HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1134
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 248/20, Beschluss v. 19.08.2020, HRRS 2020 Nr. 1134
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 16. März 2020 aufgehoben. Der Angeklagte wird freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
3. Die Entscheidung über die Entschädigung des Angeklagten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils und Freisprechung des Angeklagten.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen.
a) Am 10. Oktober 2019 war es zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten A. bei der Rückabwicklung eines geringfügigen Betäubungsmittelgeschäftes zu Meinungsverschiedenheiten gekommen. Beide trafen am 12. Oktober 2019 gegen 22.00 Uhr am Bahnhof in Esslingen wieder aufeinander und stiegen dort in die S-Bahn ein. A. war verärgert, weil der Angeklagte zuvor versucht hatte, Betäubungsmittel bei einem anderen Drogenverkäufer zu erwerben. Zwischen beiden kam es im Eingangsbereich der S-Bahn zu einer verbalen Auseinandersetzung mit wechselseitigen Beleidigungen, wobei sie sich gegenseitig voneinander wegstießen. Als sich der Angeklagte im Anschluss daran hinsetzen wollte, forderte A. ihn auf, gemeinsam den Zug wieder zu verlassen, wobei A. auch die Familie des Angeklagten beleidigte. Dies verärgerte den Angeklagten so sehr, dass er A. auf den Bahnsteig folgte. Es war dem Angeklagten bewusst, dass es nun zu einer körperlichen Auseinandersetzung mit A. kommen werde. Beide gingen zunächst nebeneinander den Treppenabgang vom Bahnsteig hinunter, um die Angelegenheit hinter dem Bahnhof „körperlich zu klären“. Der Angeklagte ging schließlich wenige Schritte voraus, A. folgte ihm. Der Angeklagte wollte den Streit ausschließlich körperlich führen; es war ihm aber bewusst, dass er sich gegebenenfalls mit einem mitgeführten Messer verteidigen könnte.
b) Kurz nach Betreten der Treppe holte A. aus seiner Kleidung ein Pfefferspray und ein Küchenmesser hervor. Der Angeklagte blieb auf einem Treppenabsatz stehen und bemerkte nun, dass A. sich mit Pfefferspray und einem Messer bewaffnet hatte. Er zog seinerseits sein Messer mit einer Klingenlänge von sechs bis sieben Zentimeter, klappte es auf und hielt es für A. sichtbar vor sich, der sich mindestens eine Armlänge vom Angeklagten entfernt befand. A. bewegte sich auf den Angeklagten zu und ergriff diesen mit seiner linken Hand, in der er auch das Küchenmesser mit der Klinge vom Hals des Angeklagten abgewandt hielt, am Kragen und drückte ihn gegen das an der Wand des Treppenabgangs befindliche Treppengeländer. Der Angeklagte streckte daraufhin seinen linken Arm aus und ergriff A. an der rechten Schulter und drückte ihn seinerseits gegen das Treppengeländer der gegenüberliegenden Wand. Beide Kontrahenten „diskutierten“ aufgebracht und beleidigten sich gegenseitig, während A. den Angeklagten weiterhin am Kragen festhielt. Der Angeklagte „fuchtelte“ nun mit seiner rechten Hand, in der er das Messer hielt, im Bereich des Arms des Geschädigten „herum“ und versuchte mehrfach, dessen linke Hand wegzuschlagen, ohne dass ein Messereinsatz festgestellt werden konnte. Hierauf sprühte A. dem Angeklagten zielgerichtet das Pfefferspray ins Gesicht, wobei er ihn mit seiner linken Hand so kraftvoll am Kragen festhielt, dass er einen Bluterguss am Oberarm erlitt. Der Angeklagte drehte seinen Kopf zur Seite, um dem Strahl des Pfeffersprays zu entgehen. Er bewegte sich zudem rückwärts vom Geschädigten weg, der ihn mit seinem linken Arm von sich wegschob und ihn neuerlich gegen das Treppengeländer stieß. In dieser Situation stach der Angeklagte aus Angst vor weiteren möglichen Angriffen des Geschädigten, aus Wut über den Einsatz des Pfeffersprays, aber auch in Verteidigungsabsicht drei- bis viermal mit dem Messer wuchtig und unkontrolliert in Richtung des linken Oberkörper- und Schulterbereichs von A., der ihn nach wie vor fest am Kragen hielt. Nunmehr schleuderte A. den Angeklagten weg und ließ ihn los, so dass er einige Treppenstufen nach unten „getragen“ wurde. A. flüchtete die Treppen nach oben. Der Angeklagte setzte ihm zwei bis drei Schritte nach, ging dann aber langsam die Treppen hoch und wusch sich die Augen aus. Der Geschädigte, der zunächst nicht sichtbar blutete, trug eine Stichverletzung mit geringer Tiefe in Höhe des linken Schulterblatts und eine weitere Stichverletzung, bei der die Lunge perforiert wurde, davon. Der Angeklagte, der sich nicht sicher war, dass er den Geschädigten mit dem Messer getroffen hatte, forderte diesen auf, mit ihm hinter den Bahnhof zu kommen, um sich dort ohne Waffen weiter zu schlagen. Schließlich trennten sich die Kontrahenten.
2. Das Landgericht hat die Messerstiche des Angeklagten als versuchten Totschlag gewertet. Der Angeklagte sei jedoch vom versuchten Tötungsdelikt strafbefreiend zurückgetreten (§ 24 StGB). Die vom Angeklagten geführten Messerstiche seien nicht durch Notwehr gerechtfertigt (§ 32 StGB). Zwar sei von einer Notwehrlage auszugehen und die Messerstiche seien vom Angeklagten auch ausgeführt worden, um sich zu verteidigen. Bei einer Gesamtbetrachtung des Geschehens habe sich der Angeklagte aber bewusst in die Auseinandersetzung begeben. Aufgrund seines ihm vorwerfbaren Vorverhaltens sei sein Notwehrrecht zum Tatzeitpunkt eingeschränkt gewesen. Sowohl die Beleidigung des Geschädigten als auch die zwischen den Beteiligten jedenfalls konkludent vereinbarte körperliche Auseinandersetzung, „die auf einem gesetzlich verbotenen Betäubungsmittelgeschäft“ beruht habe, seien sozialethisch zu missbilligen. Als der Angeklagte dem Geschädigten auf dessen Aufforderung auf den Bahnsteig gefolgt sei und er diesen mit Beleidigungen belegt habe, habe er vorausgesehen, dass der Geschädigte auf diese Provokationen mit einem Angriff reagieren werde. Denn es sei „ja gerade der Plan der Beteiligten“ gewesen, sich zu prügeln. Als der Geschädigte dann sein Messer und das Pfefferspray gezogen und der Angeklagte dies bemerkt habe, sei von ihm zu fordern gewesen, deeskalierend zu agieren. Insbesondere hätte er in diesem Moment noch fliehen können oder zumindest den Messereinsatz androhen können.
3. Diese Bewertung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Auf Grundlage der rechtsfehlerfreien, im Wesentlichen auf der Auswertung der Videoaufzeichnung basierenden Feststellungen ist die Annahme einer dem Angeklagten vorwerfbaren Provokation der Notwehrlage und einer damit einhergehenden Einschränkung seiner Notwehrbefugnisse rechtsfehlerhaft.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfährt das Notwehrrecht unter anderem dann eine Einschränkung, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angreifer ein pflichtwidriges Vorverhalten an den Tag gelegt hat, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalls den folgenden Angriff als eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt. In einem solchen Fall muss der Verteidiger dem Angriff unter Umständen auszuweichen versuchen und darf zur lebensgefährlichen Trutzwehr nur übergehen, wenn andere Abwehrmöglichkeiten erschöpft oder mit Sicherheit aussichtslos sind (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juni 2018 - 1 StR 208/18 Rn. 11 mwN). Darüber hinaus vermag ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten das Notwehrrecht nur einzuschränken, wenn zwischen diesem und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang besteht und es nach Kenntnis des Täters auch geeignet ist, einen Angriff zu provozieren (vgl. BGH aaO). Allerdings ist das Notwehrrecht auch in diesen Fällen nur eingeschränkt; ein vollständiger Ausschluss oder eine zeitlich unbegrenzte Ausdehnung der Beschränkung des Notwehrrechts ist damit nicht verbunden (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Dezember 2017 - 2 StR 252/17 Rn. 10 mwN).
bb) Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Landgericht seine Annahme, dass das Notwehrrecht eingeschränkt sei, nicht tragfähig begründet.
Es kann dahinstehen, ob der Streit über die Rückabwicklung des Betäubungsmittelgeschäfts zwischen dem Angeklagten und A. überhaupt geeignet ist, ein sozialethisch verwerfliches Verhalten des Angeklagten zu begründen. Hinzu kommt, dass die Strafkammer die näheren Hintergründe des Streits nicht aufzuklären vermochte.
Jedenfalls sind die am Tattag erfolgten wechselseitigen Beleidigungen der Beteiligten nicht geeignet, das Notwehrrecht des Angeklagten einzuschränken. Denn im Anschluss daran war es der Geschädigte, der den Angeklagten mit Beleidigungen dazu aufforderte, aus der S-Bahn auszusteigen um sich (einvernehmlich) körperlich auseinanderzusetzen. Es war der Geschädigte, der sich entgegen der zunächst ins Auge gefassten ausschließlich körperlichen Auseinandersetzung sichtbar bewaffnete und damit maßgeblich für die Eskalation verantwortlich war. Von dem Angeklagten war in dieser Situation von Rechts wegen nicht zu fordern, vor dem Geschädigten zu fliehen. Allein die vorausgegangenen wechselseitigen Beleidigungen vermögen eine vorwerfbare Provokation des Angriffs gegen ihn mit Waffen bei einer lediglich erwarteten Prügelei nicht zu begründen. Mit dem Aufklappen und Vorzeigen des eigenen Messers hat der Angeklagte dem Geschädigten aufgezeigt, dass er sich wehren würde und zudem den möglichen Einsatz des Messers - entgegen der Ansicht des Landgerichts - angedroht. Nach dem Angriff des Geschädigten hat sich der Angeklagte gegen dessen fortdauernden Festhaltegriff gewehrt und hierbei versucht, sich durch Schläge gegen den Arm des Geschädigten zu befreien. Erst nachdem dieser dem Angeklagten Pfefferspray zielgerichtet ins Gesicht gesprüht hatte, setzte der Angeklagte das Messer unkontrolliert gegen den Geschädigten ein. Spätestens ab dem Zeitpunkt der Pfeffersprayattacke war jedenfalls jegliche (denkbare) Beschränkung des Notwehrrechts des Angeklagten entfallen, da er nunmehr auch mit dem Einsatz des Messers durch den Geschädigten rechnen musste. Zudem bestand für den mit dem Rücken an die Wand gedrängten Angeklagten gerade durch die mit dem Pfefferspray verursachte Sichtbehinderung keine erfolgsversprechende anderweitige Handlungsmöglichkeit, sich vor den unmittelbar bevorstehenden weiteren Angriffen des A. zu schützen.
b) Der Senat schließt - auch im Hinblick darauf, dass der anklagegegenständliche Sachverhalt videoaufgezeichnet und vom Landgericht auch ausgewertet wurde - aus, dass eine neue Hauptverhandlung Umstände ergeben kann, die eine Einschränkung des Notwehrrechts gebieten könnten, und spricht daher den Angeklagten frei (§ 354 Abs. 1 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1134
Externe Fundstellen: StV 2021, 97
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede