HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 523
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 159/22, Beschluss v. 18.03.2024, HRRS 2024 Nr. 523
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 7. Januar 2022 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 137 Fällen sowie sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete, auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
1. Nach den Urteilsfeststellungen nahm der Angeklagte im Zeitraum Juni 2007 bis 31. Dezember 2010 insgesamt 139 sexuelle Handlungen zum Nachteil der damals zwischen sieben und elf Jahre alten Nebenklägerin, der Halbschwester seiner damaligen Freundin, vor. Im Einzelnen handelte es sich um nachfolgende Taten.
a) Bei 45 Besuchen des Hallenbades in N. forderte der Angeklagte im Zeitraum vom 15. September 2007 bis 31. Dezember 2010 die Nebenklägerin in einer Umkleidekabine dazu auf, ihre Badekleidung auszuziehen, sich auf die Bank zu setzen und die Beine zu spreizen. Anschließend tastete er ihre Brust ab, fasste an ihre nackte Scheide und führte einen Finger mehrere Zentimeter tief in die Scheide ein (Taten II. 1 bis 45 der Urteilsgründe).
b) In der Zeit zwischen Dezember 2008 bis Ende 2009 oder Anfang 2010 nahm der Angeklagte die Nebenklägerin in die von ihm bewohnte Wohnung in K. mit; er forderte sie auf, sich im Schlafzimmer auszuziehen und auf das Bett zu legen. Sodann trug er auf ein Wattestäbchen eine Creme auf und führte das Stäbchen mehrere Zentimeter tief in die Scheide der Nebenklägerin ein, die hierdurch Schmerzen empfand. Ferner tastete er deren Brust und Bauchraum ab; hierbei murmelte er für die Nebenklägerin unverständliche medizinische Fachbegriffe vor sich hin (Tat II. 46 der Urteilsgründe).
c) In 80 weiteren Fällen kam es zu sexuellen Handlungen im Kinderzimmer der Nebenklägerin in der mit ihrer Mutter seit dem 1. Februar 2010 bewohnten Wohnung in K. Der Angeklagte, der wahrheitswidrig vorgab, Frauenarzt zu sein, kommentierte die Figur der Nebenklägerin als zu dick; er müsse sie untersuchen und forderte sie auf, sich auszuziehen. Er tastete die Brust und den Bauch der Geschädigten ab und führte in 79 Fällen einen Finger mehrere Zentimeter tief in deren Scheide, in einem Fall in deren After ein (Taten II. 47 bis 126 der Urteilsgründe).
d) An einem Tag zwischen Sommer 2007 und dem 31. Dezember 2010 fuhr der Angeklagte mit der Nebenklägerin zu der Gartenparzelle ihres Großvaters in einer Kleingartenanlage in K. Er forderte die Geschädigte auf, sich in der Gartenhütte auszuziehen und auf den Boden zu legen. Er tastete anschließend ihren Oberkörper ab und führte einen Finger in ihre Scheide ein (Tat II. 127 der Urteilsgründe).
e) Unter dem Vorwand, der Nebenklägerin in einem Proberaum des Musikvereins in K. Keyboardspielen beibringen zu wollen, erteilte der Angeklagte der Nebenklägerin im Zeitraum Sommer 2007 bis 31. Dezember 2010 in zehn Fällen eine kurze Unterrichtseinheit und forderte sie danach auf, sich auszuziehen. Er drang sodann mit einem Finger in ihre Scheide ein (Taten II. 128 bis 137 der Urteilsgründe).
f) In einem weiteren Fall tastete der Angeklagte der Nebenklägerin in einem Proberaum in P. mehrere Sekunden die nackte Brust ab (Tat II. 138 der Urteilsgründe). Schließlich tastete er ihre nackte Brust in einem weiteren Fall in einem Proberaum in N. mehrere Sekunden ab, um sich sexuell zu erregen (Tat II. 139 der Urteilsgründe).
2. Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe, auch bereits im Ermittlungsverfahren, bestritten. Die Strafkammer hat ihre Überzeugung von den Taten auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt.
a) Das Landgericht hat das Verfahren hinsichtlich weiterer drei Tatvorwürfe, wonach der Angeklagte an der Nebenklägerin in einer Umkleidekabine im Freibad W. einen Finger in ihre Scheide eingeführt habe bzw. bezüglich „etwaiger Vorfälle auf der Toilette“ gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, weil die Nebenklägerin sich in der Hauptverhandlung an letztere Vorfälle nicht mehr habe erinnern können und sie die in der Hauptverhandlung geschilderten Vorfälle in der Umkleidekabine gegenüber der Sachverständigen G. und bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung als während des Toilettengangs geschildert habe. Diese „mangelnde Konstanz“ der Aussage der Geschädigten reiche für eine Verurteilung nicht aus. Die Strafkammer teile die Ansicht der Sachverständigen, dass es zu einer Gedächtniskontamination hinsichtlich der Vorfälle im Hallenbad in N. gekommen sei.
b) Die Strafkammer hat das Verfahren hinsichtlich zweier weiterer Fälle, die in der Gartenhütte des Großvaters in der Kleingartenanlage während eines Sommerfestes stattgefunden haben sollen, ebenfalls gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. In der Hauptverhandlung habe die Nebenklägerin ausgesagt, dass der Angeklagte jeweils einen Finger in ihre Scheide eingeführt habe. Demgegenüber habe sie bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung sowie bei der Exploration durch die Sachverständige angegeben, dass der Angeklagte keinen Finger in ihre Scheide eingeführt habe. Auch insoweit gehe die Strafkammer im Einklang mit der Sachverständigen von einer Gedächtniskontamination mit der abgeurteilten Tat II. 127 der Urteilsgründe aus.
c) Das Landgericht hat insoweit ohne nähere Begründung festgestellt, dass die Zuverlässigkeit der Angaben der Geschädigten im Übrigen hiervon unberührt bleiben.
d) Demgegenüber hat das Landgericht den Angeklagten - ohne Begründung - aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, soweit er wegen weiterer Tat vorvorwürfe im Hallenbad in N. und in der Wohnung der Mutter der Nebenklägerin angeklagt war. Nach den Urteilsgründen habe die Sachverständige bezüglich dieser Tatkomplexe Zurückhaltung „empfohlen“, weil sich die Nebenklägerin „mit zeitlichen Einordnungen, aus denen die Anzahl der Taten ermittelt werden müsse, schwertue“.
Das Urteil ist aufzuheben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hält - auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs - sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Die revisionsgerichtliche Prüfung der Beweiswürdigung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. In Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat, die die Entscheidung zu Gunsten oder zu Lasten des Angeklagten beeinflussen können (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 23. Mai 2000 - 1 StR 156/00). Hierbei hat das Tatgericht in Fällen, in denen es dem Gutachten eines Sachverständigen folgt, grundsätzlich dessen wesentliche Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen so darzulegen, dass das Revisionsgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht.
2. Diesen Darlegungsanforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht gerecht.
a) In den Urteilsgründen werden Erinnerungsschwierigkeiten der Nebenklägerin und Widersprüchlichkeiten in ihren Angaben angedeutet. Ebenso gab es mehrere Aussageerweiterungen. Die Strafkammer löst diese Aussagedefizite bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin nicht hinreichend auf. Sie schließt sich lediglich der Schlussfolgerung der Sachverständigen G. an, gibt deren Begründung nicht nachvollziehbar wieder, und setzt sich nicht mit der Behauptung auseinander, dass in anderen Fällen eine Kontamination der Geschehnisse stattgefunden habe. Entgegen der Ansicht des Landgerichts betrifft dieses Aussagedefizit jedoch nicht das Randgeschehen, sondern auch das Kerngeschehen.
b) Ferner deutet das Landgericht an, dass eine Projektion von Vorfällen, die die Nebenklägerin mit anderen Personen erlebt haben soll, auf den Angeklagten ausscheide. Insoweit führt es aber lediglich aus, dass die Sachverständige G. in der Gesamtschau keine Anhaltspunkte dafür sehe, dass eine Übertragung der durch die Nebenklägerin behaupteten Erlebnisse vom Großvater oder einem anderen Exfreund der Halbschwester auf den Angeklagten stattgefunden habe. Insoweit bleibt unklar, inwieweit sich die Möglichkeit einer solchen Projektion überhaupt stellt; eine Erklärung des Landgerichts fehlt.
Die Sache bedarf daher außer hinsichtlich des Teilfreispruchs insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Angesichts der schwierigen Beweislage wird das neue Tatgericht insbesondere die Aussagen der Nebenklägerin sowie die Ausführungen der Sachverständigen detailliert darzustellen und im Rahmen einer Gesamtschau auch die Einlassung des Angeklagten und die Aussage der Halbschwester der Nebenklägerin einzubeziehen haben. Zudem wird sich das neue Tatgericht im Rahmen der gebotenen umfassenden Glaubhaftigkeitsbeurteilung mit den Gründen der Teileinstellungen des Verfahrens auseinanderzusetzen haben (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 160; Beschluss vom 5. April 2016 - 1 StR 53/16, NStZ - RR 2016, 250).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 523
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede