige, dass ihm eine Kontrolle seiner narzisstischen Wut nicht möglich sei.

Zur Prognose hat das Landgericht - nach den Urteilsgründen ebenfalls im Anschluss an die beiden Sachverständigen - ausgeführt, es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Verurteilte die in seinen Briefen angekündigten Gewalttaten begehen werde. Die Sachverständigen hätten dargelegt, dass zwischen konkretisierter und imaginierter Gewalt ein kategorialer Unterschied nicht bestehe (UA S. 79); für den Umschlag in die Konkretisierung bedürfe es daher lediglich eines geringfügigen Anlasses. Für die Ernsthaftigkeit der Drohungen spreche, dass der Verurteilte sie "über verschiedene Briefe hinweg immer wiederholt" habe (ebd.). Dass der Verurteilte die beiden Anlasstaten in seinen Briefen erwähnt habe, zeige, dass in seiner Gedankenwelt eine Trennung zwischen Phantasie und konkretisierter (wohl gemeint: realer) Handlung nicht möglich sei (UA S. 80).

Das Landgericht hat ausgeführt, angesichts der Schwere der zu erwartenden Taten sei die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auch verhältnismäßig. Allerdings sei der Verurteilte vor allem "dringend behandlungsbedürftig"; es müssten eine psychiatrische Fachbehandlung sowie eine langwierige psychotherapeutische Behandlung erfolgen (UA S. 81). "Angesichts des Krankheitsbildes" des Verurteilten empfehle sich daher die alsbaldige Überweisung gemäß § 67a Abs. 2 StGB in den Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

2. Diese Feststellungen und Erwägungen tragen die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht.

a) Schon die Neuheit von für die Gefährlichkeit des Verurteilten indiziellen Tatsachen und ihr - nach Ansicht des Landgerichts - symptomatischer Zusammenhang mit den Anlasstaten sind unklar und nicht ohne Widersprüche dargelegt. So lässt sich die Ausführung, zum Zeitpunkt des früheren Urteils sei die Neigung des Verurteilten zu Gewalttaten nicht erkennbar gewesen, nicht ohne weiteres mit der Darlegung vereinbaren, den Anlasstaten (nach § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB) sei Gewalt oder Drohung mit Gewalt "immanent"; die Gewaltphantasien seien Ausdruck eben der Persönlichkeitsstörung, die im Ausgangsverfahren festgestellt wurde, und in der Ausführung der Anlasstaten liege "die Wurzel" dieser Persönlichkeitsstörung (UA S. 75 f.). Letztlich wird aus den Urteilsgründen nicht gänzlich klar, ob das Landgericht die neuen Tatsachen in der "Verschlechterung der Persönlichkeitsstörung" (UA S. 76) oder in den "Gewaltgedanken" (UA S. 74) gesehen hat.

b) Neue Tatsachen im Sinne von § 66b Abs. 1 StGB können auch innere Tatsachen, also Umstände und Veränderungen in der Persönlichkeit, der psychischen Stabilität, der Lebensplanung oder Motivation des Verurteilten sein. Daher war es grundsätzlich zulässig, die sichergestellten Briefe des Verurteilten als Indizien für solche Tatsachen zu verwerten, welche ihrerseits auf die von § 66b StGB vorausgesetzte besondere Gefährlichkeit hindeuten könnten. Angesichts des Umstands, dass es sich bei den Briefen um die insoweit einzigen Beweismittel handelte, und angesichts der auffälligen Besonderheiten des Falles musste sich das Landgericht mit den Auslegungs- und Deutungsmöglichkeiten dieser Indizien aber umfassend und erschöpfend auseinandersetzen. Hieran fehlt es im angefochtenen Urteil. Die rechtliche Prüfung der Urteilsausführungen ergibt, dass das Landgericht bei der Würdigung der Beweisergebnisse teilweise einem einseitig verengten Blickwinkel gefolgt ist und wesentliche Anhaltspunkte für eine abweichende Würdigung nicht hinreichend beachtet hat.

Zur Frage der Motivation des Verurteilten hat das Landgericht dessen Einlassung als glaubhaft angesehen, er habe die Briefe "aus Frust" geschrieben; abgegrenzt hat es dieses Motiv von einer "schriftstellerischen Tätigkeit" und dem Motiv der "Prahlerei in der JVA". Damit sind die Möglichkeiten der Einordnung jedoch nicht ausgeschöpft. Das Landgericht hat insbesondere einen Zusammenhang zwischen dem vielfältigem Bemühen des Verurteilten, eine psychotherapeutische Behandlung zu erlangen, einschließlich seines hierbei hervorgetretenen Manipulationsverhaltens, und dem Inhalt der sichergestellten Briefe nicht erkennbar geprüft. Den erwiesenermaßen falschen und teilweise bis zur Lächerlichkeit übertriebenen Briefinhalt - etwa die Selbstbezichtigung, sämtliche unaufgeklärten Gewaltdelikte in Süddeutschland begangen zu haben - hat es allein dahin gewürdigt, aus dem Widerspruch zur guten Intelligenz des Verurteilten ergebe sich, dass ihm "eine Kontrolle über die ... narzisstische Wut nicht möglich" sei (UA S. 78). Nach den übrigen Feststellungen des Urteils drängt sich aber auf, dass es andere, wohl näher liegende Erklärungsmöglichkeiten dieses Widerspruchs gab. Das lag schon deshalb auf der Hand, weil es weder in der Vergangenheit im Verhalten des Verurteilten gegenüber anderen Personen zu "Kontrollverlusten" gekommen ist noch der Verurteilte die "Kontrolle" über seine schriftlichen Offenbarungen im März 2003 verlor. Selbst wenn er, wie die teilweise Vordatierung der Briefe vermuten lässt, jedenfalls zunächst beabsichtigte, die restlichen Schreiben erst kurz vor seiner zu erwartenden Haftentlassung Ende 2005 abzusenden, würde eine solche über Jahre hinweg geplante und ohne äußere Auffälligkeit im Vollzugsalltag umgesetzte Manipulation zur Erreichung eines - wie auch immer zu beurteilenden - Ziels eher das Gegenteil eines "Kontrollverlusts" belegen.

Da der Verurteilte weder an einer Wahnerkrankung leidet noch gravierende Mängel der kognitiven Intelligenz aufweist, liegt es eher fern anzunehmen, er könne beim Schreiben der Briefe ernstlich vermutet oder angestrebt haben, dass die darin enthaltenen "Geständnisse", Selbstbeschreibungen oder Ankündigungen in dem Sinne ernst genommen würden, dass man sie als Wiedergabe wahrer Tatsachen ansehen könnte. Es musste daher jedenfalls auch die nahe liegende Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass der Verurteilte mit dem offenkundig unzutreffenden Geständnis angeblicher monströser Untaten in der Vergangenheit sowie der erkennbar abwegigen Ankündigung eines "Blutbads" aus einem fiktiven zukünftigen Anlass, dessen Eintritt gänzlich fern liegt, seine Behauptung belegen wollte, er sei "geisteskrank", jedenfalls aber dringend therapiebedürftig. Auch wenn eine solche Selbstdarstellung sowie eine Flucht in die Rolle eines für sein Verhalten nicht verantwortlichen, zu "heilenden" Geisteskranken Ausdruck der bei dem Verurteilten festgestellten Persönlichkeitsstörung sein mögen, müssten entsprechende Feststellungen doch zu anderen Bewertungen bei der Frage des Hangs und der Prognose führen. Das angefochtene Urteil verhält sich hierzu nicht; es teilt auch nicht mit, ob die Sachverständigen dazu Stellung genommen haben.

c) Nicht rechtsfehlerfrei sind auch die Darlegungen des Landgerichts zum Verhältnis von Fantasie und Realität in Persönlichkeit und Verhalten des Verurteilten. Hierbei wäre zunächst der wichtige Umstand zu berücksichtigen gewesen, dass sich weder in dessen Biographie bis zu den Anlasstaten noch bei deren Ausführung noch im Vollzug der Strafhaft Anhaltspunkte für eine "unkontrollierte" Neigung zur Gewalt oder dafür ergeben haben, dass der Verurteilte jemals Taten wie die in den Briefen geschilderten begangen oder ernstlich geplant haben könnte. Dass der Verurteilte sich seit dem Schreiben der Briefe weitere dreieinhalb Jahre in Haft befand und daher nicht im gleichen Maß Gelegenheit zur Begehung von Straftaten hatte, spricht im Hinblick auf die Besonderheiten des Falles nicht gegen die Indizwirkung des Umstands, dass es in dieser Zeit nicht zu Gewalttaten gekommen ist. Wenn es dem Verurteilten darum gegangen wäre, durch tatsächliche Ausführung von Gewalttaten seinen Charakter als hochgefährlicher, unkontrollierbarer Geisteskranker zu "beweisen", hätte es mehr als nahe gelegen, dies bereits während des Vollzugs der Haft zu tun. Da es in diesem Fall auf die Vermeidung eines Entdeckungsrisikos nicht angekommen wäre, hätte sich das Landgericht damit auseinander setzen müssen, wieso die angebliche, jedenfalls ab März 2003 "unkontrollierbare" Gewaltneigung des Verurteilten während mehrerer Jahre keinerlei äußeren Ausdruck gefunden hat.

Fehlerhaft ist auch die Würdigung des Landgerichts, die Ernsthaftigkeit der Drohungen des Verurteilten ergebe sich schon daraus, dass er diese "über verschiedene Briefe hinweg immer wieder wiederholt" habe (UA S. 79). Das lässt außer Acht, dass diese Briefe alle an einem Nachmittag im März 2003 geschrieben worden sind und über weite Strecken textidentisch waren. Wenn der Verurteilte mehrere Zeitschriften und sonstige Stellen über seine angebliche Leidens- und Tatgeschichte informieren wollte, blieb ihm, da ihm ein Kopiergerät in der Haft nicht zur Verfügung stand, nur der Weg des handschriftlichen Abschreibens. Ein Indiz für einen besonderen psychischen Tatdruck ergibt sich hieraus gerade nicht.

Rechtsfehlerhaft ist insoweit schließlich auch, dass das Landgericht einen unmittelbaren symptomatischen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstörung, Anlasstaten und den "Gewaltgedanken" als neue Tatsachen herstellt. Dies daraus abzuleiten, dass der Verurteilte die beiden Raubüberfälle in seinen Briefen erwähnte, und hieraus zu schließen, sie seien "Mosaiksteine auf seinem Weg zu seiner Entwicklung zum größten deutschen Gewaltverbrecher des Jahrhunderts" (UA S. 75), wird von den Feststellungen nicht getragen, denn zum einen lag den Anlasstaten ein gänzlich anderes Motiv - wirtschaftliche Schwierigkeiten nach Scheitern der Selbstständigkeit - zugrunde; zum anderen hat der Verurteilte bei diesen Taten die Ausübung von Gewalt gerade vermieden.

d) Die Maßregel des § 66b StGB ist nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine auf Ausnahmefälle zu beschränkende Maßnahme (vgl. BGHSt 50, 121, 125; 50, 284, 296; 50, 373, 378). Sie dient nicht dazu, unklare Gefährdungslagen "vorsorglich" abzuwenden. Auch eine Umgehung der Grenzen des § 63 StGB auf dem Weg über die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung ist nicht zulässig.

Eine "nachträgliche" Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kennt das Gesetz nicht; dies darf nicht dadurch umgangen werden, dass die psychische Störung eines Verurteilten ohne Weiteres in einen Hang im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB umgedeutet wird (vgl. auch Senatsbeschluss vom 15. Februar 2006 - 2 StR 4/06, StV 2006, 413). Auch dies hat das Landgericht nicht zutreffend gesehen. Seine Anregung, "alsbald" nach Rechtskraft des Urteils den Verurteilten in den Vollzug der Maßregel nach § 63 StGB zu überweisen, deutet darauf hin, dass es in Wahrheit eher eine nachträgliche Unterbringung nach § 63 StGB anordnen wollte. Hierfür fehlt es an den gesetzlichen Voraussetzungen.

4. Die Maßregelanordnung war daher aufzuheben. Der Senat schließt aus, dass in einer neuen Hauptverhandlung Feststellungen getroffen werden könnten, auf welche eine rechtsfehlerfreie Anordnung gemäß § 66b StGB gestützt werden könnte. Daher war in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO der Antrag der Staatsanwaltschaft zurückzuweisen und der Verurteilte sofort auf freien Fuß zu setzen.

Die Entscheidung über die Entschädigung des Verurteilten wegen der seit dem Ende der Strafhaft erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt wegen der größeren Sachnähe dem Landgericht vorbehalten.

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 14

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2007, 301; StV 2007, 240

Bearbeiter: Ulf Buermeyer