HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 145
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 384/06, Urteil v. 08.11.2006, HRRS 2007 Nr. 145
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 9. Dezember 2005 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse in 360 Fällen und des Betrugs in 391 Fällen (§§ 278, 263, 25 Abs. 2 StGB) freigesprochen. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Frankfurt hatte dem Angeklagten vorgeworfen, für 38 nicht existente Personen insgesamt 360 unrichtige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt zu haben, mit denen der gesondert Verfolgte G. entsprechend einem gemeinsamen Tatplan 391 Ausgleichszahlungen nach § 10 des Lohnfortzahlungsgesetzes erlangt haben soll. Gegen den Freispruch richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
Das Landgericht hat folgendes festgestellt: Der Angeklagte betrieb eine Praxis für Allgemeinmedizin in O. Bei seinen Patienten handelte es sich ganz überwiegend um Arbeitnehmer aus dem früheren Jugoslawien. Die Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen handhabte der Angeklagte großzügig. Üblicherweise unterschrieb er Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen blanko im Behandlungsraum und verwies den Patienten damit an die Rezeption, wo eine seiner Arzthelferinnen das Formular mit den Daten, die der Angeklagte in der Patientendatei vermerkt hatte, ausfüllte. Die verfahrensgegenständlichen 360 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen tragen Ausstellungsdaten zwischen dem 1. November 2001 und dem 2. Dezember 2003 und lauten auf die Namen von 38 verschiedenen Personen. Eine dieser Personen existiert nach Überzeugung des Landgerichts tatsächlich und ist vom Angeklagten untersucht worden. Die Daten aller Krankschreibungen wurden von dem gesondert Verfolgten G. vorgegeben, der die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei verschiedenen Allgemeinen Ortskrankenkassen zur Erstattung nach dem Lohnfortzahlungsgesetz einreichte. Der Angeklagte hatte im Ermittlungsverfahren eingeräumt, dass die Unterschriften von ihm stammen; weitere Angaben zu den Umständen, unter denen er diese Krankschreibungen unterzeichnet hat, hat er weder im Ermittlungsverfahren noch in der Hauptverhandlung gemacht. Das Landgericht hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der Angeklagte aufgrund eines gemeinsamen Tatplans mit G. gehandelt hat. Es sei vielmehr nicht auszuschließen, dass die beiden Arzthelferinnen M. und K. den Angeklagten unter Vorwänden veranlasst haben könnten, vermeintlich berechtigte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen blanko zu unterschreiben, so dass ihm deren Unrichtigkeit bzw. der betrügerische Verwendungszweck nicht bewusst gewesen sei.
Die den Freispruch tragenden Erwägungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Nach § 278 StGB macht sich ein Arzt strafbar, der ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseren Wissens ausstellt. Die Vorschrift soll die Beweiskraft ärztlicher Zeugnisse für Behörden und Versicherungsgesellschaften sichern. Ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausstellt, ist als Beweismittel ebenso wertlos wie ein Zeugnis, das nach Untersuchung den hierbei festgestellten Gesundheitszustand unrichtig darstellt (BGHSt 6, 90, 92; RGSt 74, 229, 231). Ob dies auch dann gilt, wenn der Arzt eine Folgebescheinigung ausstellt, nachdem er den Patienten vor der Ausstellung der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung untersucht hat, kann hier dahinstehen, weil es im vorliegenden Verfahren nicht um diese Fälle geht, sondern um Fälle, in denen nie eine Untersuchung stattgefunden haben soll.
Das Landgericht ist rechtlich zutreffend davon ausgegangen, dass das Ausstellen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne ärztliche Untersuchung den Tatbestand des § 278 StGB in objektiver und subjektiver Hinsicht verwirklicht (UA S. 27). Es hat seine Überzeugung geäußert, dass der Angeklagte auch ohne persönliche Vorsprache des Patienten auf telefonische Anforderung und damit wissentlich unrichtige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt hat (UA S. 26). Es hat den Angeklagten dennoch aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse in den angeklagten Fällen freigesprochen, weil in keinem dieser angeklagten 360 Einzelfälle mehr festzustellen sei, unter welchem konkreten Vorwand die Arzthelferinnen die Blankounterschrift des Angeklagten erlangt hätten. Es komme neben dem Vorwand, dass ein Patient telefonisch eine Krankschreibung erbeten habe, eine Vielzahl von Begründungen in Betracht, aufgrund derer der Angeklagte geglaubt haben könne, dass die Ausstellung sachlich berechtigt sei, etwa wenn ihm gesagt worden sei, dass ein Patient seine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verloren habe oder wegen eines Eingabefehlers oder der Beschädigung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine neue Bescheinigung ausgestellt werden müsse.
a) Dem kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil das Landgericht selbst zur Begründung seiner Entschädigungsentscheidung, mit der eine Entschädigung des Angeklagten nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen abgelehnt worden ist, dargelegt hat, dass der Angeklagte in nicht unerheblichem Umfang wissentlich unrichtige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erstellt hat, indem er Blankounterschriften für angeblich telefonisch erforderte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen geleistet hat. Da dies für die Arzthelferinnen der bequemste Weg gewesen sei, sei hiervon reichlich Gebrauch gemacht worden (UA S. 28). Damit ist die Annahme des Landgerichts, es käme eine Vielzahl von Möglichkeiten in Betracht, aufgrund derer der Angeklagte geglaubt haben konnte, dass die Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sachlich gerechtfertigt sei, nicht ohne weiteres zu vereinbaren.
b) Die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils ist jedoch auch deshalb nicht frei von rechtlichen Bedenken, weil die Urteilsgründe schon nicht erkennen lassen, ob die 38 Personen, für die die verfahrensgegenständlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt wurden, tatsächlich existieren oder nicht. Das Landgericht hat nur hinsichtlich des N. G. festgestellt, dass es diesen Patienten tatsächlich gebe. Die Urteilsgründe teilen ferner nicht mit, welche Erklärung der Zeuge Dr. R., der Praxisvertreter des Angeklagten, der ebenfalls für einige dieser 38 Personen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen unterzeichnet hat, hierfür gegeben hat, ob er die Patienten untersucht hat oder ob er lediglich Blankounterschriften auf Anforderung der Arzthelferinnen geleistet hat. Von Bedeutung wäre insoweit, ob Dr. R. tatsächlich mit Begründungen, die das Landgericht als möglich für vermeintlich berechtigte Blanko-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen angesehen hat (UA S. 16/17), zum Unterschreiben von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aufgefordert worden ist. Das Argument des Landgerichts, dass die abgerechneten ärztlichen Leistungen angesichts der geringen Höhe der Vergütung kein hinreichendes Motiv des Angeklagten für ein strafbares Verhalten ergäben, steht im Widerspruch zu seiner Feststellung, dass der Angeklagte generell bereit war, auf telefonische Anforderung Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auszustellen, wofür das Motiv auch die ärztliche Vergütung gewesen sein dürfte. Schließlich trifft auch die Erwägung des Landgerichts nicht zu, dass umgerechnet auf den angeklagten Tatzeitraum die Arzthelferinnen nicht einmal eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung pro Arbeitstag vom Angeklagten hätten erschleichen müssen. Wie der Vertreter der Bundesanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat, sind von den verfahrensgegenständlichen 360 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen allein 302 in dem nur etwas mehr als zehn Monate währenden Zeitraum vom 27. Januar bis zum 2. Dezember 2003 ausgestellt worden.
c) Das Landgericht verkennt zudem die Anforderungen, welche die Rechtsprechung an die Feststellung des Schuldumfangs bei Serienstraftaten stellt. Steht ein strafbares Verhalten des Täters fest, kann es lediglich nicht bestimmten Einzelakten zugeordnet werden, kann die Bestimmung des Schuldumfanges, dass heißt die Bestimmung der Zahl der Einzelakte strafbaren Verhaltens, im Wege der Schätzung erfolgen (BGHR StGB vor § 1/Serienstraftaten Betrug 1; Steuerhinterziehung 2). Bei der Feststellung der Zahl der Einzelakte ist der Grundsatz in dubio pro reo zu beachten. Ein solches Verfahren ist stets zulässig, wenn sich Feststellungen auf andere Weise nicht treffen lassen. Jede andere Betrachtung, die von einer eingeengten, jeden Einzelfall isoliert beurteilenden Sichtweise ausgeht, würde zum Ausschluss der Strafbarkeit bei zweifellos strafbarem Gesamtverhalten führen, wie der vorliegende Fall zeigt. Dass sich für eine Schätzung keine ausreichend sicheren Grundlagen gewinnen ließen, ist dem Urteil nicht zu entnehmen.
2. Der vorstehend aufgezeigte Rechtsfehler führt auch zur Aufhebung des Freispruchs vom Vorwurf des gemeinschaftlichen Betruges. Selbst wenn der Angeklagte nicht aufgrund einer Absprache mit dem gesondert Verfolgten G. zusammengewirkt haben sollte, hätte sich das Landgericht mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob er bei der wissentlichen Ausstellung falscher Gesundheitszeugnisse mit bedingtem Vorsatz hinsichtlich einer möglichen betrügerischen Verwendung derselben gehandelt hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 145
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2007, 343
Bearbeiter: Ulf Buermeyer