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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 946

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 62/19, Beschluss v. 23.07.2019, HRRS 2019 Nr. 946


BGH 1 StR 62/19 - Beschluss vom 23. Juli 2019 (LG München I)

Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

§ 64 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 21. Dezember 2018 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten erzielt mit der allgemeinen Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Überprüfung des gemäß § 267 Abs. 4 StPO abgekürzt - und trotz Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision nicht ergänzend - begründeten Urteils hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

2. Der Strafausspruch hält hingegen rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Schwurgerichtskammer eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen hat.

a) Nach den Urteilsfeststellungen erfuhr der Angeklagte, dass die Geschädigten B. und M. in dessen Wohnung am 20. April 2018 gemeinsam grillen und Alkohol trinken wollten. Der angetrunkene Angeklagte wollte hieran teilnehmen, jedoch war M. nicht einverstanden und erklärte dies dem Angeklagten telefonisch, der gleichwohl sein Erscheinen ankündigte. Die Geschädigten verließen daraufhin aus Furcht vor einer Auseinandersetzung mit dem Angeklagten das Haus. Der Angeklagte, der gegen 22.30 Uhr eintraf, randalierte zunächst im Haus und zerstörte dabei einen Spiegel und mehrere Fensterscheiben; er schubste auch die in der Wohnung verbliebene Zeugin J. M. rief den Angeklagten an und forderte diesen auf, das Haus zu verlassen, ansonsten würde er die Polizei verständigen. Dies tat B. auch um 22.56 Uhr. Währenddessen lief der Angeklagte aus dem Haus, sah die beiden Geschädigten und rannte auf sie zu. Während M. fliehen konnte, holte der Angeklagte den Geschädigten B. ein und schlug ihn mit der Faust gegen den Kopf, so dass dieser zu Boden ging. Danach schlug der Angeklagte den Geschädigten mindestens noch einmal mit der Faust ins Gesicht und trat ihn mit großer Wucht „nach der Art eines Fußballers“ mit seinem mit Sportschuhen beschuhtem Fuß gegen den Kopf, wodurch B. schwere Verletzungen davontrug.

Nachdem Anwohner dem Angeklagten lautstark zuriefen, seinen Angriff gegen das Opfer zu beenden, und ankündigten, die Polizei herbei zu rufen, ließ der Angeklagte vom Geschädigten ab.

Als anschließend die Polizeibeamten eintrafen, „identifizierte“ M. den Angeklagten als Verursacher der Verletzungen des Geschädigten B. Daraufhin wurde der Angeklagte festgenommen, wobei er sich aggressiv verhielt und schrie, dass er M. „fertig machen werde“. Die Polizeibeamten verbrachten den Angeklagten auf die Dienststelle. Die um 23.30 Uhr beim Angeklagten gemessene Atemalkoholkonzentration ergab 0,62 mg/l. Um 2.20 Uhr des nächsten Tages wurde der Angeklagte entlassen. Er begab sich erneut zur Wohnung des M., schlug eine Scheibe ein und kletterte durch das Fenster in die Wohnräume. Er fand M. und J. schlafend im Bett vor. Aus Verärgerung über seine Festnahme durch die Polizei versetzte er M. ohne Vorwarnung mehrere Faustschläge in das Gesicht und trat ihn mehrfach von oben mit seinem beschuhten Fuß stampfend auf den Kopf. M., der erhebliche Verletzungen erlitt, stand auf, versorgte seine Wunden und legte sich anschließend wieder schlafen. Der Angeklagte übernachtete mit J. in einem anderen Zimmer und verließ am Morgen auf Aufforderung des M. das Haus.

b) Das sachverständig beratene Landgericht hat eine Aufhebung oder Einschränkung der Schuldfähigkeit des Angeklagten „aufgrund von Alkohol oder aus sonstigen Gründen“ verneint. Zur Person des Angeklagten hat es festgestellt, dass er weder ernsthafte Erkrankungen noch folgenschwere Unfälle erlitten habe. Er sei durchschnittlich intelligent; seine Persönlichkeit zeige deutlich dissoziale Züge mit gesteigerter Impulsivität und einem erhöhten Aggressionspotential auf. Hinweise auf eine schwere Persönlichkeitsstörung oder eine sonstige gravierende psychiatrische Störung lägen nicht vor.

c) Die Wertung der Schwurgerichtskammer, dass eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit nicht vorgelegen habe, hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Urteil enthält weder eine Darstellung der Ausführungen des Sachverständigen zur Schuldfähigkeitsbeurteilung noch eine Begründung des Landgerichts, dass die Voraussetzungen einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB nicht vorliegen. Der Senat vermag aufgrund der Sachverhaltsfeststellungen zwar auszuschließen, dass eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit (§ 20 StGB) vorliegen könnte; angesichts der Alkoholisierung und der dissozialen Persönlichkeitszüge des Angeklagten sowie mit Blick auf das Tatverhalten waren jedoch Ausführungen des Tatgerichts zur Beurteilung einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit geboten, um eine revisionsgerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen.

3. Die Nichtanordnung der Maßregel der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hat ebenfalls keinen Bestand. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Zuschrift ausgeführt:

„Nach den Feststellungen des Landgerichts begann der Angeklagte im Alter von elf Jahren mit dem gelegentlichen Konsum von Alkohol in Form von Bier sowie Cannabis. In der Folge steigerte sich sein Konsum. Zuletzt konsumierte der Angeklagte täglich zwei bis drei Bier, an den Wochenenden bis zu sieben Bier sowie zusammen mit mehreren Bekannten eine bis drei Flaschen Wodka oder Whisky. Außerdem konsumierte der Angeklagte täglich Marihuana und gelegentlich Kokain und Amphetamine (UA S. 3). Zudem war der Angeklagte bei der Begehung der verfahrensgegenständlichen Taten erheblich alkoholisiert (UA S. 9).

Die Strafkammer hätte bei dieser Sachlage erörtern müssen, ob der Angeklagte gemäß § 64 StGB in einer Entziehungsanstalt unterzubringen ist, da die getroffenen Feststellungen den für eine Unterbringung erforderlichen Hang nahe legen, also eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit oder zumindest eine eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende und durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Rauschmittel zu sich zu nehmen (Senat, Beschluss vom 20. September 2017 - 1 StR 348/17, juris Rn. 9 mwN). Da auch das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 64 StGB anhand der vom Landgericht getroffenen Feststellungen nicht ausgeschlossen und den Urteilsgründen nicht entnommen werden kann, dass beim Angeklagten die hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolges (§ 64 Satz 2 StGB) nicht besteht, erweist sich die unterbliebene Erörterung der Unterbringung als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

Einer etwaigen Unterbringungsanordnung steht nicht entgegen, dass ausschließlich der Angeklagte Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; vgl. Senat, Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 7 ff.), zumal der Angeklagte die Nichtanwendung von § 64 StGB nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen hat.“

Dem schließt sich der Senat an.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 946

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 304

Bearbeiter: Christoph Henckel