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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1053

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 90/23, Beschluss v. 16.05.2023, HRRS 2023 Nr. 1053


BGH 1 StR 90/23 - Beschluss vom 16. Mai 2023 (LG Traunstein)

Mord aus Verdeckungsabsicht (erforderliche Darstellungen im Urteil bei möglichem Motivbündel).

§ 211 Abs. 2 StGB; § 261 Abs. 1 Satz 1 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht gemäß § 211 Abs. 2 StGB setzt voraus, dass der Täter die Tötungshandlung vornimmt oder - im Falle des Unterlassens - die ihm zur Abwendung des Todeseintritts gebotene Handlung unterlässt, um dadurch eine „andere“ Straftat zu verdecken. Kommen bei der Prüfung der subjektiven Mordmerkmale - vorliegend gerade bei einer Straftat einer nahestehenden Person gegenüber einer ebensolchen, ohne dass eine Tatbegehung voraussehbar war - verschiedene Motive des Täters für sein Untätigbleiben in Betracht, so hat das Tatgericht sämtliche wirkmächtigen Elemente in seine Würdigung einzubeziehen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 7. Dezember 2022, soweit es sie betrifft,

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass die Angeklagte des versuchten Totschlags (durch Unterlassen) schuldig ist, und

b) im Strafausspruch aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Mordes durch Unterlassen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und gegen ihre Mutter, die Mitangeklagte K., wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt. Die Revision der Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist ihr Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Nach den Urteilsfeststellungen tötete die Mitangeklagte K. ihren 1946 geborenen, pflegebedürftigen Vater A., indem sie ihm am 4. August 2021 eine tödlich wirkende Medikamentenmixtur ohne dessen Wissen und Willen in einem mitgebrachten Essen verabreichte. Motiv hierfür war, dass ihre Tochter, die Angeklagte S., die mit ihrem Großvater und ihrer Familie im gleichen Wohnanwesen lebte und ihn teilweise auch versorgte, aufgrund des gesundheitlichen Zustands des A. und der Doppelbelastung mit der Versorgung von Familie und Großvater überfordert war. Zudem wollte der A. die häufigen und heftigen Streitigkeiten zwischen der Angeklagten und ihrem Ehemann in dem Wohnhaus, in dem er im Erdgeschoß gelegenen Wohnung ein Wohnrecht hatte, nicht mehr tolerieren. Dies belastete die Angeklagte stark.

Nachdem A. das mitgebrachte Essen aufgegessen hatte, brachte die Mitangeklagte den Teller der Angeklagten in das Obergeschoss zum Abwaschen. Als die Angeklagte anschließend ins Erdgeschoss ging, fand sie ihren Großvater in offensichtlich hilfloser Lage vor. Obwohl sie erkannte, dass er ärztlicher Hilfe bedurfte, verständigte sie keinen Arzt, nachdem die Mitangeklagte geäußert hatte, dass sie ihm Medikamente gegeben habe und „jetzt kein Arzt mehr komme“. Der Angeklagten war dadurch klar, dass ihre Mutter ihrem Großvater so viele Medikamente gegeben hatte, dass er ohne sofortige Hilfe daran versterben würde. Ihr war bewusst, dass sie, die seit längerem mit dem Opfer in einem Haus zusammenlebte und sich auch umfassend um sein Wohlergehen kümmerte, persönlich dafür verantwortlich war, ihm zu helfen, wenn es ihm nicht gut ging, insbesondere ärztliche Hilfe bei ernstlichen gesundheitlichen Beschwerden zu holen. Die Angeklagte befürchtete aber, dass die Tat ihrer Mutter bekannt wird, wenn sie ärztliche Hilfe holt. Sie unterließ es daher weiterhin, die als notwendig erkannte Maßnahme zu veranlassen. Vielmehr entfernte sie sich aus dem Wohnzimmer, in dem ihr Großvater zwar nicht mehr ansprechbar war, aber noch schwer und unregelmäßig atmete. Als sie kurze Zeit später wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte, nahm sie wahr, wie die Mitangeklagte dem Opfer einen Lappen auf Nase und Mund drückte, um den Eintritt des Todes zu beschleunigen. Die Angeklagte unternahm gleichwohl auch jetzt nichts aus Angst, dass die Tat ihrer Mutter aufgedeckt werden würde.

Das Tatopfer verstarb entweder an der tödlichen Medikamentendosis, die schon für sich genommen letal war, oder durch Ersticken mit dem Lappen. Nicht ausschließbar hätte es selbst bei sofortiger Verständigung eines Arztes nicht mehr gerettet werden können.

II.

1. Das Landgericht hat die objektiven und subjektiven Voraussetzungen für einen Tötungsvorsatz sowie für eine Garantenstellung der Angeklagten ohne Rechtsfehler festgestellt. Die Annahme des Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht hält hingegen rechtlicher Prüfung nicht stand.

2. Das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht gemäß § 211 Abs. 2 StGB setzt voraus, dass der Täter die Tötungshandlung vornimmt oder - im Falle des Unterlassens - die ihm zur Abwendung des Todeseintritts gebotene Handlung unterlässt, um dadurch eine „andere“ Straftat zu verdecken. Kommen bei der Prüfung der subjektiven Mordmerkmale - vorliegend gerade bei einer Straftat einer nahestehenden Person gegenüber einer ebensolchen, ohne dass eine Tatbegehung voraussehbar war - verschiedene Motive des Täters für sein Untätigbleiben in Betracht, so hat das Tatgericht sämtliche wirkmächtigen Elemente in seine Würdigung einzubeziehen (vgl. BGH, Urteil vom 19. August 2020 - 1 StR 474/19 Rn. 24 ff. mwN). An einer solchen Erörterung fehlt es hier.

3. Dass die Angeklagte S. untätig blieb, um ihre Mutter vor einer Strafverfolgung zu schützen, wird von der Strafkammer nicht belegt. Eine Begründung für diese Annahme wird in den Urteilsgründen (UA S. 57 f.) nicht gegeben; vielmehr wird von der Untätigkeit der Angeklagten zugleich auf eine Verdeckungsabsicht geschlossen, ohne jedoch die Besonderheiten des Falles mit einzubeziehen. Bei der Prüfung der möglichen Motivlage für ihr Untätigsein hätte das Landgericht einstellen müssen, dass in der für sie überraschenden Situation kaum Zeit verblieb, „richtig“ zu reagieren (vgl. UA S. 59). Schon dieser Umstand kann gegen die Vorstellung der Angeklagten sprechen, die Tat ihrer Mutter durch Untätigbleiben verdecken zu wollen. Hinzu kommt, dass die Angeklagte nicht ausschließbar aufgrund ihrer dependenten Persönlichkeit in ihrem Handeln erheblich in ihrer Steuerungsfähigkeit eingeschränkt war, ein Umstand, der im Rahmen der subjektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht zu prüfen gewesen wäre.

III.

1. Der Senat schließt aus, dass weitere Feststellungen mit Blick auf eine Verdeckungsabsicht getroffen werden können, die eine Verurteilung der Angeklagten wegen versuchten Mordes (durch Unterlassen) ermöglichen würden. Er ändert daher den Schuldspruch selbst entsprechend § 354 Abs. 1 StPO in versuchten Totschlag (durch Unterlassen) ab. § 265 StPO steht der Schuldspruchänderung insoweit nicht entgegen, weil sich die Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.

2. Infolge der Schuldspruchänderung kann der Strafausspruch mit Blick auf den veränderten Strafrahmen keinen Bestand haben. Die Feststellungen sind jedoch hiervon nicht betroffen. Sie können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO) und von solchen ergänzt werden, die den bisherigen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1053

Bearbeiter: Christoph Henckel