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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 9

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 225/23, Urteil v. 18.10.2023, HRRS 2024 Nr. 9


BGH 1 StR 225/23 - Urteil vom 18. Oktober 2023 (LG Baden-Baden)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose).

§ 63 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 19. Dezember 2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zu dem äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrem ebenfalls mit der Sachrüge begründeten Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, die Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Die - infolge der Unwirksamkeit der Beschränkung umfassend eingelegte - Revision der Staatsanwaltschaft und das Rechtsmittel der Angeklagten erweisen sich überwiegend als begründet.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Im November 2021 erkrankte die Angeklagte schwer an COVID-19 und erlitt eine Lungenembolie, weswegen sie unter anderem über mehrere Tage intensivmedizinisch im Krankenhaus behandelt und auch beatmet werden musste. Nach Entlassung aus der Klinik verbesserte sich ihr Zustand so weit, dass sie mit einer Sauerstoffsättigung von 98 Prozent nahezu ihre volle Lungenfunktion wiedererlangte. Dessen ungeachtet entwickelte sie in der Folge - als Ausdruck einer psychischen Erkrankung, die diagnostisch am wahrscheinlichsten als larvierte Depression mit psychotischen Symptomen einzustufen ist - die wahnhafte, unbeirrbare Überzeugung, weiterhin schwer lungenkrank zu sein und nur noch kurze Zeit zu leben zu haben. Speziell gegenüber ihrem Ehemann, mit dem sie sich zuvor gut verstanden hatte und der ihren Genesungsprozess - wie auch ihr Sohn - nach Kräften unterstützte, entwickelte sie eine wachsende innere Feindseligkeit, weil sie sich in ihrer Angst vor einem baldigen Erstickungstod von diesem nicht hinreichend ernst genommen fühlte. In der Nacht vom 20. auf den 21. Mai 2022 drückte sie daher ihrem Gatten ein Kissen in das Gesicht, während er schlief. Eine sarkastische Reaktion ihres Ehemanns auf ihre häufigen Äußerungen über ihren herannahenden Tod wenige Tage vor der Tat brachte die Angeklagte weiter gegen das spätere Tatopfer auf.

Am 29. Mai 2022 spitzten sich die negativen Emotionen der Angeklagten gegenüber ihrem Gatten dergestalt zu, dass sie morgens ein Hochzeitsfoto zerschnitt und eine Teilnahme am Familienabendessen mit der Bemerkung verweigerte, sie wolle nicht mit zwei „Verrätern“ oder „Scheinheiligen“ zusammen speisen.

Als sich ihr Ehemann in die Küche begeben hatte, entschloss sich die Angeklagte, diesen zu töten. Ihren vermeintlichen eigenen Tod vor Augen gönnte sie ihm nicht, dass er weiterleben dürfe. In Umsetzung dieses Entschlusses betrat sie gegen 20.20 Uhr ihrerseits die Küche und stach mit einem Küchenmesser ihrem Gatten in Tötungsabsicht von hinten im Bereich der fünften Rippe wuchtig in den Rücken; der Stich durchdrang die Körperhautschlagader. Dabei erkannte und nutzte die Angeklagte aus, dass er sich keines Angriffs auf seinen Leib oder sein Leben versah und deshalb keine Möglichkeit hatte, sich gegen den Stich wirksam zu verteidigen. Der Ehemann verstarb infolge des hohen Blutverlusts.

Bei Begehung der Tat war die Fähigkeit der Angeklagten, nach ihrer Einsicht in das Unrecht derselben zu handeln, infolge ihrer psychischen Erkrankung erheblich vermindert im Sinne der §§ 20, 21 StGB.

2. Die Voraussetzungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Landgericht verneint. Die Schwurgerichtskammer ist zwar davon ausgegangen, dass es sich bei der psychischen Erkrankung der Angeklagten - ungeachtet ihrer genauen diagnostischen Einordnung - um einen länger andauernden Zustand handelt. Sie hat jedoch nicht sicher feststellen können, dass die Angeklagte deshalb mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Allgemeinheit gefährlich ist.

II.

1. Revision der Staatsanwaltschaft

a) Zwar hat die Anklagebehörde ihre Revision ausdrücklich auf die unterbliebene Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus beschränkt. Diese Beschränkung ist jedoch unwirksam: Die Gefährlichkeitsprognose lässt sich angesichts der hier festgestellten Besonderheiten der wahnhaften Symptomatik und des Tatbildes nicht losgelöst von der psychischen Grunderkrankung der Angeklagten beurteilen. Es ist nicht auszuschließen, dass bei einer erneuten psychiatrischen Begutachtung der Wahrscheinlichkeit künftiger erheblicher Straftaten sich weitere Tatsachen ergeben, die auch eine umfassend neue Beurteilung der Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) erfordern; erst recht sind widersprüchliche Feststellungen (Handeln nach einem psychotischen Schub einerseits und aus - auch normalpsychologisch erklärbarem - Neid andererseits) zu vermeiden.

b) Das Rechtsmittel ist überwiegend begründet.

aa) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat(en) ergibt, dass von ihm infolge seines fortdauernden Zustands mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird.

Die insoweit notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Betroffenen infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Dabei sind neben der konkreten Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung auch die auf die Person des Täters und seine konkrete Lebenssituation bezogenen Risikofaktoren, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition zur Begehung von Straftaten jenseits der Anlasstaten belegen können, einzustellen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20 Rn. 7 mwN).

bb) Gemessen an diesen Maßstäben erweisen sich die Erwägungen des Landgerichts zur Gefährlichkeitsprognose als lückenhaft.

Die Schwurgerichtskammer hat ihre Entscheidung im Wesentlichen auf die - aus ihrer Sicht - nicht ausreichend aussagekräftigen Ausführungen des hinzugezogenen Sachverständigten gestützt. Dieser habe lediglich dargelegt, ohne hinreichende Behandlung sei mit weiteren aggressiven Handlungen der Angeklagten gegenüber Personen aus dem sozialen Nahbereich zu rechnen. Gefährdet seien dabei jeweils die Personen, mit denen sie eng zusammenleben müsse, wie Klinikpersonal, Mitbewohner in einer Wohngemeinschaft oder aber ihr Sohn. Die Gefahr sei „relativ hoch“ für den Fall, dass die Angeklagte „wieder auf sich alleine gestellt“ wäre. Je näher ihr eine andere Person komme, desto gefährdeter sei diese. Das Landgericht vermochte sich auf dieser Grundlage von der Wahrscheinlichkeit höheren Grades, dass die Angeklagte auch künftig für die Allgemeinheit gefährlich sei, nicht zu überzeugen, zumal diese bislang lediglich gegenüber ihrem Ehemann gewalttätig geworden sei, ihren Sohn, der auf ihre Ankündigungen bald zu sterben, ebenso genervt wie sein Vater reagiert hätte, hingegen verschont habe. Auch sei sie gegenüber anderen Personen, die ihre (Wahn-)Vorstellung eines baldigen Todes nicht teilten, wie ihre behandelnde Ärztin oder das medizinischen Personal in der Einrichtung, in der die einstweilige Unterbringung vollstreckt werde, nicht übergriffig geworden.

Die Prognoseentscheidung der Schwurgerichtskammer erweist sich schon deshalb als lückenhaft, weil nicht darlegt wird, warum der Sachverständige („nur“) zu der Einschätzung gekommen ist, die Gefahr aggressiven Verhaltens der Angeklagten gegenüber ihrem sozialen Nahfeld sei „relativ hoch“, wenn sie „wieder auf sich alleine gestellt“ sei. Was der Sachverständige und/oder die Schwurgerichtskammer dabei unter „relativ hoch“ verstehen, bleibt offen. Ebenso wenig erschließt sich, mit welchen Taten der Angeklagten zu rechnen ist. Allein der Umstand, dass sich die Übergriffe der Angeklagten in der Vergangenheit ausschließlich gegen ihren Ehemann richteten, vermag die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie infolge ihrer psychischen Erkrankung künftig auch gegenüber anderen Personen aus ihrem sozialen Nahbereich rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 StGB begehen wird, nicht auszuschließen. Denn aus den Feststellungen ergibt sich, dass die Angeklagte bis zu ihrer Erkrankung nach eigenen Angaben eine intakte Ehe führte (UA S. 7/8), was dafürspricht, dass die Tötung ihres Gatten nicht in dessen Person, sondern in seinem Verhalten begründet war, die Vorstellung der Angeklagten von ihrem baldigen Tod nicht ernst zu nehmen. Die Schwurgerichtskammer hätte vor diesem Hintergrund in den Blick nehmen müssen, dass auch jede andere Bezugsperson, die die (Wahn-)Vorstellungen der Angeklagten nicht teilt, bedroht sein könnte, zumal die Angeklagte auch ihren Sohn als „Verräter“ und „Scheinheiligen“ bezeichnete (UA S. 5). Dass sie sich bislang nur an ihrem Ehemann tätlich abreagierte, schließt nicht aus, dass sie sich nach dessen Tod hierfür ein anderes Opfer suchen wird.

cc) Das Urteil ist wegen des aufgezeigten Rechtsfehlers insgesamt aufzuheben. Eine auf die unterbliebene Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beschränkte Aufhebung kommt - wie unter II. 1. dargelegt - nicht in Betracht. Allein die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen sind hiervon nicht betroffen und bleiben bestehen.

2. Revision der Angeklagten Das Urteil unterliegt auch auf die Revision der Angeklagten in dem unter II. 1. dargelegten Umfang der Aufhebung. Das Verschlechterungsverbot steht dem nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO). Im Übrigen erweist sich das Rechtsmittel der Angeklagten aus den zutreffenden Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts als unbegründet.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 9

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede