HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 786
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 423/23, Urteil v. 30.04.2024, HRRS 2024 Nr. 786
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 14. Juni 2023 im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Vergewaltigung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen, sowie der gefährlichen Körperverletzung schuldig ist.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses und sexuellem Missbrauch von Jugendlichen, sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Urteilsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet.
Das Landgericht hat - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Der Angeklagte, der als Schamane auftrat und als solcher alternative Behandlungsmöglichkeiten anbot, erlangte durch manipulatives Verhalten das Vertrauen der Familie der Geschädigten S. Er redete den Eltern des Mädchens anlässlich deren Therapiesitzungen unter anderem ein, sie täten einander nicht gut, und riet zur Trennung, was die Eheleute daraufhin konkret in Erwägung zogen. Als der Angeklagte feststellte, dass sich S. wegen dieser Entwicklungen Sorgen machte und traurig war, überzeugte er ihre Mutter davon, dass auch das Mädchen seiner Behandlung bedürfe.
1. a) Zur Durchführung seiner Therapie fuhr der Angeklagte mit der zur Tatzeit 14-jährigen, sexuell unerfahrenen Geschädigten am 12. Mai 2022 in ein Waldstück, wo er das Mädchen nach verschiedenen anderen Behandlungsmethoden aufforderte, sich auf eine von ihm mitgebrachte Matratze zu legen und Atemübungen durchzuführen. Das Atmen unterstützte er durch druckvolles Stoßen, wofür er - insoweit mit ausdrücklicher Genehmigung der Geschädigten - seine Hand auf deren bekleidete Vulva legte. Zuvor hatte der Angeklagte S. bereits veranlasst, ihre Unterwäsche abzulegen und lediglich Oberbekleidung sowie eine Schlafmaske zu tragen. Für das Mädchen - insbesondere wegen des Tragens der Schlafmaske und der Dunkelheit - nicht vorhersehbar und von ihrer zunächst erteilten Einwilligung nicht gedeckt, führte er sodann, um sich sexuell zu erregen, mindestens zweimal einen Finger bis in den Scheidenvorhof der Geschädigten ein, was dieser Schmerzen bereitete (Fall C.II.1. der Urteilsgründe).
b) In einer weiteren Therapiesitzung am 20. Mai 2022 musste sich S. nackt ausziehen und auf einen drei Meter hohen Felsen steigen. Von dort sollte sie sich rücklings in einen Speichersee fallen lassen. Obgleich das Mädchen weinte und mehrmals äußerte, sie habe Furcht, wolle nicht in das Wasser gestoßen und vom Angeklagten „zur Frau“ gemacht werden, schob er es mit einer Hand an ihrer Schulter in Richtung Abgrund, sodass es in das kalte Wasser fiel. S. erlitt hierdurch Schmerzen am Rücken.
Der Angeklagte nahm zumindest billigend in Kauf, dass die Geschädigte Verletzungen erleiden würde und der Sturz für diese potentiell lebensgefährlich war (Fall C.II.2. der Urteilsgründe).
c) Im Anschluss an das unter C.II.2. der Urteilsgründe festgestellte Geschehen fuhr der Angeklagte mit S. zu einem Campingplatz. Er befahl dem Mädchen, sich in seinem Wohnwagen zu entkleiden. Aus Furcht vor dem Angeklagten und dem zuvor am Speichersee Erlebten befolgte die Geschädigte seine Anweisungen, ohne konkret ihren entgegenstehenden Willen zu äußern. Sodann massierte der Angeklagte S. unter anderem zwischen den Pobacken und an der Vulva. Er berührte ferner die Brüste des Mädchens, veranlasste es, sich in den Vierfüßlerstand zu begeben, und fasste es im Intimbereich an. Schließlich forderte er die Geschädigte auf, sich auf die Seite zu legen. In dieser Position befahl er ihr, die Beine zu öffnen, und drang mit seinem erigierten Penis - nicht ausschließbar ein Kondom verwendend - zumindest in ihren Scheidenvorhof ein, was ihr Schmerzen bereitete. Das Mädchen äußerte dies gegenüber dem Angeklagten und fing an zu weinen. Obwohl er spätestens jetzt den entgegenstehenden Willen der Geschädigten zumindest für möglich hielt, setzte sich der Angeklagte hierüber hinweg und drang weiterhin mit seinem Glied vaginal in das Mädchen ein, um sich sexuell zu erregen. Nicht ausschließbar kam er zu keinem Samenerguss (Fall C.II.3. der Urteilsgründe).
Der Angeklagte kannte das Alter von S. und nutzte in den Fällen C.II.1. und C.II.3. jeweils das auf dem Therapieverhältnis beruhende Machtgefälle sowie die mangelnde Fähigkeit der Geschädigten zur sexuellen Selbstbestimmung aus.
2. Das Landgericht hat den Sachverhalt im Fall C.II.2. der Urteilsgründe als gefährliche Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB), in den Fällen C.II.1. und C.II.3. als Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses und mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen (§ 177 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3, Abs. 6 Nr. 1, § 174c Abs. 1, Abs. 2, § 182 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 5, § 52 StGB) gewürdigt. Es ist dabei - in Abgrenzung zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - davon ausgegangen, der Anwendungsbereich des § 174c Abs. 2 StGB sei nicht auf den Personenkreis beschränkt, der berechtigt ist, die Bezeichnung „Psychotherapeut“ zu führen (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 4 PsychThG), sondern könne von jedermann verwirklicht werden.
Die Revision des Angeklagten erweist sich weitgehend als unbegründet.
1. Die Verfahrensrüge ist nicht ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
2. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der erhobenen Sachrüge hat im Wesentlichen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt. Lediglich der Schuldspruch in den Fällen C.II.1. und C.II.3. der Urteilsgründe war abzuändern, da sich der Angeklagte nicht des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses (§ 174c Abs. 2 StGB) strafbar gemacht hat.
a) Beanstandungsfrei hat das Landgericht den festgestellten Sachverhalt im Fall C.II.2. der Urteilsgründe als gefährliche Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) und in den Fällen C.II.1. und C.II.3. als Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen (§ 177 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3, Abs. 6 Nr. 1, § 182 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 5, § 52 StGB) gewürdigt. Insbesondere tragen die Feststellungen noch die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe im Fall C.II.3. mit dem nicht explizit ausgesprochenen entgegenstehenden Willen der Geschädigten gerechnet und diesen billigend in Kauf genommen.
b) Die Subsumtion unter den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses (§ 174c Abs. 2 StGB) in den Fällen C.II.1. und C.II.3. der Urteilsgründe erweist sich jedoch als rechtsfehlerhaft.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann Täter im Sinne des § 174c Abs. 2 StGB nur sein, wer berechtigt ist, die Bezeichnung „Psychotherapeut“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 4 PsychThG zu führen und sich bei der Behandlung wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren bedient (BGH, Beschluss vom 29. September 2009 - 1 StR 426/09, BGHSt 54, 169 Rn. 8 ff.). Dies trifft auf den Angeklagten nicht zu.
bb) Der Senat sieht trotz der insoweit durch die Literatur geäußerten Bedenken (vgl. u.a. Hörnle in LK-StGB, 13. Aufl., § 174c Rn. 30 ff.; Renzikowski in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 174c Rn. 23; Eisele in Schönke/Schröder-StGB, 30. Aufl., § 174c Rn. 8; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 174c Rn. 6b ff.; Renzikowski, NStZ 2010, 694 ff.; anders jedoch: Ziegler in BeckOK-StGB, 60. Edit., § 174c Rn. 6; Heger in Lackner/Kühl/Heger-StGB, 30. Aufl., § 174c Rn. 7) und der Ausführungen des Landgerichts sowie des Generalbundesanwalts keinen Anlass, seine Rechtsprechung zu ändern. Sämtliche durch das Tatgericht und den Generalbundesanwalt angesprochenen Aspekte wurden vom Senat bei seiner Entscheidung vom 29. September 2009 bedacht und ausführlich erörtert. Gleiches gilt für die in der Literatur geäußerte Kritik. Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
(1) Die Argumentation des Landgerichts und des Generalbundesanwalts vermag insbesondere die verfassungsrechtlichen Bedenken des Senats gegen eine weite Auslegung des Tatbestands im Sinne eines Allgemeindelikts nicht auszuräumen.
(a) Der Generalbundesanwalt geht davon aus, dass § 174c Abs. 2 StGB durch das Tatbestandsmerkmal „psychotherapeutisch“ nicht hinreichend bestimmt werde. Denn unter „Psychotherapie“ sei jede Heilbehandlung der Seele zu verstehen, sodass jeder Normadressat sein könne, der die erkrankte Seele eines anderen - auf welche Weise auch immer - behandeln oder heilen wolle, was zu einem „uferlosen“ Täterkreis führen würde. Seine Eingrenzbarkeit erfahre der Tatbestand jedoch durch die weitere Voraussetzung „zur Behandlung anvertraut“. Ein „Behandlungsverhältnis“ könne anhand objektiver Kriterien wie Grund, Zweck und Inhalte der Therapie beurteilt werden; hieraus werde dann auch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Behandler und dem Behandelten deutlich (vgl. dazu auch die durch den Generalbundesanwalt in Bezug genommenen Ausführungen von Gutmann/Tibone/Schleu/Thorwart in MedR 2019, 18, 20).
(b) Diese Argumentation überzeugt nicht. Denn der in § 174c Abs. 1 und § 174c Abs. 2 StGB einheitlich verwendete Begriff des „zur Behandlung anvertraut“ sein ist unter Berücksichtigung des Willens des Gesetzgebers nicht geeignet, § 174c Abs. 2 StGB hinreichend einzugrenzen. Der Normgeber versteht diesen Begriff sehr weit und wollte den nach der Argumentation des Generalbundesanwalts erforderlichen - für das Opfer belastenden - Nachweis eines im konkreten Fall bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses gerade nicht (BT-Drucks. 13/8267 S. 7). Die Schutzbedürftigkeit potentieller Tatopfer ergibt sich nach der Intention des Gesetzgebers in der Tatbestandsvariante des § 174c Abs. 1 StGB aus der wissenschaftlicher Bewertung zugänglichen physischen oder psychischen Erkrankung der missbrauchten Person, in der Variante des § 174c Abs. 2 StGB, die keine objektivierbare seelische Erkrankung des Opfers voraussetzt, sondern jedes - auch vorübergehende - subjektive Unwohlsein ausreichen lässt (vgl. BT-Drucks. 13/8267 S. 7) in dem Eingehen einer oder Überantwortetwerden in eine „psychotherapeutische Behandlung“ (BT-Drucks. 13/8267 S. 4), für die der Gesetzgeber das Entstehen eines Abhängigkeitsverhältnisses und damit die besondere Schutzbedürftigkeit der Behandelten regelmäßig voraussetzt (BT-Drucks. 13/8267 S. 5).
Unter Zugrundelegung dessen kann der Tatbestand des § 174c Abs. 2 StGB seine Eingrenzung nicht in dem Merkmal „zur Behandlung anvertraut“ sein und dem Nachweis eines im konkreten Fall bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses erfahren. Vielmehr ist ein unabhängig vom Einzelfall verbindliches, für den Normadressaten vorhersehbares Kriterium heranzuziehen, das der Senat weiterhin in der Eingrenzung des Täterkreises auf Personen sieht, die die Bezeichnung „Psychotherapeut“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 PsychThG führen dürfen und sich bei der Behandlung wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren bedient (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2009 - 1 StR 426/09, BGHSt 54, 169 Rn. 8 ff.).
(2) Ein von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abweichender Wille des Normgebers ist nicht ersichtlich. Der Gesetzgeber hat sich in Kenntnis dieser Rechtsprechung trotz mehrfacher Änderungen der Straftatbestände betreffend die sexuelle Selbstbestimmung zu keiner (klarstellenden) Änderung des § 174c Abs. 2 StGB veranlasst gesehen. Sofern rechtspolitisch eine weitergehende Pönalisierung erwünscht sein sollte, wäre es Aufgabe der Legislative, diese durch eine dem Bestimmtheitsgebot Rechnung tragende Regelung herbeizuführen (vgl. zum Ganzen auch den Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht vom 19. Juli 2017, S. 164 ff., 170, 353).
c) Der Senat ändert den Schuldspruch in analoger Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO ab.
d) Der Strafausspruch bleibt von dieser den Angeklagten nicht beschwerenden und mit Blick auf § 265 StPO unbedenklichen Schuldspruchänderung unberührt. Das Landgericht hat die tateinheitliche Verwirklichung des § 174c Abs. 2 StGB in den Fällen C.II.1. und C.II.3. der Urteilsgründe ausdrücklich nicht strafschärfend gewürdigt. Die konkrete Tatsituation und den Umstand, dass sich der Angeklagte das Vertrauen der Familie der Geschädigten erschlichen hatte, konnte - ungeachtet der Anwendbarkeit des § 174c Abs. 2 StGB - zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden. Es ist daher auszuschließen (§ 354 Abs. 1 StPO entsprechend, § 337 Abs. 1 StPO), dass das Landgericht bei zutreffender rechtlicher Würdigung niedrigere Einzelstrafen oder eine für den Angeklagten günstigere Gesamtstrafe verhängt hätte.
3. Angesichts des geringen Erfolgs der Revision ist es nicht unbillig, den Beschwerdeführer mit den gesamten durch sein Rechtsmittel entstandenen Kosten und Auslagen zu belasten (§ 473 Abs. 1 und 4 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 786
Bearbeiter: Christian Becker