HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 943
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 416/23, Urteil v. 12.06.2024, HRRS 2024 Nr. 943
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 15. Mai 2023 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die hiergegen gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten, mit denen sie jeweils die Verletzung sachlichen Rechts beanstanden, haben Erfolg. Denn die Ermittlung des steuerpflichtigen Veräußerungsgewinns (§ 17 EStG) und damit des Verkürzungsumfangs im angefochtenen Urteil ist nicht nachzuvollziehen. Damit sind Rechtsfehler sowohl zugunsten als auch zu Lasten des Angeklagten nicht auszuschließen; diese können sich sogar auf den Schuldspruch auswirken.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte Anfang 2012 mit 50,36 % am Stammkapital der g. GmbH und mit 20,67 % am Stammkapital der S. GmbH beteiligt. Mit notariellem Vertrag vom 1. Februar 2012 veräußerte er seine Anteile an die a. GmbH und erzielte dadurch einen steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn (§ 17 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 EStG), der sich nach den Berechnungen des Landgerichts auf 651.878 € belief. Dennoch gab der Angeklagte, der im Veranlagungsjahr zudem Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 24.846 € (nach Abzug des Arbeitnehmer-Pauschbetrags) und aus Kapitalvermögen in Höhe von 9.793 € vereinnahmte, auch nach Ablauf des 31. Mai 2013 keine Einkommensteuererklärung ab. Das Finanzamt F., in dessen Bezirk der Angeklagte zwischenzeitlich verzogen war, schätzte daher - vor dem allgemeinen Veranlagungsschluss zum 31. Dezember 2014 - mit Bescheid vom 11. November 2013 die Einkünfte des Angeklagten und setzte in Unkenntnis des Veräußerungsgewinns eine Einkommensteuer nur in Höhe von 8.784 € nebst Solidaritätszuschlag in Höhe von 483,12 € fest. Dadurch verkürzte der Angeklagte nach den Berechnungen des Landgerichts - unter Berücksichtigung eines mit Bescheid vom 15. Mai 2014 gesondert festgestellten Verlusts aus Gewerbebetrieb in Höhe von 56.277 € - 138.166 € an Einkommensteuer und 7.599,18 € an Solidaritätszuschlag.
Der Angeklagte, der sowohl mit der a. GmbH als auch mit der S. GmbH zudem einen Beratervertrag im Zusammenhang mit den Anteilsübertragungen am 1. Februar 2012 bzw. 1. Mai 2012 abgeschlossen hatte, stritt mit diesen beiden Gesellschaften über deren Zahlungspflichten. Am 17. Dezember 2013 schlossen die Gesellschaften und der Angeklagte einen Vergleich, auf dessen Grundlage der Angeklagte weitere Gelder vereinnahmte, womit die Parteien auch ihre Rechtsstreitigkeiten über den Anteilsverkauf beendeten. Am 9. Januar 2019 ließ der Angeklagte, der seinen Wohnsitz erneut verlegt hatte, einen Veräußerungsverlust in Höhe von 117.051 € erklären; am 31. Mai 2019 gab er eine weitere Einkommensteuererklärung ab. Das Finanzamt L. setzte am 7. Juni 2019 nach Aufhebung des Bescheids vom 11. November 2013 die Einkommensteuer für 2012 auf 993.151 € fest. Diesen Betrag trieb das Finanzamt insbesondere durch Vollziehung eines Arrests mittlerweile bei.
2. Das Landgericht hat den Veräußerungserlös mit 3.244.869 € (Barkaufpreis in Höhe von 100.000 € zuzüglich Befreiung von Verbindlichkeiten gegenüber der g. GmbH und der S. GmbH in Höhe von insgesamt 2.652.316,02 € zuzüglich Übernahme von Beratungskosten in Höhe von insgesamt 317.125 € zuzüglich Beratungsleistungen in Höhe von 175.428 €) ermittelt. Davon hat das Landgericht die bis zum 14. November 2013, dem Tag des Zugangs des Schätzungsbescheids vom 11. November 2013, entstandenen Veräußerungskosten mit einem Betrag von 2.592.991,29 € abgezogen. Dieser setzt sich aus dem Nennwert der Beteiligungen in Höhe von insgesamt 516.000 €, der Rückzahlung einer unberechtigten Gewinnausschüttung in Höhe von 1.358.234 €, der bereits erwähnten Beratungskosten in Höhe von insgesamt 317.125 € und Darlehensaufwendungen in Höhe von 401.632,29 € zusammen. Nach Abzug eines steuerfreien Anteils von 40 % und eines festgestellten Verlusts in Höhe von 56.277 € hat das Landgericht die Einkünfte aus Gewerbebetrieb mit 334.850 € angesetzt.
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Die Feststellungen zum Veräußerungsgewinn und damit zum Verkürzungsumfang (§ 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 AO) sind derart lückenhaft, dass der Senat nicht beurteilen kann, ob das Landgericht zugunsten des Angeklagten von einem deutlich zu geringen Schuldumfang ausgegangen ist.
a) Die Höhe der Steuerverkürzung (§ 370 Abs. 1 AO) ergibt sich aus dem Vergleich der tatsächlich geschuldeten mit der zu niedrig festgesetzten Steuer (Vergleich der Soll-Steuer mit der Ist-Steuer; st. Rspr.; etwa BGH, Beschluss vom 10. März 2021 - 1 StR 499/20 Rn. 10). Zur Bestimmung der Soll-Steuer hätte das Landgericht den Veräußerungsgewinn rechtsfehlerfrei bestimmen müssen. Von jener ist - insoweit ist das Landgericht rechtsfehlerfrei vorgegangen - der mit dem Schätzungsbescheid vom 11. November 2013 festgesetzte Betrag abzuziehen. Zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens dieses Bescheids war die Steuerverkürzung vollendet (st. Rspr.; zuletzt BGH, Beschluss vom 16. Mai 2023 - 1 StR 79/23 Rn. 6 mwN).
Veräußerungsgewinn ist der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt (§ 17 Abs. 2 Satz 1 EStG). Er entsteht mit Übergang der zivilrechtlichen Inhaberschaft (§ 39 Abs. 1 AO) oder zumindest des sogenannten wirtschaftlichen Eigentums (§ 39 Abs. 2 Nr. 1 AO) an den Anteilen auf den Erwerber und ist damit bereits in diesem Veranlagungszeitraum zu versteuern. Bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns bestimmen sich alle relevanten wertbestimmenden Faktoren grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Veräußerung; auf den Zufluss des Entgelts (§ 11 EStG) kommt es nicht an (Stichtagsprinzip; vgl. nur BGH, Urteil vom 14. Juni 2023 - 1 StR 209/22 Rn. 13; BFH, Urteile vom 1. Dezember 2020 - VIII R 21/17, BFHE 271, 482 Rn. 48 und vom 4. Februar 2020 - IX R 7/18 Rn. 25; jeweils mwN). Zu dieser Zeit bestehenden Unwägbarkeiten ist durch Schätzung Rechnung zu tragen. Nach dem Teileinkünfteverfahren sind vom Veräußerungspreis nur 60 % steuerpflichtig (§ 3 Nr. 40c EStG); die Veräußerungs- und Anschaffungskosten sind ebenfalls mit 60 % anzusetzen (§ 3c Abs. 2 EStG). Gegebenenfalls ist ein Freibetrag nach § 17 Abs. 3 EStG zu berücksichtigen.
b) Das Urteil ist bereits deswegen defizitär, weil das Landgericht nicht einmal den im Vertrag vom 1. Februar 2012 vereinbarten Veräußerungspreis festgestellt hat; es ist vielmehr allein und damit rechtsfehlerhaft von den zugeflossenen Vermögensvorteilen ausgegangen. Nach dem - ebenfalls nur rudimentär im Urteil mitgeteilten - Bescheid vom 7. Juni 2019 mit einer Einkommensteuer in Höhe von 993.151 € für das Jahr 2012 drängt sich aber auf, dass der Veräußerungspreis den vom Landgericht zugrunde gelegten Betrag um ein Vielfaches übersteigt. Offensichtlich hat das Landgericht nicht alle für die Bestimmung des Veräußerungspreises relevanten Klauseln aus dem Vertragswerk vom 1. Februar 2012 mitgeteilt. Entsprechendes gilt für die beiden Beraterverträge, die in die Bestimmung des Veräußerungspreises miteinzubeziehen sein dürften. Für ein wesentlich höheres Entgelt und damit einen wesentlich höheren Veräußerungsgewinn spricht auch der Vergleich vom 17. Dezember 2013, auf dessen Grundlage der Angeklagte weitere offensichtlich beachtliche Beträge als Gegenleistung für die Anteilsübertragung vereinnahmte.
c) Entgegen der Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft unterlagen hingegen etwaige Falscherklärungen des Angeklagten aus dem Jahr 2019 nach dem Wirksamwerden des Schätzungsbescheids vom 11. November 2013 nicht der Kognitionspflicht des Tatgerichts. Denn mit Zugang des Bescheids beim Angeklagten war die Steuerverkürzung nicht nur vollendet, sondern sogar beendet. Etwaige neue Taten aus dem Jahr 2019 sind damit gegenüber dem im November 2013 abgeschlossenen Sachverhalt eine neue prozessuale Tat. Um verfahrensgegenständlich zu werden, hätte die Anklage vom 15. Oktober 2021 diese Falscherklärungen aufnehmen müssen, was aber nicht der Fall ist (zum prozessualen Tatbegriff des § 264 Abs. 1 StPO im Steuerstrafrecht vgl. nur BGH, Beschluss vom 27. Mai 2009 - 1 StR 665/08 Rn. 5; Urteil vom 11. September 2007 - 5 StR 213/07, BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 43 Rn. 36-39).
2. Aus dem Vorgenannten unter II. 1. a) und b) ergibt sich zugleich, dass die Revision des Angeklagten begründet ist. Der Senat kann infolge der lückenhaften Feststellungen dem Urteil hinreichend letztlich nicht einmal sicher entnehmen, dass der Angeklagte überhaupt einen steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn erzielte, der den offensichtlich berechtigten Verlust in Höhe von 56.277 € überstieg. Da damit eine Verkürzung bereits dem Grunde nach in Frage steht, unterliegt das Urteil der vollständigen Aufhebung. Auch die Anschaffungs- und Veräußerungskosten bedürfen umfassend der neuen tatgerichtlichen Aufklärung und Bewertung.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 943
Bearbeiter: Christoph Henckel