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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1189

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 11/22, Beschluss v. 26.07.2022, HRRS 2022 Nr. 1189


BGH 1 StR 11/22 - Beschluss vom 26. Juli 2022 (LG Darmstadt)

Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (Bestimmung des gezahlten Schwarzlohns: zulässige Schätzung, keine Berücksichtigung einer verdeckten Gewinnausschüttung als Unternehmerlohn, keine Rückwirkung von Allgemeinverbindlicherklärungen).

§ 266a Abs. 1 StGB; § 261 StPO; § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG; § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV

Leitsätze des Bearbeiters

1. Es ist dem Tatrichter grundsätzlich gestattet, bei der Bestimmung des Beitragsschadens nach § 266a StGB bzw. der hinterzogenen Lohnsteuer die Höhe des an Arbeitnehmer ausbezahlten Schwarzlohns zu schätzen, soweit zu einer konkreteren Bestimmung - etwa anhand erbrachter Arbeitszeiten und konkreter, branchenüblicher oder tarifvertraglicher Stundenlöhne - keine zuverlässigen Beweismittel zur Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand und ohne nennenswerten zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu beschaffen sind. Er darf dann eine branchenübliche Lohnquote - und zwar eine Nettolohnquote - des jeweils verfahrensgegenständlichen Gewerbes ermitteln und diese als Schätzgrundlage der weiteren Berechnung zugrunde legen.

2. Soweit Schätzungsmethoden an eine Lohnquote anknüpfen, schließt diese grundsätzlich nicht den „Unternehmerlohn“ des Betriebsinhabers ein. Dies gilt unabhängig davon, ob der Betriebsinhaber Einzelunternehmer ist, der unmittelbar Gewinn vereinnahmt, oder Alleingesellschafter (gegebenenfalls über Treuhänder) und (faktischer) Geschäftsführer einer GmbH, der auch ein Geschäftsführergehalt erhält. Steuerrechtlich sind verschleierte Zahlungen einer GmbH an ihren beherrschenden Gesellschafter oder ihm nahestehende Personen bei dem Gesellschafter regelmäßig verdeckte Gewinnausschüttungen, die den Gewinn der Gesellschaft nicht mindern (§ 8 Abs. 3 Satz 2 KStG), und beim Gesellschafter nicht zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, sondern zu Einkünften aus Kapitalvermögen führen. Auch sozialrechtlich ist bei einem Gesellschafter-Geschäftsführer zwischen Einnahmen aus einer Beschäftigung (§ 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV) und Einnahmen aufgrund des Gesellschaftsverhältnisses zu unterscheiden.

3. Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen wirkt strafrechtlich nicht zurück. Dies gilt gleichermaßen für die Allgemeinverbindlicherklärung durch Gesetz und durch den zuständigen Bundesminister). Bis zu der strafrechtlich wirksamen Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags ist aber eine mögliche Nachwirkung eines für allgemeinverbindlich erklärten vorangegangenen Tarifvertrags auch strafrechtlich zu beachten.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 6. Mai 2021, auch soweit es die Mitangeklagten betrifft und soweit die Angeklagten verurteilt worden sind, mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 51 Fällen, wegen Steuerhinterziehung in 45 Fällen, wegen Betrugs in 31 Fällen und wegen banden- und gewerbsmäßigen Betrugs in 19 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und vier Monaten verurteilt. Den nichtrevidierenden Mitangeklagten H. hat es wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 18 Fällen, wegen Steuerhinterziehung in 19 Fällen und wegen banden- und gewerbsmäßigen Betrugs in 19 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, den nichtrevidierenden Mitangeklagten M. wegen Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt, zur Steuerhinterziehung und zum Betrug in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Vom Vorwurf weiterer Taten hat es den Angeklagten und den Mitangeklagten M. freigesprochen. Die gegen die Verurteilung mit einer nicht ausgeführten Verfahrensrüge und der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte in den Jahren 2015 bis 2018 Geschäftsführer, in den Jahren 2018 und 2019 faktischer Geschäftsführer einer GmbH, die Rohbauarbeiten ausführte. Er gab nur für einen Teil der Arbeitnehmer Meldungen zur gesetzlichen Sozialversicherung, Lohnsteueranmeldungen und Meldungen zur Sozialkasse des Baugewerbes ab und legte dabei geringere als die tatsächlich gezahlten Löhne zugrunde. Die übrigen Arbeitnehmer waren über Briefkastenfirmen ebenfalls mit zu niedrigen Löhnen gemeldet. Um den Geldabfluss für die Schwarzlohnzahlungen an die Arbeitnehmer in der Buchhaltung darstellen zu können und zugleich zu verschleiern, erwarb und verbuchte der Angeklagte für die GmbH Abdeckrechnungen dieser Briefkastenfirmen. Dabei unterstützte den Angeklagten seine frühere Lebensgefährtin, indem sie gegen Entgelt die Büroarbeiten für die GmbH erledigte und bei der Auszahlung der Löhne half. Der Mitangeklagte H. war Nachfolger des Angeklagten als Geschäftsführer der GmbH, der Mitangeklagte M. Geschäftsführer einer der Briefkastenfirmen.

Da Aufzeichnungen über die tatsächlich gezahlten Löhne nur für einen Monat sichergestellt werden konnten, hat das Landgericht die monatliche Lohnsumme mit zwei Drittel der Ausgangsumsätze geschätzt abzüglich tatsächlich bezogener Fremdleistungen. Auf dieser Grundlage hat es monatliche Lohnsummen bis über 700.000 Euro und Jahreslohnsummen bis über 5.500.000 Euro berechnet. Die so ermittelten Werte hat es der Bestimmung des Beitragsschadens nach § 266a StGB, der hinterzogenen Lohnsteuer und der nicht an die Sozialkasse gezahlten Beiträge zugrunde gelegt.

II.

Die Verurteilung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Feststellungen des Landgerichts zu den Lohnsummen widersprüchlich sind.

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; z.B. BGH, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 StR 289/20 Rn. 71 mwN).

Es ist dem Tatrichter grundsätzlich gestattet, bei der Bestimmung des Beitragsschadens nach § 266a StGB bzw. der hinterzogenen Lohnsteuer die Höhe des an Arbeitnehmer ausbezahlten Schwarzlohns zu schätzen, soweit zu einer konkreteren Bestimmung - etwa anhand erbrachter Arbeitszeiten und konkreter, branchenüblicher oder tarifvertraglicher Stundenlöhne - keine zuverlässigen Beweismittel zur Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand und ohne nennenswerten zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu beschaffen sind. Er darf dann eine branchenübliche Lohnquote - und zwar eine Nettolohnquote - des jeweils verfahrensgegenständlichen Gewerbes ermitteln und diese als Schätzgrundlage der weiteren Berechnung zugrunde legen (zum Ganzen BGH, Beschlüsse vom 10. November 2009 - 1 StR 283/09 Rn. 11 ff.; vom 6. Februar 2013 - 1 StR 577/12 Rn. 55 und vom 20. April 2016 - 1 StR 1/16 Rn. 6). Die Schätzung anhand einer branchenüblichen Lohnquote ist eine Sonderform des äußeren Betriebsvergleichs. Dabei müssen gleichwohl die festgestellten Umstände des Einzelfalls in den Blick genommen werden.

2. Diesen Anforderungen werden die Schätzungen des Landgerichts nicht gerecht, weil die geschätzten Lohnsummen nicht mit den übrigen Feststellungen in Einklang zu bringen sind.

Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen wuchs die Zahl der Arbeitnehmer kontinuierlich von 40 bis 45 Arbeitnehmer im Jahr 2015 auf „ca. 120 Arbeitnehmer“ im Jahr 2019 (UA S. 16); die in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer arbeiteten in der Regel 40 Stunden pro Woche, teilweise „deutlich über 200 Stunden pro Monat“ (UA S. 17). Im Rahmen der Beweiswürdigung führt das Landgericht aus, dass es den vom - geständigen - Angeklagten genannten Stundenlohn mit „einem Durchschnittswert von 14 Euro bis 15 Euro“ durch weitere Beweisergebnisse als belegt ansieht (UA S. 113). Davon ausgehend ergibt sich selbst für das arbeitnehmerstärkste Jahr 2019 in der Regel eine wöchentliche Lohnsumme von 72.000 Euro (40 Stunden/Woche; 15 Euro/Stunde; 120 Arbeitnehmer), mit der sich aber insbesondere weder die vom Landgericht geschätzten monatlichen Lohnsummen von über 600.000 Euro für die Monate Juli und August 2018 und über 700.000 Euro für den Monat November 2018 noch die Jahreslohnsumme von über 5.500.000 Euro für das Jahr 2018 auch nur annähernd erreichen lassen. Dies gilt selbst dann, wenn der vom Landgericht an anderer Stelle genannte Höchststand von 125 Arbeitern (UA S. 112 und 113) und sich aus handschriftlichen Notizen ergebende monatliche Arbeitsstunden pro Arbeiter von „deutlich über 200 Stunden, vielfach sogar über 245 Stunden“ in einem „starken Sommermonat“ (UA S. 115) in Ansatz gebracht werden, zumal sich aus diesen handschriftlichen Notizen Stundenlöhne von „überwiegend“ zehn Euro und „vielfach“ elf oder 12 Euro (UA S. 115) ergeben, also Löhne, die weit überwiegend deutlich unter dem vom Angeklagten genannten Durchschnittsstundenlohn von 14 bis 15 Euro liegen.

Angesichts dieser erheblichen Diskrepanz zwischen den ermittelten Schätzwerten und den festgestellten Umständen des Einzelfalls hätte sich das Landgericht zu einer Überprüfung seiner Schätzgrundlagen und einer weitergehenden Erörterung seiner Schätzung gedrängt sehen müssen, an der es hier fehlt.

3. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatrichter widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen (§ 353 Abs. 2 StPO).

4. Die Aufhebung ist auch auf die nichtrevidierenden Mitangeklagten zu erstrecken (§ 357 Satz 1 StPO), weil sie der Rechtsfehler ebenfalls betrifft.

5. Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:

a) Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen wirkt strafrechtlich nicht zurück. Dies gilt gleichermaßen für die Allgemeinverbindlicherklärung durch Gesetz (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2021 - 1 StR 342/21 Ls.) und durch den zuständigen Bundesminister (z.B. BAnz AT 17.05.2019 B1). Bis zu der strafrechtlich wirksamen Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags ist aber eine mögliche Nachwirkung eines für allgemeinverbindlich erklärten vorangegangenen Tarifvertrags (vgl. BAG, Urteil vom 25. Oktober 2000 - 4 AZR 212/00) auch strafrechtlich zu beachten.

b) Soweit Schätzungsmethoden an eine Lohnquote anknüpfen, schließt diese grundsätzlich nicht den „Unternehmerlohn“ des Betriebsinhabers ein. Dies gilt unabhängig davon, ob der Betriebsinhaber Einzelunternehmer ist, der unmittelbar Gewinn vereinnahmt, oder Alleingesellschafter (gegebenenfalls über Treuhänder) und (faktischer) Geschäftsführer einer GmbH, der auch ein Geschäftsführergehalt erhält. Steuerrechtlich sind verschleierte Zahlungen einer GmbH an ihren beherrschenden Gesellschafter oder ihm nahestehende Personen bei dem Gesellschafter regelmäßig verdeckte Gewinnausschüttungen (vgl. nur BFH, Urteil vom 17. Januar 2018 - I R 74/15 Rn. 13 ff.), die den Gewinn der Gesellschaft nicht mindern (§ 8 Abs. 3 Satz 2 KStG), und beim Gesellschafter nicht zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG), sondern zu Einkünften aus Kapitalvermögen (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG) führen. Auch sozialrechtlich ist bei einem Gesellschafter-Geschäftsführer zwischen Einnahmen aus einer Beschäftigung (§ 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV) und Einnahmen aufgrund des Gesellschaftsverhältnisses zu unterscheiden.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1189

Bearbeiter: Christoph Henckel