HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 260
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 418/21, Beschluss v. 16.12.2021, HRRS 2022 Nr. 260
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Tübingen vom 1. Juni 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge einer Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensbeanstandung einer Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1, § 257c Abs. 3 Satz 1 StPO Erfolg.
1. Der Entscheidung liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
In der Hauptverhandlung am 23. Januar 2020 unterbreitete der Vorsitzende den Verfahrensbeteiligten einen Verständigungsvorschlag, händigte diesen den Beteiligten in Schriftform aus und setzte ihnen eine Frist zur Stellungnahme. Während die Staatsanwaltschaft dem Vorschlag fristgerecht am nächsten Hauptverhandlungstag zustimmte, erteilte der Angeklagte seine Zustimmung nicht und machte in der Folge von seinem Schweigerecht Gebrauch. Die Hauptverhandlung wurde noch im selben Termin zwecks Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens ausgesetzt.
Am ersten Verhandlungstag der neu begonnenen Hauptverhandlung gab der Vorsitzende bekannt, „dass in der letzten Hauptverhandlung vom 20.01.2020 eine Verständigung unterbreitet wurde“. Zudem teilte er mit: „Diese Verständigung wurde nicht angenommen. Weitere Verständigungen sind nicht erfolgt“ (Hauptverhandlungsprotokoll vom 11. Mai 2021). Weiteres zum Verständigungsversuch führte der Vorsitzende nicht aus. Der Angeklagte äußerte sich in der Folge zur Sache, räumte aber die Tatvorwürfe nicht ein.
2. Mit ihrer Verfahrensrüge beanstandet die Revision, dass die Mitteilung des Vorsitzenden über den in der ersten Hauptverhandlung unterbreiteten Verständigungsvorschlag nicht den Anforderungen des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO entsprochen habe, weil diese sich nicht zum Inhalt des Verständigungsvorschlags und zur konkreten Reaktion der einzelnen Verfahrensbeteiligten verhalten habe.
Die auf eine Verletzung von § 243 Abs. 4 Satz 1, § 257c Abs. 3 Satz 1 StPO gestützte - zulässige - Verfahrensrüge hat Erfolg.
1. Gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO hat der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes und vor Belehrung und Vernehmung des Angeklagten mitzuteilen, ob Erörterungen nach §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt.
a) Die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO greift bei sämtlichen Vorgesprächen ein, die auf eine Verständigung abzielen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 24. April 2019 - 1 StR 153/19, BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilungspflicht 12 Rn. 9; Urteil vom 13. Februar 2014 - 1 StR 423/13 Rn. 8 mwN). Dies gilt auch, wenn keine Verständigung zustande gekommen ist (BGH, Beschluss vom 16. September 2020 - 2 StR 459/19 Rn. 9 mwN). Dass die Verständigungsgespräche in einem ausgesetzten Verfahren geführt und im Rahmen dieser Hauptverhandlung ordnungsgemäß mitgeteilt sowie protokolliert wurden, lässt die Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht entfallen und schränkt auch deren Umfang nicht ein. Denn Hauptverhandlung im Sinne von § 243 Abs. 4 StPO ist allein diejenige, die zum Urteil geführt hat (BGH, Beschluss vom 24. April 2019 - 1 StR 153/19, BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilungspflicht 12 Rn. 10).
Nicht nur der Angeklagte, sondern auch die Schöffen und die Öffentlichkeit haben im Fall einer erneut begonnenen Hauptverhandlung ein berechtigtes Interesse, über etwa vorangegangene Verständigungsgespräche bzw. über eine zuvor zustande gekommene Verständigung informiert zu werden (vgl. BGH, Beschluss vom 24. April 2019 - 1 StR 153/19, BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilungspflicht 12 Rn. 10; Urteil vom 13. Februar 2014 - 1 StR 423/13 Rn. 11).
b) Die Mitteilungspflicht des Vorsitzenden erstreckt sich nicht nur auf den Umstand, dass Verständigungsgespräche geführt wurden, sondern auch auf deren Gegenstand, Verlauf und Inhalt beziehungsweise auf Gegenstand und Inhalt eines etwa unterbreiteten Verständigungsvorschlags sowie die Reaktion der einzelnen Verfahrensbeteiligten hierauf. Gegebenenfalls ist auch der Grund dafür, warum die Verständigung im ausgesetzten Verfahren nicht zustande oder nicht zum Tragen gekommen ist, in der neuen Hauptverhandlung mitzuteilen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. April 2019 - 1 StR 153/19, BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilungspflicht 12 Rn. 10 und vom 16. September 2020 - 2 StR 459/19 Rn. 10 mwN).
2. Demzufolge durfte sich der Vorsitzende nicht auf die Mitteilung beschränken, dass in der vorangegangenen Hauptverhandlung ein Verständigungsvorschlag unterbreitet worden war, der nicht in eine Verständigung mündete; er hätte gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO auch den Inhalt des Verständigungsvorschlags und die Reaktionen der Verfahrensbeteiligten auf diesen mitteilen müssen. Auch dem berechtigten Interesse der nicht an der früheren Hauptverhandlung beteiligten Schöffen an einer Kenntnis dieser Umstände war durch den pauschalen Hinweis des Vorsitzenden nicht hinreichend Rechnung getragen.
3. Bei Verstößen gegen die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 StPO ist regelmäßig davon auszugehen, dass das Urteil auf diesem Verstoß beruht (BGH, Beschluss vom 24. April 2019 - 1 StR 153/19, BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilungspflicht 12 Rn. 11; Urteil vom 13. Februar 2014 - 1 StR 423/13 Rn. 13 mwN); ein Ausnahmefall, bei dem Abweichendes vertretbar wäre, liegt nicht vor. Selbst wenn der Angeklagte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft den Inhalt des in der vorangegangenen öffentlichen Hauptverhandlung unterbreiteten Verständigungsvorschlags und dessen Ablehnung durch den Angeklagten in der neuen Hauptverhandlung noch vor Augen gehabt haben sollten, hätten jedenfalls die an der ersten Hauptverhandlung nicht beteiligten Schöffen hiervon keine Kenntnis gehabt und daher der Mitteilung des Vorsitzenden bedurft. Der Senat vermag vor diesem Hintergrund nicht auszuschließen, dass die Strafkammer ohne den Verfahrensverstoß zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 260
Externe Fundstellen: NStZ 2022, 371; StV 2022, 426
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede