Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 339/91, Urteil v. 30.09.1991, HRRS-Datenbank, Rn. X
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 8. März 1991 mit den Feststellungen aufgehoben
a) soweit der Angeklagte wegen Aussetzung verurteilt ist;
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Aussetzung und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Die Revision des Angeklagten, die das Urteil mit Verfahrensrügen und der Sachrüge angreift, hat hinsichtlich der Verurteilung wegen Aussetzung Erfolg.
1. Eines Eingehens auf die Verfahrensrügen bedarf es nicht, weil sie die Verurteilung wegen Aussetzung betreffen und insoweit die Sachrüge durchgreift.
2. a) Nach den getroffenen Feststellungen war der Angeklagte mit seiner 6 1/2 jährigen Tochter in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, am Abend des 18. Februar 1990 in seinem Kraftwagen in ein abgelegenes, unwegsames Gelände gefahren. Dort nahm er neun Schlaftabletten und eine nicht mehr genau feststellbare Menge Weinbrand zu sich, geriet dadurch in einen Zustand hochgradiger Tablettenintoxikation mit möglicher vorübergehender Bewußtlosigkeit und war in diesem Zustand nicht mehr in der Lage, für das Wohl seines Kindes Sorge zu tragen. Im Laufe der - kühlen - Nacht gelangte das Kind auf nicht näher geklärte Weise - entweder nahm es der Angeklagte selbst mit aus dem Auto, oder es kletterte von sich aus heraus - in das von Wasserläufen und Verkehrslinien durchzogene Gelände, wo es alleine umherirrte, sich durch Brombeersträucher und andere wild wachsende Pflanzen Verletzungen zufügte und schließlich im Gebüsch einschlief. Dort wurde es am frühen Morgen des 19. Februar 1990, nachdem der Angeklagte es vergeblich gesucht hatte, von der Polizei in unterkühltem, aber sonst im wesentlichen unversehrtem Zustand aufgefunden.
b) Das Landgericht hält den Tatbestand des § 221 Abs. 1 StGB in der Begehungsform des Verlassens in hilfloser Lage für gegeben. Es folgt damit einer im Schrifttum vertretenen Ansicht, wonach es für ein Verlassen im Sinne des § 221 Abs. 1 StGB nicht eines räumlichen Sich-Entfernens bedürfe, sondern ein sonstiges Im-Stich-lassen der hilflosen Person genüge (Eser in Schönke/Schröder, StGB 23. Aufl. § 221 Rdn. 7; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 1 7. Aufl. S. 60 f.; Hall SchwZfStR 46. Jahrgang (1932), 328, 353 ff.; ebenso RG DR 1941, 193).
3. Der Senat kann sich dieser rechtlichen Beurteilung nicht anschließen.
a) Schon der Wortlaut des § 221 Abs. 1 2. Alternative StGB spricht eher gegen die vom Landgericht vertretene Auslegung. Als Wesensmerkmal des Begriffs "Verlassen" ist vorrangig das räumliche Sichentfernen anzusehen (vgl. Duden, Wörterbuch der Deutschen Sprache 1981 Bd. 6 Stichwort Verlassen). Demgemäß müssen die Vertreter der erweiternden Auslegung das Tatbestandsmerkmal mit Umschreibungen wie "im Stich lassen" erläutern, um den nach ihrer Meinung darin enthaltenen Sinn auszudrücken; das macht deutlich, daß sie sich mit ihrer Auslegung vom Wortlaut der Vorschrift entfernen (ebenso Feloutzis, Das Delikt der Aussetzung nach deutschen und griechischem Recht, 1984 S. 185).
b) Auch die Systematik spricht gegen die erweiternde Auslegung. § 221 StGB stellt im Rahmen der Verbrechen und Vergehen wider das Leben einen besonderen Einzelfall heraus und unterstellt diesen einer Sonderregelung. Es ist systemwidrig, diese geprägte Form zu verlassen und in unbestimmter Weise auf andere Hinderungen der Fürsorge abzustellen (vgl. Mezger in Anmerkung zu RG DR 1941, 193, 194). Diese Fälle sind entweder nach den §§ 212, 216, 222, 223, 230 StGB zu beurteilen oder es muß bei der Anwendung des § 323 c StGB sein Bewenden haben (Geilen JZ 1973, 320, 323).
c) Der erweiterte Verlassensbegriff führt vor allem in Unterlassungsfällen auch zu einer bedenklichen Ausweitung der Vorschrift (Hirsch ZStW 84 (1972), 380, 381); bloßes Untätigbleiben kann zu erheblicher Strafandrohung führen (Geilen aaO). Insoweit besteht jedoch kein Bedürfnis einer besonderen strafrechtlichen Ahndung.
d) Die Rechtsprechung der obersten Gerichte hat bisher ganz überwiegend das Tatbestandsmerkmal des Verlassens als örtliche oder zumindest räumliche Änderung der Beziehung zwischen dem Verpflichteten und dem Hilflosen angesehen (RGSt 8, 343, 344; 10, 183, 184; 38, 377, 378; 59, 387). Die von der bis dahin einheitlichen Meinung des Reichsgerichts abweichende Entscheidung aus dem Jahre 1940 (RG DR 1941, 193, 194) setzt sich mit der bisherigen Rechtsprechung nicht hinreichend auseinander und ist daher zu Recht kritisiert worden (Mezger aaO). Der Bundesgerichtshof hat die strittige Frage noch nicht entschieden; in der einzigen Entscheidung dazu (BGHSt 21, 44, 47), in der die Frage jedoch offen gelassen wird, lag allerdings eine örtliche Trennung vor; die Verpflichtete hatte sich zunächst berechtigt entfernt, war aber nicht zurückgekehrt.
e) Aus den angeführten Gründen ist daher grundsätzlich daran festzuhalten, daß § 221 Abs. 1 2. Alternative StGB die Verletzung der Hilfspflicht nur unter Strafe stellt, wenn sie in bestimmten Begehungsweisen erfolgt, nämlich jedenfalls durch örtliche Entfernung; ob darunter auch räumliche Trennung durch Abschneiden des Zugangs zählt, kann dahinstehen (neben den bereits angeführten Autoren vgl.: Jähnke in LK 10. Aufl. § 221 Rdn. 13; Horn in SK-StGB 4. Aufl. § 221 Rdn. 9; Dreher/Tröndle, StGB 45. Aufl. § 221 Rdn. 6; Lackner, StGB 19. Aufl. § 221 Anm. 3; Dreher JZ 1966, 578, 580).
4. a) Nun ist im zu entscheidenden Fall das zu betreuende Kind jedoch letztlich jedenfalls dadurch in eine hilflose Lage geraten, daß es von dem handlungsunfähigen Vater örtlich getrennt wurde. Damit war gerade die Gefahrensituation eingetreten, vor der § 221 Abs. 1 2. Alternative StGB schützen will. Verhindert jedoch der Pflichtige - mit zumindest bedingtem Gefährdungsvorsatz - die von der zu betreuenden Person ausgehende örtliche Trennung nicht, kann damit der Tatbestand des § 221 Abs. 1 2. Alternative in der Begehungsform des Unterlassens erfüllt sein.
§ 221 Abs. 1 2. Alternative StGB ist bei Festhalten an einer örtlichen oder zumindest räumlichen Trennung kein - echtes - Unterlassungsdelikt, sondern ein Begehungsdelikt (so zutreffend Horn aaO; vgl. auch Dreher aaO S. 580; Hirsch aaO S. 381; offengelassen in BGHSt 21, 44, 47); der Täter, der sich entfernt, erfüllt den Tatbestand durch Tun. Damit eröffnet sich aber die Möglichkeit einer Begehung der Tat auch durch Unterlassen, wobei die erforderliche Garantenstellung in § 221 Abs. 1 2. Alternative selbst umschrieben ist. Die abweichende Ansicht von Jähnke (aaO Rdn. 14), es handele sich um einen Unterlassungstatbestand, dem kein Begehungsdelikt entspreche, berücksichtigt nicht, daß zwar das Unrecht der Tat im Nichtgewähren der dem Opfer zu leistenden Unterstützung liegt, daß aber die Begehung selbst - auch - durch Tun erfolgen kann und in der Regel auch so erfolgt. Nur auf diese Weise sind auch unterschiedliche, aber doch vergleichbare Fallgestaltungen unter Strafrechtsschutz zu stellen; so kann es grundsätzlich keinen Unterschied machen, ob etwa der Pflichtige sich mit dem zu Betreuenden an einen gefährlichen Abhang begibt und ihn dort zurückläßt oder ob er tatenlos zusieht, wie dieser sich selbst dorthin begibt.
b) Danach könnte sich der Angeklagte des Verlassens seiner Tochter in hilfloser Lage durch Unterlassen schuldig gemacht haben.
Eine Umstellung des Schuldspruchs auf Grund der getroffenen Feststellungen ist jedoch nicht möglich. Das würde zwar nicht für die Fallgestaltung gelten, daß das Kind während des pathologischen Rauschzustandes des Angeklagten von sich aus aus dem Fahrzeug geklettert wäre. Nach den Feststellungen hat der Angeklagte, als er die neun - weiteren - Schlaftabletten einnahm, mit dieser Möglichkeit gerechnet und sie billigend in Kauf genommen (UA S. 37); insoweit hätte er sich gegenüber dem geänderten Schuldvorwurf ersichtlich auch nicht anders als bisher geschehen verteidigen können.
Anders wäre es jedoch, wenn der Angeklagte - auch diese Fallgestaltung hält das Landgericht für möglich - zusammen mit dem Kind das Fahrzeug verlassen und es im weiteren Verlauf - auf nicht näher geschilderte Weise - verloren hätte (UA S. 21). Das Landgericht setzt sich - von seinem Rechtsstandpunkt aus verständlich - mit diesem Ablauf nicht weiter auseinander. So wird nicht dargelegt, mit welchem Ziel der Angeklagte das Fahrzeug zusammen mit seiner Tochter verlassen hat und warum er das Kind im weiteren Verlauf aus den Augen verloren hat; die allgemeine, auf beide Fallgestaltungen bezogene Feststellung, infolge seines pathologischen Rauschzustandes habe er den Kontakt mit dem Kind verloren, reicht nicht aus, denn der Angeklagte war, als er das Fahrzeug verließ, zwar wohl noch schuldunfähig, aber jedenfalls wieder handlungsfähig (UA S. 31) und daher möglicherweise auch wieder in der Lage, seine Tochter zu betreuen.
Auch die Feststellungen zum Vorsatz beziehen sich nur auf die erste Tatbestandsalternative (UA S. 20, 37). Daraus wird zugleich deutlich, daß nicht auszuschließen ist, daß sich der Angeklagte gegen den Vorwurf in Form der zweiten Tatbestandsalternative anders als geschehen hätte verteidigen können.
5. Im übrigen hat die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Der Maßregelausspruch bleibt unberührt.
Externe Fundstellen: BGHSt 38, 78; NJW 1992, 581; NStZ 1992, 128; NStZ 1992, 231; StV 1992, 318
Bearbeiter: Rocco Beck