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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 354

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 375/21, Beschluss v. 20.10.2021, HRRS 2022 Nr. 354


BGH 1 StR 375/21 - Beschluss vom 20. Oktober 2021 (LG Stuttgart)

Betrug (Vermögensschaden einer Krankenkasse bei Einsatz unterqualifizierten Personals: sozialrechtliche, streng formale Betrachtungsweise; strafmildernde Berücksichtigung ersparter Aufwendungen).

§ 263 Abs. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Verfügen die von einem Pflegedienst eingesetzten Pflegekräfte nicht die im Vertrag mit der Krankenkasse vereinbarte Qualifikation führt das nach den insoweit maßgeblichen Grundsätzen des Sozialrechts auch dann zum vollständigen Entfallen des Vergütungsanspruchs gegen die Krankenkasse und damit zu einem Vermögensschaden, wenn die Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht wurden („streng formale Betrachtungsweise). Die Arbeitsleistung als solche stellt keine gleichwertige Gegenleistung für die Krankenkassen dar.

2. Allerdings ist bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass die Krankenkasse wegen der tatsächlich erbrachten Pflegeleistungen keinen anderen Pflegedienst beauftragen und bezahlen musste.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 16. Juni 2021 aufgehoben

a) im Ausspruch über die Einzelstrafen in den Fällen 1 bis 22 der Urteilsgründe,

b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Betruges in 22 Fällen, davon in 14 Fällen in zwei tateinheitlichen Fällen, davon in zwei Fällen versucht, jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung, sowie wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 21 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hat es hiervon vier Monate für vollstreckt erklärt. Im Übrigen hat das Landgericht gegen die Angeklagte die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 472.382,76 Euro angeordnet. Die Revision erzielt mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts führte die Angeklagte den einzelkaufmännisch betriebenen Pflegedienst „S.“ in St. Dessen Tätigkeitsbereich erstreckte sich insbesondere auch auf den Bereich der Beatmungspflege von heimbeatmeten, intensiv betreuungspflichtigen Patienten, bei denen rund um die Uhr die Anwesenheit einer Pflegekraft erforderlich war.

a) Aufgrund vertraglicher Vereinbarungen mit den jeweiligen Krankenkassen der Patienten bestand für die Angeklagte die Verpflichtung, ausschließlich qualifiziertes Krankenpflegepersonal einzusetzen, das über einen in Deutschland erworbenen oder anerkannten Abschluss verfügte. Tatsächlich beschäftigte die Angeklagte jedoch in erheblichem Umfang Pflegekräfte, die die notwendige Qualifikation nicht oder noch nicht besaßen. Um dies vor den Krankenkassen zu verbergen, setzte die Angeklagte in die Leistungsnachweise für die bei den Patienten erbrachten Leistungen Handzeichenkürzel anderer Pflegekräfte ein, die über die notwendige Qualifikation verfügten. Mit der Einreichung der auf der Grundlage der von der Angeklagten verfälschten Abrechnungen über die erbrachten Pflegeleistungen täuschte die Angeklagte die Krankenkassen als Kostenträger darüber, dass die in Rechnung gestellten Leistungen tatsächlich nicht durch qualifizierte Personen erbracht wurden. Ab Mai 2015 wurden die Abrechnungen über den Dienstleister o. abgewickelt, der die angeblichen Forderungen des Pflegedienstes im Vertrauen auf deren Bestand und Werthaltigkeit ankaufte und die Forderungen anschließend gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen geltend machte. Insgesamt wurden 250.984,01 Euro zu Unrecht geltend gemacht, wovon lediglich 6.481,20 Euro nicht ausbezahlt wurden (Fälle 1-22 der Urteilsgründe).

b) Eine Vielzahl von Arbeitnehmern ihres Pflegedienstes meldete die Angeklagte nicht zur Sozialversicherung an. Auf diese Weise führte sie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung in Höhe von insgesamt 227.879,95 Euro nicht an die AOK Baden-Württemberg als zuständige Einzugsstelle ab (Fälle 23-43 der Urteilsgründe).

2. Die Revision ist zum Strafausspruch begründet.

a) Der Schuldspruch hat indes Bestand.

aa) In den Fällen 23-43 der Urteilsgründe tragen die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen die Verurteilung der Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt gemäß § 266a Abs. 1 und 2 StGB.

bb) Auch im Übrigen (Fälle 1-22 der Urteilsgründe) hält der Schuldspruch rechtlicher Nachprüfung stand. Insbesondere hat das Landgericht den Tatbestand des Betruges (§ 263 Abs. 1 StGB) - bzw. in den Fällen 5 und 6 der Urteilsgründe des versuchten Betruges - rechtsfehlerfrei als erfüllt angesehen.

(a) Durch das Einreichen der Rechnungen nebst Leistungsnachweisen täuschte die Angeklagte die Krankenkassen - und ab Mai 2015 zudem den Abrechnungsdienstleister o. - konkludent über das Vorliegen der den Zahlungsanspruch begründenden Tatsachen: Sie gab wahrheitswidrig vor, Pflegepersonal eingesetzt zu haben, das die vertraglich vereinbarte Qualifikation aufwies. Denn die Krankenkassen hatten den Vertragsabschluss über die Leistung häuslicher Krankenpflege von einer formalen Qualifikation abhängig gemacht, wozu sie berechtigt waren. Wird aber eine solche Vereinbarung getroffen, bildet sie neben den gesetzlichen Bestimmungen die Grundlage der Leistungsbeziehung und soll sicherstellen, dass sich die Pflege nach den gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen vollzieht (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2014 - 4 StR 21/14, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 83 Rn. 19 mwN). Damit fehlte es an einer vertragsgemäßen Leistung.

(b) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht auch angenommen, dass dem Abrechnungsdienstleister und den Krankenkassen in Höhe der geleisteten Zahlungen ein Vermögensschaden entstanden ist, obwohl die Pflegeleistungen erbracht worden waren. Denn es bestand keine Verpflichtung zur Zahlung, da die von der Angeklagten eingesetzten und beschäftigten Pflegekräfte nicht über die in der vertraglichen Vereinbarung mit den Krankenkassen vorausgesetzte Qualifikation verfügten. Das Unterschreiten der nach dem Vertrag vereinbarten Qualifikation von Pflegekräften führt nach den insoweit maßgeblichen Grundsätzen des Sozialrechts auch dann zum vollständigen Entfallen des Vergütungsanspruchs, wenn die Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht wurden („streng formale Betrachtungsweise“; vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Juni 2014 - 4 StR 21/14, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 83 Rn. 28, 31; vom 23. September 2020 - 4 StR 668/19 Rn. 6 und vom 28. September 1994 - 4 StR 280/94 Rn. 5; Urteil vom 8. Oktober 2015 - III ZR 93/15 Rn. 14, 19; Welke, GuP 2011, 139, 146 f.). Die Arbeitsleistung als solche stellt keine gleichwertige Gegenleistung für die Krankenkassen dar (vgl. BGH aaO; Dannecker/Bülte, NZWiSt 2012, 81, 84). Denn bei den beatmeten, intensiv betreuungsbedürftigen Patienten konnte unter Berücksichtigung möglicher Notfallsituationen eine hinreichende Versorgung nur durch hierfür qualifizierte Pflegekräfte gewährleistet werden.

b) Der Strafausspruch hat nur teilweise Bestand. Die Strafzumessung begegnet in den Fällen 1 bis 22 der Urteilsgründe durchgreifenden Bedenken. Das Landgericht hat nicht bedacht, dass die Krankenkassen wegen der tatsächlich erbrachten Pflegeleistungen der Angeklagten keinen anderen Pflegedienst haben beauftragen und bezahlen müssen; diese von den Krankenkassen ersparten Aufwendungen sind ein strafbestimmender Umstand (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO; vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2014 - 4 StR 21/14, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 83 Rn. 36; für vertragsärztliche Abrechnungen: BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 - 3 StR 161/02 Rn. 31 und Beschluss vom 28. September 1994 - 4 StR 280/94 Rn. 6; für den Bereich privatärztlicher Liquidation: BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 - 1 StR 45/11 Rn. 109).

c) Die Aufhebung der Einzelstrafen in den Fällen 1 bis 22 der Urteilsgründe entzieht der Gesamtstrafenbildung die Grundlage; die Gesamtstrafe ist daher ebenfalls aufzuheben.

d) Demgegenüber sind die Einzelstrafen in den Fällen 23 bis 43 der Urteilsgründe rechtsfehlerfrei und haben ebenso wie der übrige Rechtsfolgenausspruch Bestand.

e) Auch soweit der Strafausspruch aufzuheben ist, haben die zugrundeliegenden Feststellungen Bestand. Denn diese sind von dem aufgezeigten Wertungsfehler nicht betroffen (§ 353 Abs. 2 StPO). Der neue Tatrichter kann insoweit ergänzende Feststellungen treffen, soweit sie zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 354

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2022, 115

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede