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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1066

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 304/22, Urteil v. 14.06.2023, HRRS 2023 Nr. 1066


BGH 1 StR 304/22 - Urteil vom 14. Juni 2023 (LG Bonn)

Verständigung (keine Pflicht zur Protokollierung gescheiterter Verständigungsgespräche in der Hauptverhandlung); bandenmäßige Hinterziehung von Umsatzsteuer (Begriff der Bande: kein Erfordernis einer gefestigten Bandenstruktur).

§ 257c Abs. 1 StPO; § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO; § 370 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO

Leitsatz des Bearbeiters

Eine Pflicht zur Protokollierung des wesentlichen Inhalts in der öffentlichen Hauptverhandlung geführter gescheiterter Verständigungsgespräche sieht das Gesetz nicht vor.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft betreffend alle Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 8. Oktober 2021 in den Strafaussprüchen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehenden Revisionen der Staatsanwaltschaft betreffend die Angeklagten G. und B. sowie die Revisionen der Angeklagten G. und B. werden verworfen.

3. Die Angeklagten G. und B. haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen Steuerhinterziehung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, die Angeklagten G. und B. wegen Beihilfe hierzu zu Gesamtfreiheitsstrafen von acht beziehungsweise zehn Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Strafen hat es jeweils zur Bewährung ausgesetzt.

Die Angeklagten G. und B. wenden sich mit ihren auf Verfahrensbeanstandungen und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen gegen ihre Verurteilung. Den Rechtsmitteln bleibt der Erfolg versagt. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihren jeweils auf die Sachrüge gestützten Revisionen die täterschaftliche Verurteilung der Angeklagten G. und B. sowie die Aufhebung der Strafaussprüche betreffend alle Angeklagten. Der Generalbundesanwalt vertritt die Rechtsmittel ausschließlich, soweit sie sich gegen die Strafaussprüche richten. Insoweit sind die Revisionen begründet. Im Übrigen dringen die Beanstandungen der Staatsanwaltschaft nicht durch.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte S. übernahm Anfang 2015 vom Angeklagten G. sämtliche Geschäftsanteile an der U., die einen Versandhandel unter anderem mit Lebensmitteln betrieb. Er leitete die Gesellschaft fortan als alleiniger Geschäftsführer und wandelte diese im August 2015 in die W. GmbH (im Folgenden: W.) um. Mit Gesellschaftsvertrag vom 13. Mai 2016 gründete er zudem die T. GmbH, die denselben Geschäftszweck wie die W. hatte. Er hielt auch an dieser Gesellschaft sämtliche Anteile und übte die Geschäftsführung alleine aus.

Im Frühjahr 2015 entschloss sich der Angeklagte S. auf Nachfrage einiger Kunden und zur Verbesserung der Erträge der W., seine Abnehmer im Bundesgebiet „schwarz“ zu beliefern.

Um diese Vorgehensweise zu „legalisieren“, wandte er sich an das in den Niederlanden ansässige Unternehmen Y. Mit einem nicht näher bekannten Verantwortlichen desselben kam er überein, dass Y. mit Blick auf die Steuerfreiheit innergemeinschaftlicher Lieferungen innerdeutsche „Schwarzverkäufe“ decken sollte. Hierzu sollte Y. in entsprechenden Rechnungen, Lieferscheinen und weiteren Unterlagen als Käuferin und Empfängerin der tatsächlich an Kunden in Deutschland gelieferten Waren angegeben werden. Zur Erlangung von Speditionsunterlagen und Frachtpapieren zum Nachweis der fingierten Lieferungen wandte sich der Angeklagte S. an den Angeklagten B., der faktisch die Geschäfte der Firma C. GmbH führte. Entsprechend der Vereinbarung der Angeklagten S. und B. sollten die genannten Unterlagen durch die Firma C. GmbH zur Verfügung gestellt werden. Die tatsächlich nicht ausgeführten Transporte in die Niederlande sollten seitens der C. GmbH der W. in Rechnung gestellt und durch diese auch bezahlt werden. Die W. entrichtete hierfür im verfahrensgegenständlichen Zeitraum insgesamt 18.000 Euro an die C. GmbH.

Der Angeklagte S. stellte den Angeklagten G. bei der W. an. Er bezahlte diesem zunächst von Juni bis Oktober 2015 ein monatliches Gehalt in Höhe von 470 Euro netto, ab Monat November 2015 ein solches in Höhe von 1.800 Euro netto. Ab September 2015 war der Angeklagte G. insbesondere für den Ein- und Verkauf zuständig. Er erstellte unter anderem Rechnungen an die Firma Y. über die vermeintlich gelieferten Waren. Für die von den inländischen Kunden vereinnahmten Barzahlungen stellte er im Namen der W. Quittungen aus, denen zufolge die Zahlungen von Y. am Sitz der W. erfolgt sein sollen. Dem Angeklagten G. war dabei bewusst, dass er mit seiner Tätigkeit bei der W. die Hinterziehung von Umsatzsteuer durch den Angeklagten S. unterstützte. Er wollte sich dadurch seine Arbeitsstelle sichern und über einen höheren Lohn seine finanzielle Lage verbessern.

In Umsetzung der vorgenannten Vereinbarungen veräußerte und lieferte die W. zu Unrecht als innergemeinschaftliche Lieferungen deklarierte Waren, für die Umsatzsteuer in Höhe von 7 % zu erklären und abzuführen gewesen wäre, zu Verkaufspreisen in Höhe von 312.944,39 Euro im Jahr 2015 und 1.978.142,39 Euro im Jahr 2016. Hierdurch wurde Umsatzsteuer in Höhe von 20.472,91 Euro (2015) bzw. 129.411,18 Euro (2016) verkürzt.

Auch für die T. GmbH täuschte der Angeklagte S. nach vorbezeichnetem Muster mit Hilfe der Angeklagten G. und B. innergemeinschaftliche Lieferungen vor. Tatsächlich wurden seitens der T. GmbH im Jahr 2016 Waren zu einem Verkaufspreis in Höhe von 123.587,80 Euro innerhalb Deutschlands verkauft und geliefert, für die 7 % Umsatzsteuer zu erklären und abzuführen gewesen wäre. Hierdurch wurde Umsatzsteuer in Höhe von 8.085,13 Euro verkürzt.

2. Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen drei Fällen der Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, § 53 StGB) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, die Angeklagten G. und B. wegen Beihilfe hierzu (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, §§ 27, 53 StGB) zu Gesamtfreiheitsstrafen von acht beziehungsweise zehn Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Strafen hat es jeweils zur Bewährung ausgesetzt. Von der Anwendung des Regelbeispiels des § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO hat es abgesehen.

II.

Die zuungunsten der Angeklagten eingelegten - hinsichtlich des Angeklagten S. wirksam auf den Strafausspruch beschränkten - Revisionen der Staatsanwaltschaft haben den aus der Urteilsformel ersichtlichen (Teil-)Erfolg. Im Übrigen sind sie unbegründet.

1. Die Überprüfung der Schuldsprüche anhand der erhobenen Sachrüge hat keine die Angeklagten G. und B. begünstigenden Rechtsfehler aufgedeckt. Soweit die Staatsanwaltschaft die Beweiswürdigung des Landgerichts angreift, nimmt sie eine im Revisionsverfahren unbeachtliche eigene Würdigung vor.

2. Jedoch halten die Strafaussprüche betreffend alle Angeklagten revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand. Das Landgericht hat seiner Bestimmung der Strafrahmen rechtsfehlerhaft das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO nicht zugrunde gelegt. Denn es ist hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der Bande von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen.

a) Der Begriff der Bande setzt den Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus, die sich mit dem Willen verbunden haben, künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbständige, im Einzelnen noch ungewisse Straftaten des im Gesetz genannten Deliktstyps (hier: fortgesetzte Hinterziehung der Umsatzsteuer) zu begehen. Ein gefestigter Bandenwille oder ein Tätigwerden in einem übergeordneten Bandeninteresse ist ebenso wenig erforderlich wie ein Mindestmaß an konkreter Organisation oder festgelegten Strukturen. Erforderlich ist eine ausdrücklich oder konkludent getroffene Bandenabrede, bei der das einzelne Mitglied den Willen hat, sich mit mindestens zwei anderen Personen zur Begehung von Straftaten in der Zukunft für eine gewisse Dauer zusammenzutun. Als Bandenmitglied ist anzusehen, wer in die Organisation der Bande eingebunden ist, die dort geltenden Regeln akzeptiert, zum Fortbestand der Bande beiträgt und sich an den Straftaten als Täter oder Teilnehmer beteiligt. Nicht erforderlich ist hingegen, dass sich alle Bandenmitglieder persönlich miteinander verabreden oder einander kennen. Eine Bandenabrede setzt auch nicht voraus, dass sich die Bandenmitglieder gleichzeitig absprechen. Sie kann etwa durch aufeinander folgende Vereinbarungen entstehen, die eine bereits bestehende Vereinigung von Mittätern zu einer Bande werden lassen, oder dadurch zustande kommen, dass sich zwei Täter einig sind, künftig Straftaten mit zumindest einem weiteren Beteiligten zu begehen, und der Dritte, der durch einen dieser beiden Täter über ihr Vorhaben informiert wird, sich der deliktischen Vereinbarung - sei es im Wege einer gemeinsamen Übereinkunft, gegenüber einem Beteiligten ausdrücklich, gegenüber dem anderen durch sein Verhalten oder nur durch seine tatsächliche Beteiligung - anschließt. Dabei kann es sich um den Anschluss an eine bereits bestehende Bande handeln; ebenso kann durch den Beitritt erst die für eine Bandentat erforderliche Mindestzahl von Mitgliedern erreicht werden. Es genügt, dass sich jeder bewusst ist, dass neben ihm noch andere mitwirken und diese vom gleichen Bewusstsein erfüllt sind (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 - 1 StR 159/17 Rn. 155 mwN).

b) Diesen Maßstäben wird die rechtliche Würdigung der Strafkammer nicht gerecht. Denn das Landgericht geht davon aus, das Vorliegen einer Bande im Sinne des § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO setze eine „Bandenstruktur“ voraus, die sich „typischerweise durch eine hierarchische Struktur“ auszeichne, „in der ganz im Sinne der Arbeitsteilung neben dem das Geschehen beherrschenden ʼBandenchefʻ andere Mitglieder ihre jeweiligen Tatbeiträge erbringen, die deshalb aber in gleicher Weise zum Zusammenhalt der Bande und zur Verwirklichung des Bandenzwecks beitragen“ (UA S. 51). Die Strafkammer hat hierdurch die rechtlichen Voraussetzungen an eine Bande überspannt. Ihr ist aus dem Blick geraten, dass eine konkrete Bandenstruktur im Sinne eines Über- und Unterordnungsverhältnisses gerade nicht vorliegen muss (vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2001 - GSSt 1/00 Rn. 29, BGHSt 46, 321, 329 f.). Soweit in dem angefochtenen Urteil an anderer Stelle ausgeführt ist, gegen eine Bandenabrede spreche, dass sich die Angeklagten im Wesentlichen aus finanziellen Eigeninteressen an den jeweiligen Umsatzsteuerhinterziehungen beteiligten, übersieht das Landgericht, dass ein Tätigwerden im übergeordneten Bandeninteresse nicht erforderlich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2001 - GSSt 1/00 Rn. 29, BGHSt 46, 321, 329 f.).

c) Die Strafaussprüche unterliegen daher der Aufhebung. Da es sich um einen reinen Wertungsfehler handelt, bleiben die Feststellungen hiervon unberührt (§ 353 Abs. 2 StPO). Weitere Feststellungen sind möglich, sofern sie den bislang getroffenen nicht widersprechen.

III.

Den Revisionen der Angeklagten G. und B. bleibt aus den zutreffend in den Antragsschriften des Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen der Erfolg versagt. Der Erörterung bedarf lediglich das Folgende:

Die Revision des Angeklagten B. zeigt auch insoweit keinen Rechtsfehler auf, als sie mit einer Verfahrensrüge beanstandet, das Landgericht habe gegen seine Protokollierungspflicht verstoßen, weil es in der Hauptverhandlung geführte gescheiterte Verständigungsgespräche im Sitzungsprotokoll nicht vollständig ihrem wesentlichen Inhalt nach dokumentiert habe (§§ 257c, 273 Abs. 1a Satz 1 und 2 StPO).

Entgegen der Auffassung der Revision sieht das Gesetz eine Pflicht zur Protokollierung des wesentlichen Inhalts in der öffentlichen Hauptverhandlung geführter gescheiterter Verständigungsgespräche nicht vor.

Die in der Strafprozessordnung normierten Mitteilungs- und Dokumentationspflichten dienen der Transparenz und Dokumentation der in § 257c StPO geregelten Verständigung mit dem Ziel, informellen Absprachen einen „Riegel“ vorzuschieben (vgl. BVerfGE 133, 168 Rn. 96). In den Fällen, in denen die Verständigungsgespräche außerhalb der Hauptverhandlung stattgefunden haben, sind diese daher nach § 243 Abs. 4 in Verbindung mit § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO ungeachtet dessen, ob eine Verständigung zustande gekommen ist, ihrem wesentlichen Inhalt nach in der Hauptverhandlung mitzuteilen und im Protokoll entsprechend zu dokumentieren. In der Hauptverhandlung geführte Gespräche unterliegen ihrem Wesen nach der Kenntnis und Kontrolle aller Verfahrensbeteiligten und der Öffentlichkeit. Sie unterfallen deshalb keiner Mitteilungspflicht. Kommt eine Verständigung zustande, muss die Rechtmäßigkeit derselben jedoch durch das Revisionsgericht überprüfbar sein. § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO statuiert deshalb für diese Fälle, dass das Protokoll den wesentlichen Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung nach § 257c Abs. 2 StPO wiedergeben muss. Für in der Hauptverhandlung geführte gescheiterte Verständigungsgespräche besteht dieses Dokumentationsbedürfnis indes nicht. Nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO ist daher im Protokoll lediglich zu vermerken, dass eine Verständigung nicht stattgefunden hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1066

Bearbeiter: Christoph Henckel