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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1375

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 199/23, Beschluss v. 19.09.2023, HRRS 2023 Nr. 1375


BGH 1 StR 199/23 - Beschluss vom 19. September 2023 (LG München I)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Anforderungen an die Urteilsdarstellungen, wenn von der Einschätzung eines Sachverständigen abgewichen werden soll); Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Erfolgsprognose).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO; § 64 Satz 2 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 25. Januar 2023 aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und deren Vollziehung vor der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden sind; diese Anordnungen entfallen.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sechs Taten - im Fall C. IV. der Urteilsgründe unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB), im Übrigen überwiegend wegen Vergehen des Widerstands gegen und des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§§ 113, 114 StGB), des Widerstands gegen oder tätlichen Angriffs auf Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen (§ 115 StGB), sowie der versuchten Körperverletzung (§§ 223, 22, 23 StGB) und der Beleidigung (§ 185 StGB) - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. Das Landgericht hat die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) sowie in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) angeordnet und bestimmt, dass die Unterbringung nach § 64 StGB zuerst zu vollstrecken ist. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Bei dem Angeklagten wurde eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit vornehmlich emotional-instabilen und dissozialen Wesenszügen diagnostiziert, ferner eine Persönlichkeitsakzentuierung im Bereich Psychopathie. Krankheitsbedingt verfügt er über eine lediglich eingeschränkte Impulskontrolle und Frustrationstoleranz sowie eine niedrige Schwelle für gewalttätiges Verhalten bei andauernder Reizbarkeit. Daneben leidet der Angeklagte an einer Alkoholabhängigkeit und einer Abhängigkeit von Cannabis, Sedativa und Stimulanzien. Bei Tatbegehung befand er sich jeweils in einem Rauschzustand, innerhalb dessen er seine Neigung zu impulsiv-aggressivem Verhalten nicht mehr ausreichend kontrollieren konnte. Seine Steuerungsfähigkeit war jeweils erheblich vermindert.

Sachverständig beraten hat die Strafkammer die Überzeugung gewonnen, dass der Angeklagte ein „Hochrisikoprofil“ aufweise. Im Falle einer Alkohol- bzw. Mischintoxikation sei mit neuerlichen, den Anlasstaten vergleichbaren Taten mit einem hohen Verletzungsrisiko zu rechnen. Selbst wenn der Angeklagte keine Suchtmittel konsumiert habe, könne es aufgrund seiner ausgeprägten Persönlichkeitsstörung zu weiteren Gewaltdelikten kommen. Zugleich bildeten die krankheitsbedingten Einschränkungen der Impulskontrolle und Frustrationstoleranz gravierende Risikofaktoren für Rückfälle in den Alkohol- und/oder Drogenkonsum.

2. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils hat lediglich zum Maßregelausspruch einen den Angeklagten belastenden Rechtsfehler ergeben. Die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) kann nicht bestehen bleiben.

a) Das Landgericht war entgegen den Ausführungen der gehörten Sachverständigen der Auffassung, bei dem Angeklagten sei die zur Anordnung der Maßregel erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB gegeben. Zwar ist ein Gericht nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen, da dieses stets nur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann; insbesondere kann ihm das erstattete Gutachten die erforderliche Sachkunde verschafft haben, um die zu klärende Beweisfrage eigenständig und auch im Gegensatz zum Sachverständigen zu beantworten. Will es jedoch eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe in Anspruch nehmen musste, im Widerspruch zu dem Gutachten beantworten, muss es die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung erlaubt, ob es das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat. Hierzu bedarf es einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Sachverständigen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 28. Mai 2018 - 1 StR 51/18 Rn. 10 und vom 29. September 2015 - 1 StR 287/15 Rn. 17; Beschlüsse vom 17. Januar 2023 - 5 StR 525/22 Rn. 16 und vom 21. August 2014 - 3 StR 341/14 Rn. 4; jeweils mwN).

b) Dies lässt die angefochtene Entscheidung vermissen. Das Landgericht referiert die gehörte Sachverständige dahingehend, dass der Angeklagte im vorangegangenen Maßregelvollzug (§ 64 StGB), den er sieben Monate vor Beginn des gegenständlichen Tatzeitraums nach Ablauf der Höchstfrist erfolglos beendet hatte, „nicht in der Lage gewesen sei, Therapieinhalte zu verinnerlichen und umzusetzen, was auf seine Persönlichkeitsstörung zurückzuführen sei“ (UA S. 61). Diese Einschätzung teilen sämtliche in die bisherige Behandlung des Angeklagten eingebundene Psychiater, die das Landgericht als sachverständige Zeugen vernommen hat (UA S. 61). Danach macht eine Therapie zur Entwöhnung von Alkohol und anderen Suchtmitteln solange keinen Sinn, wie die das „Hochrisikoprofil“ des Angeklagten prägende, nicht zuletzt die Gefahr von Rückfällen in die Alkohol- und Drogensucht gravierend erhöhende (vgl. UA S. 66) Persönlichkeitsstörung keine Behandlung erfährt. Soweit das Landgericht dennoch die Auffassung vertritt, dass bereits „die drohende Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für den Angeklagten einen ganz erheblichen Anreiz darstellt, eine Therapie erfolgreich durchzustehen und die Inhalte der Therapie […] nunmehr tatsächlich zu verinnerlichen“ (UA S. 61) - weshalb es sich „unter Berücksichtigung einer gleichzeitigen Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB […] gerade noch in der Lage [sieht], die Erfolgsaussichten zu bejahen“ (UA S. 62) -, setzt es sich mit den sachverständigen Ausführungen zu den störungsbedingt stark beschränkten Fähigkeiten des Angeklagten unter anderem zum Bedürfnisaufschub und Lernen (vgl. UA S. 24) nicht auseinander. Der Verweis des Landgerichts auf eine vom Angeklagten in der Hauptverhandlung geäußerte „gewisse Therapiemotivation“ (UA S. 61) reicht jedenfalls mit Blick auf die sachverständig belegte Dominanz von dessen Persönlichkeitsstörung nicht aus, das Abweichen von der sachverständigen Einschätzung über die hinreichende Erfolgsaussicht zu rechtfertigen.

3. Der Senat schließt aus, dass in einer neuen Verhandlung Feststellungen getroffen werden können, die eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB rechtfertigen. Insoweit hebt er daher den Maßregelausspruch in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO auf und lässt die Maßregel entfallen; gleiches gilt für die Anordnung von deren Vorwegvollzug. Die Alkohol- und Substanzabhängigkeit des Angeklagten sind in der Unterbringung nach § 63 StGB mitzubehandeln (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Februar 2016 - 3 StR 6/16 Rn. 8 und vom 21. August 2014 - 3 StR 341/14 Rn. 4 aE).

4. Der verhältnismäßig geringe Teilerfolg des unbeschränkt eingelegten Rechtsmittels gebietet es nicht, den Angeklagten aus Billigkeitsgründen auch nur teilweise von der Belastung mit Kosten und notwendigen Auslagen freizustellen (§ 473 Abs. 4 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1375

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede