hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 475/93, Urteil v. 12.10.1993, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 475/93 - Urteil vom 12. Oktober 1993 (LG München II)

BGHSt 39, 349; Verwertungsverbot bezüglich der Vernehmung des Beschuldigten bei Nichtverstehen der Belehrung über Aussagefreiheit wegen geistig-seelischen Zustands.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 136 Abs. 1 S. 2 StPO; § 163a Abs. 4 S. 2 StPO

Leitsatz

Versteht der Beschuldigte infolge seines geistig-seelischen Zustands den Hinweis des Polizeibeamten über seine Aussagefreiheit nicht, so dürfen Äußerungen, die er bei dieser Vernehmung macht, in der Hauptverhandlung nur verwertet werden, wenn der verteidigte Angeklagte der Verwertung zustimmt oder ihr nicht bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt widerspricht (im Anschluß an BGH, 27. Februar 1992, 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214). (BGHSt)

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 18. Februar 1993 wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschuldigten durch das Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Die auf eine Verfahrensrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.

Dem Beschuldigten war zur Last gelegt, einige Heustadel, eine Feldscheune und ein landwirtschaftliches Anwesen angezündet und dadurch großen Gebäude- und Inventarschaden verursacht zu haben. Weil der Beschuldigte nicht schuldfähig war und ist, hat die Staatsanwaltschaft im Sicherungsverfahren seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beantragt. Das Landgericht hat die Unterbringung mangels Tatnachweises abgelehnt.

II.

Die Staatsanwaltschaft rügt, das Landgericht habe zu Unrecht die Angaben des Beschuldigten gegenüber der Polizei mit der Begründung für unverwertbar gehalten, der Beschuldigte habe den polizeilichen Hinweis über sein Recht, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (§ 163 a Abs. 4 Satz 2, § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO), nicht verstanden. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft darf die erfolgte, aber vom Beschuldigten aufgrund seiner geistig-seelischen Beschaffenheit inhaltlich nicht verstandene polizeiliche Belehrung nicht der unterbliebenen polizeilichen Belehrung (vgl. BGHSt 38, 214) gleichgestellt werden. Selbst wenn man jedoch ein Verwertungsverbot bejahe, greife es im vorliegenden Fall allenfalls beschränkt ein, weil der Verteidiger einer Verwertung nicht sogleich nach der Zeugenvernehmung des Polizeibeamten K., sondern erst nach der darauf folgenden Vernehmung der Polizeibeamtin W. widersprochen habe. Die Aussage des Zeugen K. bleibe also verwertbar (vgl. BGHSt 38, 214, 225/226).

III.

In dem in BGHSt 38, 214 abgedruckten Beschluß hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß Äußerungen, die der Beschuldigte in einer polizeilichen Vernehmung macht, nicht verwertet werden dürfen, wenn der Vernehmung nicht der durch § 163 a Abs. 4 Satz 2, § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgeschriebene Hinweis vorausgegangen ist. Nach Auffassung des Senats sind die in dieser Entscheidung ausgesprochenen Grundsätze dann, wenn der Hinweis zwar erfolgt ist, wenn aber feststeht, daß der Beschuldigte ihn infolge seiner geistig-seelischen Beschaffenheit nicht verstanden hat, nicht in gleicher Weise, wohl aber entsprechend anzuwenden.

Es bestehen Unterschiede. Das Gesetz schreibt den Hinweis auf das Schweigerecht vor, weil es davon ausgeht, dieses - das als solches schon lange vor der gesetzlichen Hinweispflicht bestand - sei nicht allgemein bekannt (BGHSt 38, 214, 221). Der Hinweis soll also ein bloßes - unschwer zu behebendes - Wissensdefizit des Beschuldigten ausgleichen. Dagegen handelt es sich im vorliegenden Fall um ein durch geistig- seelische Störung verursachtes Verständnisdefizit, das in dem Beschuldigten angelegt ist.

Der Unterschied hat zur Folge, daß es nicht angeht, von der Vernehmung solcher Beschuldigter überhaupt abzusehen. Die Vernehmung soll nicht zuletzt "dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen" (§ 163 a Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 136 Abs. 2 StPO). Diese Möglichkeit würde dem Beschuldigten abgeschnitten, verzichtete man auf seine Vernehmung, weil er die Belehrung möglicherweise oder mit Sicherheit nicht verstanden hat, obwohl er, wie die Befragung zeigt, zu Angaben bereit ist. Der Vernehmungsbeamte wird also auch in solchem Fall den aussagebereiten Beschuldigten zu vernehmen haben. Das ist übrigens schon deshalb unumgänglich, weil der Vernehmungsbeamte in der Regel der Hilfsmittel entbehrt, die im weiteren Verlauf des Ermittlungsverfahrens und in der Hauptverhandlung zur Verfügung stehen, insbesondere der gutachtlichen Äußerungen eines Sachverständigen und der umfassenden Aufklärung aller für den geistig- seelischen Zustand des Beschuldigten wesentlichen Umstände. Erst dann wird - unter Verwertung der Wahrnehmungen des Vernehmungsbeamten - geklärt werden können, ob so schwere körperliche oder seelische Mängel oder Krankheiten vorliegen, daß die abschließende Feststellung zu treffen ist, der Beschuldigte habe den Hinweis des Vernehmungsbeamten nicht verstanden (vgl. zu dieser Feststellung auch BGHR StPO § 136 Belehrung 2).

Entscheidend ist daher die Frage der Verwertung. Sie ist zulässig, wenn der verteidigte Angeklagte in der Hauptverhandlung zustimmt oder bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt nicht widerspricht (BGHSt 38, 214, 225/226). Die Verwertung kann im Interesse des Beschuldigten liegen.

Im übrigen - bei Widerspruch des Beschuldigten - ein Verwertungsverbot anzunehmen, wenn feststeht, daß der Beschuldigte den Hinweis auf sein Schweigerecht nicht verstanden hat, ist trotz des aufgezeigten Unterschieds zu den Fällen unterbliebenen Hinweises deshalb gerechtfertigt, weil sonst ein geistig-seelischer Mangel des Beschuldigten dazu führen würde, sein Schweigerecht - dessen er sich wegen dieses Mangels nicht bewußt ist - wirkungslos zu machen. Auch das würde das Gebot fairen Verfahrens verletzen (vgl. auch LG Verden StV 1986, 97).

Das Landgericht hat also zu Recht ein Verwertungsverbot angenommen. Allerdings hat es dieses zu Unrecht auf die Vernehmung des Kriminalbeamten K. - der über verschiedene polizeiliche Vernehmungen des Angeklagten berichtete - erstreckt. Nach dessen Vernehmung hat der Verteidiger der Verwertung nicht widersprochen; er hat dies erst nach der anschließenden Vernehmung der Kriminalbeamtin W. getan, die den Beschuldigten ebenfalls vernommen hatte. Im Gegensatz zur Auffassung des Generalbundesanwalts durfte der Verteidiger mit seinem Widerspruch nicht deshalb abwarten, weil er erst nach der Anhörung beider Vernehmungsbeamter die Voraussetzungen für ein Verwertungsverbot zuverlässig habe beurteilen können. Das wäre ein zu unsicherer Maßstab; er ließe offen, wie zu verfahren wäre, wenn die Anhörung verschiedener Vernehmungsbeamter nicht unmittelbar aufeinander folgte oder wenn die Zuverlässigkeit der Meinungsbildung - jedenfalls nach Meinung des Verteidigers - weiterer Beweiserhebung bedürfte.

Jede Zeugenvernehmung ist daher bezüglich ihrer Verwertbarkeit für sich zu betrachten. Bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt muß der Verteidiger, wenn er das für geboten hält, mindestens vorsorglich Widerspruch erheben, den er gegebenenfalls später zurücknehmen kann. Tut er das nicht, ist die Aussage verwertbar.

Die Nichtverwertung der Aussage von Kriminalhauptmeister K. war daher fehlerhaft. Jedoch schließt der Senat aus, daß die Verwertung zur Feststellung der Täterschaft des Angeklagten - und damit zu seiner Unterbringung - geführt hätte. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausführt, schließen die Ausführungen im Urteil zur Beweiswürdigung mit Sicherheit die Möglichkeit aus, das Gericht hätte den Tatnachweis als geführt angesehen, wenn es die Aussagen des Beschuldigten gegenüber Kriminalhauptmeister K. verwertet hätte; denn es bezeichnet eben diese Aussagen als "offenkundig widersprüchlich", die während der Vernehmungen gefertigten Handskizzen als "im wesentlichen unzutreffend".

Externe Fundstellen: BGHSt 39, 349; NJW 1994, 334; NStZ 1994, 95; StV 1994, 4

Bearbeiter: Rocco Beck