HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 889
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 502/21, Beschluss v. 13.07.2022, HRRS 2022 Nr. 889
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 16. August 2021
a) im Schuldspruch dahingehend berichtigt, dass der Angeklagte in den Fällen 1 bis 19 der Urteilsgründe des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 19 Fällen schuldig ist,
b) aufgehoben,
aa) mit den Feststellungen in den Fällen 20 bis 36 der Urteilsgründe,
bb) im Gesamtstrafenausspruch.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „Vorenthaltens von Arbeitgeberbeiträgen in 19 Fällen, davon in 17 Fällen in Tateinheit mit Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitnehmerbeiträgen“, sowie wegen Betruges in 17 Fällen und wegen Steuerhinterziehung in 19 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Angeklagte beanstandet seine Verurteilung mit einer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts erwarb der Angeklagte im Jahr 2010 die SI. GmbH (im Folgenden: S. GmbH). Im Frühjahr 2014 kamen der Angeklagte und der frühere Mitangeklagte P., der neben dem Angeklagten die Geschäfte der S. GmbH führte, überein, die Bezahlung der für die Ausführung eines Großauftrages erforderlichen Arbeitnehmer zu einem überwiegenden Teil durch den Ankauf von Scheinrechnungen und die hieraus erlangten „Schwarzgelder“ zu ermöglichen. Über die E. GmbH und A. GmbH bezog die S. GmbH im Zeitraum von Mai 2014 bis September 2015 gegen „Provisionszahlungen“ Scheinrechnungen mit einer Bruttorechnungssumme von insgesamt mehr als 8,8 Millionen Euro, von der 70 % für Schwarzlohnzahlungen verwendet wurden.
Ihrem Tatplan entsprechend meldeten sie die für die Bezahlung der tatsächlich durchgeführten Gerüstbauarbeiten anfallenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung nicht vollständig bei den Einzugsstellen an (Fälle 1 bis 17 der Urteilsgründe). Dasselbe gilt für die Beiträge an die Berufsgenossenschaft (Fälle 18 und 19 der Urteilsgründe) sowie die als gezahlt angegebenen Entgelte im Rahmen der Lohnsteueranmeldungen (Fälle 37 bis 53 der Urteilsgründe). Zudem machten sie in den Umsatzsteuerjahreserklärungen für 2014 und 2015 unrichtige Angaben zu den getätigten Umsätzen (Fälle 54 und 55 der Urteilsgründe). Gegenüber der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes (im Folgenden: SOKA Gerüstbau) erklärten der Angeklagte und P. für den Zeitraum von Mai 2014 bis September 2015 ebenfalls geringere als die tatsächlich gezahlten Lohnsummen (Fälle 20 bis 36 der Urteilsgründe).
2. Die Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg.
a) Mit Ausnahme der Verurteilung des Angeklagten wegen Betruges in 17 Fällen werden sowohl der Schuldspruch als auch die Bemessung der Einzelstrafen von den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen getragen. Entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts ist die Verurteilung des Angeklagten gemäß § 266a Abs. 1 und 2 StGB jedoch dahin zu berichtigen, dass er in den Fällen 1 bis 19 der Urteilsgründe statt wegen „Vorenthaltens von Arbeitgeberbeiträgen in 19 Fällen, davon in 17 Fällen in Tateinheit mit Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitnehmerbeiträgen“ wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt in 19 tatmehrheitlichen Fällen schuldig ist. Denn die Anwendung des § 266a Abs. 2 StGB neben § 266a Abs. 1 StGB wirkt sich lediglich auf den Schuldumfang aus und führt nicht zu einer tateinheitlichen Verwirklichung beider Tatbestände (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2021 - 1 StR 342/21 Rn. 9 mwN).
b) Demgegenüber kann in den Fällen 20 bis 36 der Urteilsgründe der Schuldspruch wegen Betruges zum Nachteil der SOKA Gerüstbau keinen Bestand haben, weil die vom Landgericht getroffenen Feststellungen zur Beitragspflicht der S. GmbH lückenhaft sind.
Die Beitragspflicht zur SOKA Gerüstbau für die Jahre 2014 und 2015 konnte sich grundsätzlich zwar aus dem Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk vom 20. Januar 1994 in der Fassung vom 11. Juni 2002 (VTV-Gerüstbau) ergeben. Die Urteilsgründe enthalten jedoch keine Feststellungen dazu, woraus eine Tarifbindung der S. GmbH habe folgen können, insbesondere nicht dazu, ob es sich bei der S. GmbH im Tatzeitraum um einen tarifgebundenen Arbeitgeber handelte. Schon aus diesem Grund konnte der Senat nicht darüber befinden, ob die Allgemeinverbindlichkeitserklärung des VTV-Gerüstbau durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit vom 29. Oktober 2002 zum 1. Juni 2002 eine Tarifbindung der S. GmbH im Tatzeitraum begründen konnte. Angesichts des im Strafrecht geltenden Rückwirkungsverbotes konnte sich eine Beitragspflicht auch nicht aus § 15 Abs. 1 des Zweiten Sozialkassenverfahrensicherungsgesetzes (SokaSiG2) vom 1. September 2017 (BGBl. I 2017, 3356) ergeben (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2021 - 1 StR 342/21 Rn. 12 ff.). Der Senat hebt die zugehörigen Feststellungen insgesamt auf.
c) Die Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen 20 bis 36 der Urteilsgründe entzieht den zugehörigen Einzelstrafen und dem Ausspruch über die Gesamtstrafe die Grundlage.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 889
Bearbeiter: Christoph Henckel