Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 21/93, Urteil v. 23.03.1993, HRRS-Datenbank, Rn. X
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 10. August 1992 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Angeklagten freigesprochen worden sind.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten H. wegen schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit Sachbeschädigung unter Einbeziehung anderweit rechtskräftig erkannter Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Vom Vorwurf einer weiteren, gemeinschaftlich versuchten schweren Brandstiftung in Tateinheit mit Sachbeschädigung hat es die Angeklagten H. und P. aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Mit ihrer auf die Sachbeschwerde gestützten Revision wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen den freisprechenden Teil des Urteils (VI. der Urteilsgründe). Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen betraten beide Angeklagte das Wohnhaus, in dem sich zur Tatzeit acht bis zwölf Personen aufhielten. "Einer der beiden ging in den hinteren Teil des Treppenhauses im Erdgeschoß, schob einen dort abgestellten Kinderwagen neben die hölzerne Treppe, die zum Obergeschoß führte, übergoß den Kinderwagen mitsamt der Kissenauflage mit Heizöl aus einer Plastik-Ölkanne, die in einem Abstellraum deponiert gewesen war, zündete den Kinderwagen an und warf zusätzlich noch die Ölkanne darauf. Die Textilauflage des Kinderwagens brannte alsbald lichterloh. Das Feuer begann auf die Holztreppe zum Obergeschoß überzugreifen und hatte sich bereits durch die PVC-Auflage der Treppenstufen durchgefressen, als es von Hausbewohnern entdeckt und gelöscht wurde. Feste Gebäudeteile waren von dem Brand noch nicht so erfaßt, daß das Feuer selbständig hätte weiterbrennen können."
Die Strafkammer vermochte nicht festzustellen, welcher von den beiden Angeklagten oder ob beide Angeklagte gemeinsam den Brand gelegt haben, ob der Brandstiftung ein gemeinsamer Tatentschluß zugrundelag oder ob jeder der Angeklagten zumindest in der Form an der Tat beteiligt war, daß er den jeweils anderen - unmittelbaren - Täter zu der Tat angestiftet oder ihn bei der Tat - sei es auch nur durch seine bloße Anwesenheit - unterstützt und/oder in seinem Vorhaben bestärkt hätte.
2. Revision und Generalbundesanwalt beanstanden mit Recht, daß die Strafkammer ihre umfassende Kognitionspflicht (vgl. etwa Kleinknecht/Meyer, StPO 40. Aufl. § 264 Rdn. 10 sowie Hürxthal in KK 2. Aufl. § 264 Rdn. 10, jeweils m.w. Nachw.) verletzt hat. Sie hätte auch - gegebenenfalls nach einem Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO - prüfen und entscheiden müssen, ob sich die Angeklagten der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB) schuldig gemacht haben. Ein Freispruch ist nur gerechtfertigt, wenn der festgestellte Sachverhalt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Schuldspruch trägt. Nach der gegebenen Sach- und Rechtslage versteht es sich keineswegs von selbst, daß die Strafvorschrift des § 323 c StGB hier nicht eingreifen konnte.
Bei dem Feuer in dem von 18 Menschen bewohnten Haus handelt es sich um einen Unglücksfall i.S.d. § 323 c StGB, welcher die bei Ausbruch des Brandes anwesenden Angeklagten verpflichtete, sofort Hilfe zu leisten, sei es durch Löschen des Feuers, Benachrichtigung der Bewohner oder Alarmierung von Hilfskräften. Eine solche Hilfeleistung war erforderlich, den Angeklagten möglich und - trotz der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung - auch zumutbar. Die Gefahr eigener Strafverfolgung befreit grundsätzlich nicht von der Pflicht zur Hilfeleistung (Dreher/Tröndle, StGB 45. Aufl., § 323 c RN 7 m. zahlr. Nachw. aus der Rechtsprechung; Lackner, StGB 19. Aufl. § 323 c Rdn. 7).
Eine Verurteilung nach § 323 c StGB scheidet hier auch nicht etwa unter dem Gesichtspunkt aus, daß gegen die Angeklagten nach wie vor der Verdacht besteht, als Täter oder Gehilfe an der versuchten schweren Brandstiftung und damit an der Herbeiführung des Unglücksfalles im Sinne des § 323 c StGB mitgewirkt zu haben. Wäre die Beteiligung an der Begehungstat festgestellt worden, so hätten die Angeklagten zwar zugleich den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung erfüllt, doch wären sie aus dem Gesichtspunkt der Gesetzeskonkurrenz nur wegen der Begehungstat zu verurteilen gewesen, weil § 323 c StGB als subsidiäres Delikt verdrängt worden wäre (vgl. etwa Cramer in Schönke/Schröder, StGB 24. Aufl. § 323 c Rdn. 34; Dreher/Tröndle, StGB 46. Aufl. § 323 c Rdn. 11, jeweils m.w.Nachw.). Bleibt indes unaufklärbar, ob der Täter sich in strafbarer Weise an der einen Unglücksfall im Sinne des § 323 c StGB bildenden Straftat beteiligt hat, kommt also aus tatsächlichen Gründen das verdrängende Gesetz nicht zur Anwendung, so entfällt damit zugleich der Rechtsgrund für die Nichtanwendung der sonst subsidiären Vorschrift mit der Folge, daß der Täter wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft werden kann, wenn er die erforderliche, ihm mögliche und zumutbare Hilfe nicht geleistet hat (vgl. auch Rudolphi in SK-StGB § 323 c Rdn. 31; sowie Spendel in LK 10. Aufl. § 323 c Rdn. 217).
Allerdings wird in einem Teil des Schrifttums zu Fällen der vorliegenden Art die Auffassung vertreten, daß zwischen der nicht aufklärbaren Begehungstat, soweit es sich um eine der in § 138 Abs. 1 StGB genannten Straftaten handelt, und der Nichtanzeige der Straftat (hier: § 138 Abs. 1 Nr. 9 StGB) eine Wahlfeststellung zugelassen werden sollte (vgl. Hanack in LK 10. Aufl. § 138 Rdn. 74; Rudolphi in SK-StGB § 138 Rdn. 35, jeweils m.w.Nachw.); das hätte zur Folge, daß wegen der Anwendung des § 138 StGB eine Verurteilung nach § 323 c StGB zu unterbleiben hätte (Gesetzeskonkurrenz, vgl. Dreher/Tröndle aaO § 323 c Rdn. 11). Doch sind Täter, Anstifter oder Gehilfe bei der geplanten Straftat nicht anzeigepflichtig, da die Tat eine völlig fremde sein muß (BGHSt 36, 167, 169; Dreher/Tröndle aaO § 138 Rdn. 12 m.w.Nachw.). Der Senat folgt der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, daß wegen Nichtanzeige einer geplanten Tat nicht bestraft werden kann, wen das Gericht weiterhin der Teilnahme an dieser Tat für verdächtig hält, und daß insoweit auch eine Wahlfeststellung ausgeschlossen ist (BGHSt 36, 167, 170, 174; vgl. auch BGH, Beschluß vom 4. August 1992 - 1 StR 382/92; BGH StV 1988, 202 L.; Cramer aaO § 138 Rdn. 29; Dreher/Tröndle aaO § 138 Rdn. 12; Lackner, StGB 19. Aufl. § 138 Rdn. 6).
3. Die aufgezeigte Verletzung der Kognitionspflicht führt zur Aufhebung des Freispruchs insgesamt, aber nicht etwa zu einer Einschränkung der Kognitionspflicht des neuen Tatrichters. Dieser wird den gegen die Angeklagten erhobenen Schuldvorwurf in eigener tatrichterlicher Verantwortung in vollen Umfange erneut zu prüfen und zu entscheiden haben. Aus diesem Grunde brauchte der Senat nicht zu erörtern, ob die vom Generalbundesanwalt nicht vertretenen Angriffe der Revision der Staatsanwaltschaft dagegen berechtigt sein könnten, daß die Strafkammer nicht wenigstens zu einer Verurteilung der Angeklagten wegen Beihilfe zur versuchten schweren Brandstiftung in Tateinheit mit Sachbeschädigung gelangt ist.
Externe Fundstellen: BGHSt 39, 164; NJW 1993, 1871; NStZ 1993, 441
Bearbeiter: Rocco Beck