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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 198

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 247/19, Beschluss v. 14.11.2019, HRRS 2020 Nr. 198


BGH 1 StR 247/19 - Beschluss vom 14. November 2019 (LG Krefeld)

Umsatzsteuerhinterziehung (Strafzumessung bei Umsatzsteuerhinterziehungssystemen: Schadensbestimmung bei mehrfacher Umsatzsteuerhinterziehung hinsichtlich derselben Waren).

§ 370 Abs. 1 AO; § 46 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

In Bezug auf Umsatzsteuerhinterziehungssysteme ist, wenn hinsichtlich derselben (Schein-)Waren mehrfach Umsatzsteuer hinterzogen wurde, im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass das Steueraufkommen des deutschen Fiskus nicht in der Summe der Hinterziehungen der am Hinterziehungssystem beteiligten Firmen, sondern nur im Umfang des jeweils höheren Hinterziehungsbetrages geschädigt wurde (st. Rspr.). Der Schaden, der sich aus den unrichtigen Erklärungen des einen Kettenglieds ergibt, setzt sich im Verhalten der nachfolgenden Glieder nur fort und vergrößert sich allenfalls (vgl. BGHSt 47, 343, 353 f.).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 29. November 2018 im Ausspruch über die Einzelstrafen in den Fällen 15 bis 29 der Urteilsgründe sowie im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben; die zugehörigen Feststellungen bleiben bestehen.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 29 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat - soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung - folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte baute ab dem Jahr 2011 - möglicherweise unter Mitwirkung weiterer Personen - ein aus verschiedenen Firmen bestehendes System auf, dessen Zweck die Hinterziehung von Umsatzsteuern war. Im Zentrum des „Umsatzsteuerbetrugssystems“ im Tatzeitraum von Januar 2012 bis Dezember 2016 standen die I. GmbH (im Folgenden: I.) und die B. GmbH (im Folgenden: B.), die beide zumindest zeitweise auch eine unternehmerische Tätigkeit im IT-Bereich ausübten. An beiden Firmen hielt der Angeklagte - hinsichtlich der B. über eine weitere von ihm vertretene Gesellschaft - Geschäftsanteile und nahm auf sie als faktischer Geschäftsführer unmittelbaren Einfluss. Bei der I. war er zudem im Tatzeitraum überwiegend auch eingetragener Geschäftsführer.

An dem „Umsatzsteuerbetrugssystem“ waren sog. „Lieferantenfirmen“ aus dem Inland und europäischen Ausland beteiligt, über die der Angeklagte ebenfalls zumindest die faktische Kontrolle ausübte. Für diese wurden in Geldnot befindliche Personen - überwiegend aus Griechenland und Polen - angeworben, entweder Firmen neu zu gründen und anzumelden oder bestehende Gesellschaften aufzukaufen und weiterzuführen. Diesen Personen war dabei jeweils bewusst, dass es sich um illegale Geschäfte handeln könnte. Eine unternehmerische Tätigkeit entfalteten diese Gesellschaften beziehungsweise Einzelunternehmen jeweils nicht. Unter ihrem Namen wurden auf Veranlassung des Angeklagten lediglich Scheinrechnungen ausgestellt; den darin dokumentierten Geschäftsvorgängen lagen entweder keine Warenlieferungen zu Grunde oder die Warenlieferungen waren zuvor über Scheinfirmen ohne Belastung mit Umsatzsteuer beschafft worden und wurden sodann weiter fakturiert. Schließlich bediente sich der Angeklagte mehrerer Gesellschaften mit Sitz im europäischen Ausland, um steuerfreie Ausfuhrlieferungen gegenüber dem Finanzamt vorzutäuschen.

Das „Umsatzsteuerbetrugssystem“ basierte darauf, dass die I. und die B. auf Veranlassung des Angeklagten jeweils Eingangsrechnungen der „Lieferantenfirmen“ in ihren Buchhaltungen ablegten, obwohl der Angeklagte wusste, dass diese die in den Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer gegenüber dem Finanzamt nicht ordnungsgemäß erklärt beziehungsweise die in den Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer ihrerseits wiederum durch Vorsteuern aus Scheinrechnungen ihrer „Lieferanten“ kompensiert hatten. Gleichwohl machte der Angeklagte selbst oder die von ihm eingesetzten Scheingeschäftsführer auf seine Veranlassung die Vorsteuer aus den Eingangsrechnungen gegenüber dem Finanzamt im vorgenannten Tatzeitraum zu Unrecht geltend. Auch die I. selbst wurde - neben dem regulären Geschäftsbetrieb - eingesetzt, um Umsatzsteuern zugunsten der B. zu hinterziehen.

Gegenüber der I. wiesen zwölf Scheinfirmen Umsatzsteuer in Scheinrechnungen aus. Dadurch verkürzte der Angeklagte im Rahmen der abgegebenen Jahreserklärungen 2012 bis 2015 sowie der Voranmeldungen im Jahr 2016 Umsatzsteuern durch Geltendmachen von Vorsteuern aus fingierten Eingangsrechnungen (Fälle 1 bis 14 der Urteilsgründe). Das Landgericht geht insofern von einer Steuerhinterziehung in Höhe von insgesamt 2.264.730,98 Euro aus.

Gegenüber der B. wiesen sechs Scheinfirmen sowie die I. Umsatzsteuer in Scheinrechnungen aus; der auf die I. entfallende Anteil belief sich dabei auf 2.479.590,97 Euro. Dadurch verkürzte der Angeklagte im Rahmen der abgegebenen Jahreserklärungen 2013 bis 2015 sowie der Voranmeldungen im Jahr 2016 Umsatzsteuern (Fälle 15 bis 29 der Urteilsgründe); die Umsatzsteuerbeträge aus den Scheinrechnungen der I. flossen in sämtliche verfahrensrelevanten Jahreserklärungen beziehungsweise Voranmeldungen im Wege des Vorsteuerabzugs ein. Das Landgericht geht insofern von einem Steuerverkürzungsbetrag von insgesamt 4.124.997,82 Euro aus.

II.

Das Urteil hält im Strafausspruch teilweise der sachlichrechtlichen Überprüfung nicht stand.

1. Das Landgericht hat in Bezug auf die Fälle 15 bis 29 der Urteilsgründe bei der Strafzumessung den inneren Zusammenhang zwischen Scheinrechnungen und den aus ihnen vorgenommenen Vorsteuerabzügen rechtsfehlerhaft nicht ausreichend in den Blick genommen. Dies stellt einen Wertungsfehler im Hinblick auf den Hinterziehungsumfang dar, der zur Aufhebung der hiervon betroffenen Einzelstrafaussprüche nötigt.

a) In Bezug auf Umsatzsteuerhinterziehungssysteme ist, wenn hinsichtlich derselben (Schein-)Waren mehrfach Umsatzsteuer hinterzogen wurde, im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass das Steueraufkommen des deutschen Fiskus nicht in der Summe der Hinterziehungen der am Hinterziehungssystem beteiligten Firmen, sondern nur im Umfang des jeweils höheren Hinterziehungsbetrages geschädigt wurde (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2016 - 1 StR 210/16 Rn. 22 mwN). Der Schaden, der sich aus den unrichtigen Erklärungen des einen Kettenglieds ergibt, setzt sich im Verhalten der nachfolgenden Glieder nur fort und vergrößert sich allenfalls (BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2002 - 5 StR 212/02 Rn. 3 f.; Urteil vom 11. Juli 2002 - 5 StR 516/01 Rn. 25 ff., BGHSt 47, 343, 353 f.).

b) Demgemäß hätte die Strafkammer vorliegend nur den aus dem Gesamtsystem erwachsenen deliktischen Hinterziehungsbetrag berücksichtigen dürfen. Die I. hatte eine Doppelfunktion inne und fungierte einerseits als „Buffer“, der unberechtigt Vorsteuern abgezogen hat, und andererseits ermöglichte sie als Rechnungsstellerin den unberechtigten Vorsteuerabzug der B. Die in den Scheinrechnungen an die B. ausgewiesene Umsatzsteuer wurde - zumindest teilweise - bereits durch Vorsteuern aus Scheinrechnungen der „Lieferantenfirmen“ an die I. kompensiert. Insoweit findet die Hinterziehung schon im Rahmen der Strafzumessung der Taten Berücksichtigung, die der Angeklagte in seiner Funktion als (faktischer) Geschäftsführer der I. begangen hat. Der durch die I. verursachte Schaden hat sich mithin - soweit diese Scheinrechnungen an die B. ausgestellt hat - im Schaden der B. lediglich fortgesetzt.

c) Diesen Zusammenhang zwischen dem zweimaligen unberechtigten Vorsteuerabzug (zunächst zugunsten der I. und nachfolgend zugunsten der B.) hat das Landgericht bei der Strafzumessung nicht ausreichend zugunsten des Angeklagten berücksichtigt und ist in der Folge hinsichtlich der Umsatzsteuerhinterziehungen über die B. jeweils von einem zu hohen Schuldumfang ausgegangen. Zwar führt die Strafkammer unter Bezugnahme auf die insofern einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Ansatz und mit Blick auf den Vorsatz des Angeklagten, dem Struktur und Funktionsweise des Gesamtsystems bekannt waren, zutreffend aus, dass im Rahmen der Strafzumessung (nur) der daraus insgesamt erwachsene deliktische Schaden zu berücksichtigen sei, der in dem Überschuss von gezogener Vorsteuer im Vergleich zu gezahlter Umsatzsteuer bestehe (UA S. 163). Diesen durch das System - per saldo - verursachten Gesamtsteuerschaden aus dem Vergleich zwischen gezahlter Umsatzsteuer und gezogener Vorsteuer hätte es jedoch in der Konsequenz konkret ermitteln und in die Strafzumessung einstellen müssen (vgl. Harms/Jäger, NStZ 2003, 189, 193; Rolletschke, HRRS 2009, 455, 456; Raum in Wabnitz/Janovsky/ Schmitt, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 5. Aufl., Kap. 4 Rn. 163 ff., 180). Dies unterbleibt jedoch.

2. Die in den Fällen 15 bis 29 der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen können daher keinen Bestand haben. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Festsetzung der Einzelstrafen auf diesem Rechtsfehler beruht. Die teilweise Aufhebung der Einzelstrafaussprüche entzieht auch dem Ausspruch über die Gesamtstrafe die Grundlage.

Demgegenüber sind die dem Urteil insoweit zugrundeliegenden Feststellungen von dem aufgezeigten Wertungsfehler nicht betroffen und haben daher Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann insofern weitere, mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehende Feststellungen treffen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 198

Externe Fundstellen: StV 2020, 738

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede