hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 551

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 21/05, Beschluss v. 07.06.2005, HRRS 2005 Nr. 551


BGH 2 StR 21/05 - Beschluss vom 7. Juni 2005 (LG Wiesbaden)

BGHSt 50, 133; Kammerbesetzung (ordentlicher Sitzungstag; außerordentlicher Sitzungstag; freier Sitzungstag; Hilfsschöffen); gesetzlicher Richter (willkürliche, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbare Entziehung).

§ 338 Nr. 1 StPO; § 45 GVG; § 47 GVG; § 77 Abs. 1 GVG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

Leitsätze

1. Wird eine Strafsache auf einen Tag zwischen zwei ordentlichen Sitzungstagen terminiert, die zu diesem Zeitpunkt bereits mit Fortsetzungsverhandlungen in anderen Sachen belegt waren, so handelt es sich nicht um eine ordentliche Sitzung, bei der der Sitzungstag lediglich nach vorn oder nach hinten verlegt worden ist, sondern um eine außerordentliche Sitzung, für die Hilfsschöffen heranzuziehen sind. (BGHSt)

2. Da bei einer außerordentlichen Sitzung nicht mit den für bestimmte Sitzungstage ausgelosten Schöffen, sondern mit Hilfsschöffen zu verhandeln ist, berührt die im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden stehende Terminierung einer außerordentlichen Sitzung den gesetzlichen Richter. (Bearbeiter)

3. Eine außerordentliche Sitzung liegt nicht bereits dann vor, wenn die Hauptverhandlung nicht an einem ordentlichen Sitzungstag stattfindet, denn ein ordentlicher Sitzungstag kann verlegt werden. Eine bloße Verlegung des Sitzungstags ist anzunehmen, wenn zum Zeitpunkt der Terminierung ein unmittelbar vorangehender oder unmittelbar zeitlich nachfolgender freier ordentlicher Sitzungstag zur Verfügung steht, der ordentliche Sitzungstag also ungenutzt bleibt (BGHSt 41, 175, 177). Ein freier ordentlicher Sitzungstag liegt auch dann vor, wenn ein solcher bewusst deshalb nicht genutzt wird, weil er in der noch nicht näher konkretisierten Erwartung einer anzuberaumenden eiligen Strafsache freigehalten werden soll. (BGHSt 37, 324, 327, 328). (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 1. Juli 2004 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter Anstiftung zum Mord in Tateinheit mit versuchter Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen wendet sich die Revision des Angeklagten mit zwei Verfahrensrügen und der Sachrüge.

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

Soweit es die Verfahrensrüge II. der Revisionsschrift (Verstoß gegen § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO) und die Sachrüge betrifft, ist es aus den Erwägungen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 8. Februar 2005 unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO, näherer Erörterung bedarf jedoch die Verfahrensrüge I., mit der vorgetragen wird, daß die Kammer mit den mitwirkenden Schöffen in der Hauptverhandlung nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen sei.

1. Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde: Die am 10. März 2004 begonnene Hauptverhandlung wurde an diesem Tage ausgesetzt. Im Einverständnis aller Verfahrensbeteiligten und unter Verzicht auf die Ladungsfristen wurde neuer Hauptverhandlungstermin auf Dienstag, den 16. März 2004 bestimmt. Ordentliche Sitzungstage der Kammer in jener Woche waren der 15. und 17. März 2004. An beiden Tagen fanden bereits vorher terminierte Fortsetzungsverhandlungen statt. An der am 16. März 2004 beginnenden Hauptverhandlung nahmen die Schöffen teil, die für Montag, den 15. März 2004 ausgelost waren. Der Angeklagte erhob zu Beginn der Sitzung durch seinen Verteidiger die Besetzungsrüge mit der Begründung, es handele sich um eine außerordentliche Sitzung, zu der die Hilfsschöffen aus der Hilfsschöffenliste hätten herangezogen werden müssen. Die Kammer hat den Besetzungseinwand durch Beschluß zurückgewiesen und ausgeführt, "es handelt sich bei Montag, dem 15.03.04, um den ordentlichen Sitzungstag der Kammer. Dieser wurde ins Auge gefaßt, nachdem die am 10.03.04 begonnene Hauptverhandlung abgebrochen werden mußte. Allerdings konnte die Kammer ... nicht mit der Verhandlung beginnen, da ein anderes Schwurgerichtsverfahren fortgesetzt wurde ... und nicht abzusehen war, ob noch hinreichende Zeit für die neu anzuberaumende Sache blieb. Im Interesse aller Verfahrensbeteiligten und des in U-Haft befindlichen Angeklagten erschien es daher tunlich, mit der Hauptverhandlung erst am heutigen Tag zu beginnen".

2. Die Kammer war mit den für den ordentlichen Sitzungstag des 15. März 2004 ausgelosten Schöffen nicht vorschriftsmäßig besetzt. Es handelte sich bei der am 16. März 2004 beginnenden Hauptverhandlung um eine außerordentliche Sitzung, für die die Schöffen der Hilfsschöffenliste heranzuziehen waren.

a) Die Anberaumung einer außerordentlichen Sitzung kommt in Betracht, wenn eine sachgemäße Durchführung der zu terminierenden Hauptverhandlung an den ordentlichen Sitzungstagen nicht möglich ist. Da bei einer außerordentlichen Sitzung nicht mit den für bestimmte Sitzungstage ausgelosten Schöffen, sondern mit Hilfsschöffen zu verhandeln ist, berührt die im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden stehende Terminierung einer außerordentlichen Sitzung den gesetzlichen Richter. Bei der Ausübung seines Ermessens hat sich der Vorsitzende an dem Sinn der gesetzlichen Regelung zu orientieren, nach dem mit der Anberaumung außerordentlicher Sitzungen dem aus der Geschäftsbelastung oder anderen verfahrensrechtlichen Notwendigkeiten folgenden Bedarf an zusätzlichen Verhandlungstagen genügt werden soll. Außerordentliche Sitzungen dürfen deshalb nicht an die Stelle von ordentlichen Sitzungstagen treten und sie ersetzen (BGHSt 41, 175, 176, 177; 37, 324, 325, 326 jeweils m.w.N.). Daraus folgt allerdings nicht, daß eine außerordentliche Sitzung bereits dann vorliegt, weil die Hauptverhandlung nicht an einem ordentlichen Sitzungstag stattfindet. Denn nach ständiger Rechtsprechung ist die Verlegung eines ordentlichen Sitzungstags möglich. Sie ist grundsätzlich auch geboten, weil allgemein der Mitwirkung der nach § 45 GVG im voraus bestimmten Schöffen der Vorrang gebührt (BGHSt 41, 175, 177; 11, 54, 56). Nach den insoweit entwickelten Kriterien liegt keine außerordentliche Sitzung, sondern eine bloße Verlegung des Sitzungstags vor, wenn zum Zeitpunkt der Terminierung ein unmittelbar vorangehender oder unmittelbar zeitlich nachfolgender freier ordentlicher Sitzungstag zur Verfügung steht, der ordentliche Sitzungstag also ungenutzt bleibt (BGHSt 41, 175, 177 = JR 1996, 165, 167 mit Anmerkung Katholnigg). Dabei liegt nach der Rechtsprechung ein freier ordentlicher Sitzungstag auch dann vor, wenn dieser bewußt deshalb nicht genutzt wird, weil er in der noch nicht näher konkretisierten Erwartung einer anzuberaumenden eiligen Strafsache freigehalten werden soll. Denn andernfalls bestünde die Gefahr, daß durch die Verlegung des Sitzungsbeginns auf außerordentliche Sitzungstage nicht genehme Schöffen von der Teilnahme ausgeschlossen werden (BGHSt 37, 324, 327, 328).

b) Ob ein Sitzungstag in diesem Sinne dann als "frei" anzusehen ist, wenn er lediglich - wie im vorliegenden Fall - für eine Fortsetzungsverhandlung genutzt wird, ist - soweit ersichtlich - bisher nicht vom Bundesgerichtshof entschieden.

Der vom Generalbundesanwalt angeführte unveröffentlichte Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 31. Januar 1979 - 4 StR 653/78 - betrifft lediglich den Fall einer zum Zeitpunkt der Terminierung nicht vorgesehenen Nutzung des freien Sitzungstags durch eine Fortsetzungsverhandlung, nachdem aufgrund eines Terminsverlegungsantrags des Angeklagten in der terminierten Sache nicht verhandelt werden konnte. Daß es für die Frage, ob ein freier ordentlicher Sitzungstag gegeben ist, auf den Zeitpunkt der Terminierung ankommt, ist bereits in jener Entscheidung ausgeführt worden und in Rechtsprechung (BGHSt 43, 270, 272 f.; 41, 175, 177 f.) und Literatur (Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht 3. Aufl. § 47 Rdn. 2) unstreitig. Die weiter angeführte Entscheidung BGHSt 41, 175 betrifft die Frage, welche Schöffen bei Terminierungen durch die Hilfsstrafkammer heranzuziehen sind, wenn der ordentliche Sitzungstag durch eine Fortsetzungsverhandlung der ordentlichen Strafkammer belegt ist, und damit ebenfalls - wie noch auszuführen ist - eine andere Fallgestaltung.

c) Der Senat hält die Auslegung der Kammer, nach der ein freier ordentlicher Sitzungstag auch dann anzunehmen ist, wenn er zum Zeitpunkt der Terminierung lediglich durch Fortsetzungstermine belegt ist, nicht für zutreffend.

Ihr steht nicht nur der allgemeine Sprachgebrauch entgegen, nach dem ein Sitzungstag, an dem die Kammer tatsächlich verhandelt hat, nicht als frei oder ungenutzt bezeichnet wird. Insbesondere ist eine solche Auslegung aus verfassungsrechtlichen Gründen bedenklich. Zwar kommen bei der Verhandlung einer Fortsetzungssache am ordentlichen Sitzungstag die für den ordentlichen Sitzungstag ausgelosten Schöffen, die in der Regel mit den Schöffen der Fortsetzungsverhandlung nicht identisch sein werden, nicht zum Einsatz. Dies liegt aber nicht daran, daß sie - aus welchen Gründen auch immer - bewußt übergangen wurden, sondern daran, daß eine Verhandlung mit ihnen an diesem Tag nicht möglich war. Anders als bei der bewußten Freihaltung eines Sitzungstags besteht nicht die Gefahr der Manipulation der Schöffenbank, da zum Zeitpunkt der Terminierung der Hauptverhandlung der neuen Sache die Fortsetzungsverhandlungen an den in Betracht kommenden ordentlichen Sitzungstagen bereits angesetzt waren. Zöge man in einem solchen Fall unter der Prämisse eines bloß verlegten ordentlichen Sitzungstags die insoweit ausgelosten Schöffen heran, könnte dies zu erheblichen Unklarheiten führen, etwa bei der Terminierung nicht nur einer, sondern mehrerer weiterer Hauptverhandlungen an verschiedenen Tagen zwischen zwei ordentlichen mit - wie hier - Fortsetzungsverhandlungen belegten Sitzungstagen. Auch der Fall, daß die Schöffen der Fortsetzungsverhandlung zufällig auch für den dafür in Anspruch genommenen weiteren ordentlichen Sitzungstag ausgelost sind, ist denkbar und machte unter Umständen weitere Ausnahmen erforderlich. Gerade im Hinblick darauf, daß mit der Einordnung als ordentliche oder außerordentliche Sitzung der gesetzliche Richter bestimmt wird, bedarf es klarer, übersichtlicher und praktikabler Kriterien, an denen sich die Einordnung orientieren kann. Dem wird nur eine Auslegung gerecht, nach der ein mit einer oder mehreren Fortsetzungsterminen belegter Sitzungstag nicht zugleich als verlegter Sitzungstag für eine andere später terminierte Hauptverhandlung gelten kann, die unmittelbar vor oder nach dem durch die Fortsetzungsverhandlung in Anspruch genommenen Sitzungstag anberaumt worden ist.

Die Entscheidung BGHSt 41, 175 steht nicht entgegen. Sie betrifft das Nebeneinander von Hauptstrafkammer und Hilfsstrafkammer. Dabei hat die Hilfsstrafkammer - die nach § 45 GVG weder über eigene Schöffen noch eigene Sitzungstage in diesem Sinne verfügt - mit den für die Hauptstrafkammer ausgelosten Schöffen zu verhandeln, wenn die Sitzung am ordentlichen Sitzungstag durchgeführt wird und die Hauptstrafkammer diese nicht benötigt, sei es, daß sie am ordentlichen Sitzungstag eine Fortsetzungssache verhandelt, sei es, daß dieser Sitzungstag von der Hauptstrafkammer freigehalten wurde. Dann entspricht es aber allgemeinen Grundsätzen, daß dieser Sitzungstag, an dem die Hilfsstrafkammer grundsätzlich hätte verhandeln können, als lediglich verlegt anzusehen ist, wenn die Verhandlung unmittelbar vor oder nach diesem ordentlichen Sitzungstag anberaumt wird.

3. Gemessen an diesen Grundsätzen handelte es sich bei der Hauptverhandlung am 16. März 2004, die zwischen zwei mit Fortsetzungsverhandlungen belegten ordentlichen Sitzungstagen anberaumt war, um eine außerordentliche Sitzung, für die Hilfsschöffen hätten herangezogen werden müssen. Dies haben der Vorsitzende und die Kammer mit der Behandlung dieser Sitzung als bloß verlegte ordentliche Sitzung verkannt.

4. Dennoch kann nicht von einem klar zutage liegenden Gesetzesverstoß oder einem willkürlichen Eingriff in die Besetzung des Gerichts die Rede sein. Die Kammer hat ersichtlich dem Grundsatz Rechnung tragen wollen, nach dem die nach § 45 GVG ausgelosten Schöffen zunächst heranzuziehen sind.

Angesichts der Tatsache, daß diese Fallkonstellation bisher nicht vom Bundesgerichtshof entschieden ist, erscheint die Heranziehung der Schöffen, die für den dem Hauptverhandlungstermin vorangehenden Sitzungstag ausgelost waren, zwar fehlerhaft, jedoch nicht als willkürliche, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbare Entziehung des gesetzlichen Richters (zu diesem Erfordernis vgl. BGHSt 25, 66, 72; 239, 241; 27, 105, 107; 34, 121, 123; Classen in v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG 4. Aufl. Art. 101 Abs. 1 Rdn. 31; Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl. § 338 Rdn. 6 - jew. m.w.N.). Die Rüge greift daher im Ergebnis nicht durch.

HRRS-Nummer: HRRS 2005 Nr. 551

Externe Fundstellen: BGHSt 50, 132; NJW 2005, 3153; NStZ 2005, 704; StV 2005, 536

Bearbeiter: Ulf Buermeyer