HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 744
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 164/17, Beschluss v. 23.05.2017, HRRS 2017 Nr. 744
Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Ansbach vom 14. November 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und die Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung ausgesetzt. Die dagegen gerichtete Revision des Beschuldigten hat mit der Sachrüge Erfolg.
Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Beschuldigte unter einer bipolaren affektiven Störung (ICD-10: F.31.0). Am Tattag im März 2016 bat er den später Geschädigten darum, mit dessen Fotoapparat den Beschuldigten und seinen Hund zu fotografieren. Dem kam der Geschädigte nach, woraufhin sich der Beschuldigte zunächst entfernte. Nach einiger Zeit kehrte er zurück und verlangte von dem Geschädigten mehrfach erfolglos die Herausgabe von dessen Fotokamera. Auf die Weigerung des Geschädigten hin hielt der Beschuldigte diesem ein Messer an den Bauch, ohne den Geschädigten allerdings zu verletzten. Mit diesem Vorgehen wollte der Beschuldigte seinem Herausgabeverlangen Nachdruck verleihen. Anschließend schnitt der Beschuldigte den ledernen Riemen der vom Geschädigten um den Hals getragenen Fotokamera durch und nahm diese an sich, was der Geschädigte aus Sorge vor dem Einsatz des Messers gegen ihn geschehen ließ. Der Beschuldigte entnahm aus der Kamera die Speicherkarte und stach mehrfach mit dem Messer darauf ein, um diese unbrauchbar zu machen. Anschließend steckte er sich diese in den Mund und verließ den Ort des Geschehens.
Mit seinem Vorgehen wollte er verhindern, dass der Geschädigte, den der Beschuldigte für einen „Nazi“ oder einen „Paparazzo“ hielt, das Bild rechtsextremen Gruppen zugänglich machte. Von solchen Gruppen glaubt sich der Beschuldigte verfolgt. Das sachverständig beratene Landgericht hat angenommen, aufgrund der bei dem Beschuldigten bestehenden bipolaren affektiven Störung, die es dem Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung zugeordnet hat, sei dessen Steuerungsfähigkeit bei Begehung der Anlasstat aufgehoben gewesen. Aufgrund der überdauernden Erkrankung des Beschuldigten sei bei erneuten „manischen Entgleisungen“ wiederum mit psychotischen Symptomen wie Größen- und Verfolgungswahn zu rechnen. Ebenfalls in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen ist das Landgericht davon ausgegangen, dass dann ähnliche Straftaten wie die Anlasstat zu erwarten seien. Letztlich hänge es von situativen Faktoren ab, ob es bei einer Bedrohung anderer bleibe oder der Beschuldigte Körperverletzungs- oder - wenn auch ungewollt - Tötungsdelikte begehe (UA S. 9).
Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Voraussetzungen der Maßregel sind nicht tragfähig begründet.
1. Eine Unterbringung gemäß § 63 StGB kommt nur dann in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird, also solche, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (Gefährlichkeitsprognose). Die Annahme einer gravierenden Störung des Rechtsfriedens setzt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung voraus, dass die zu erwartenden Delikte wenigstens in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen, den Rechtsfrieden empfindlich stören und geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12; BGH, Beschlüsse vom 16. Juni 2014 - 4 StR 111/14, NStZ 2014, 571 und vom 19. August 2014 - 3 StR 243/14; Urteil vom 28. Oktober 2015 - 1 StR 142/15, NStZ-RR 2016, 40; Beschlüsse vom 13. Oktober 2016 - 1 StR 445/16 Rn. 13 und vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16 Rn. 3; Urteil vom 21. Februar 2017 - 1 StR 618/16 Rn. 9 f.). Für die Anordnung der Maßregel reicht lediglich die Erwartung solcher rechtswidrigen Taten aus, durch die die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (§ 63 Satz 1 StGB).
Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (BGH, Beschlüsse vom 16. Januar 2013 - 4 StR 520/12, NStZ-RR 2013, 141; vom 1. Oktober 2013 - 3 StR 311/13; vom 2. September 2015 - 2 StR 239/15 und vom 3. Juni 2015 - 4 StR 167/15, StV 2016, 724; Urteil vom 13. Oktober 2016 - 1 StR 445/16 Rn. 15; Beschluss vom 15. März 2017 - 2 StR 557/16 Rn. 7) und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Taten von dem Beschuldigten infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12; BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306; Urteil vom 21. Februar 2017 - 1 StR 618/16 Rn. 10 mwN). In die Gefährlichkeitsprognose sind die konkrete Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung sowie die auf die Person des Beschuldigten bezogenen Risikofaktoren, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition zur Begehung von Straftaten jenseits der Anlasstat belegen können (BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16, NStZ-RR 2017, 76, 77 mwN), einzubeziehen. Dabei hat der Tatrichter die für die Entscheidung über die Unterbringung maßgeblichen Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzulegen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Februar 2017 - 1 StR 618/16 Rn. 10; Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16 Rn. 3 aE, NStZ-RR 2017, 76; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16 Rn. 9, NStZ-RR 2017, 74, 75; vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306 f. und vom 15. Januar 2015 - 4 StR 419/14, NStZ 2015, 394, 395; siehe auch Beschluss vom 10. November 2015 - 1 StR 265/15, NStZ-RR 2016, 76 f. mwN).
2. Dem genügt das angefochtene Urteil nicht.
a) Der Gefährlichkeitsprognose des Landgerichts liegt bereits nicht die gebotene umfassende Würdigung der Persönlichkeit des Beschuldigten und seines Vorlebens zugrunde. Es fehlen tragfähige Darlegungen dazu, seit wann die bipolare affektive Störung bei dem Beschuldigten bereits besteht und wie sich diese auf sein bisheriges Verhalten ausgewirkt hat. Aus dem Schweigen der Urteilsgründe zu den Beschuldigten betreffenden Eintragungen im Bundeszentralregister vermag der Senat noch zu entnehmen, dass der Beschuldigte offenbar mit der Anlasstat erstmalig strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Bislang fehlende Begehung von Straftaten bei Personen, die bereits über Jahre hinweg an einem psychischen Defekt leiden, wäre aber ein gewichtiges, gegen erhebliche zukünftige Gefährlichkeit sprechendes Indiz (st. Rspr.; siehe nur BGH, Urteile vom 10. Dezember 2014 - 2 StR 170/14, NStZ-RR 2015, 72, 73 und vom 8. Oktober 2015 - 4 StR 86/15 jeweils mwN; Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306, 307). Die grundsätzlich vorhandene Bedeutung dieses Indizes wird vorliegend nicht dadurch entkräftet, dass das Landgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, seit wann der Beschuldigte vor der Begehung der Anlasstat an der vom Sachverständigen diagnostizierten bipolaren affektiven Störung litt. Um der erforderlichen Gesamtwürdigung als Grundlage der Gefährlichkeitsprognose zu genügen, bedurfte es vielmehr Feststellungen dazu. Solche sind auch nicht von vornherein ausgeschlossen. Nach den ebenfalls sehr knappen Feststellungen zu den allgemeinen persönlichen Verhältnissen steht der mittlerweile 34-jährige Beschuldigte unter Betreuung seiner Eltern. Das angefochtene Urteil verhält sich weder zu dem Anlass und dem Zeitpunkt der Anordnung der Betreuung noch zu dem Aufgabenbereich der Eltern als Betreuer, obwohl daraus typischerweise Erkenntnisse zu dem bisherigen Verlauf der Störung des Beschuldigten gewonnen werden können. Solche Erkenntnisse wären naheliegender Weise von indizieller Bedeutung für die Prognose, ob von dem Beschuldigten zukünftig die Begehung (weiterer) erheblicher Straftaten droht.
b) Die Darlegungen des angefochtenen Urteils zur Gefährlichkeitsprognose lassen - auch unter Berücksichtigung seines Gesamtzusammenhangs - zudem die gebotene Auseinandersetzung mit den in der konkreten Lebenssituation des Beschuldigten bestehenden Risikofaktoren für seine individuelle krankheitsbezogene Disposition zur Begehung erheblicher Straftaten vermissen.
Soweit die Wahrscheinlichkeit höheren Grades zukünftiger erheblicher Straffälligkeit mit dem erneuten Auftreten von psychotischen Symptomen wie Größen- und Verfolgungswahn bei wiederum eintretender manischer Phase begründet wird (UA S. 9), mangelt es an einer ausreichend tragfähig dargelegten Grundlage dafür. Größenwahnsymptome des Beschuldigten lassen sich dem Urteil nicht entnehmen. Bezüglich des Verfolgungswahns nennt das Landgericht an verschiedenen Stellen des Urteils unterschiedliche konkrete Ausprägungen dieses Wahns, die ohne nähere Ausführungen nicht ohne Weiteres miteinander vereinbar sind. So wird für die Situation der Anlasstat die krankheitsbedingte (Fehl)Vorstellung des Beschuldigten berichtet, der Geschädigte sei ein „‘Nazi‘ und/oder Paparazzo“, der das Foto des Beschuldigten rechtsextremen Gruppen, die ihn verfolgten, zugänglich machen würde. Im Zusammenhang der Unterbringungsvoraussetzungen gibt das Landgericht ohne weitere Darlegungen die Einschätzung des Sachverständigen wieder, bei dem Beschuldigten habe sich spätestens bei der Anlasstat das Vollbild einer Manie mit „ausgeprägten psychotischen Symptomen mit Größenideen, Verfolgungsideen und einem ausgeprägten Wahnsystem, von der CIA und anderen Personen, wie z.B. Drogendealern, verfolgt zu werden“, gezeigt (UA S. 8). Die Sorge vor Verfolgung durch einen ausländischen Nachrichtendienst und „Drogendealer“ ist aber ausweislich der Ausführungen zur Anlasstat und ihres Motivs ohne jegliche Bedeutung dafür gewesen. Da das Landgericht, ebenfalls gestützt auf den Sachverständigen, die zukünftige Gefährlichkeit des Beschuldigten gerade auf Verfolgungswahn gründet, hätte es nachvollziehbarer und umfassender Darlegungen zu dem Wahnsystem des Beschuldigten bedurft.
c) Die Annahme, der Beschuldigte könne im Rahmen erneuter manischer Phasen und bei entsprechenden situativen Faktoren zukünftig Körperverletzungs- oder sogar Tötungsdelikte begehen, entbehrt ebenfalls einer tragfähigen Grundlage. Da das Landgericht keine ausreichenden Feststellungen zum bisherigen Krankheitsverlauf und zu dessen konkreten Ausprägungen - außerhalb der Anlasstat selbst - getroffen hat, lässt sich für den Senat nicht in der geforderten Weise nachvollziehen, aus welchen konkreten Umständen sich die Wahrscheinlichkeit für ein Umschlagen von einer mit (konkludenten) Drohungen verbundenen Straftat in Körperverletzungs- oder Tötungsdelikte ableiten lässt (vgl. bereits BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16, NStZ-RR 2017, 76, 77).
3. Auf den Darlegungsmängeln beruht das angefochtene Urteil. Auch wenn das Landgericht im Rahmen der Ausführungen zur Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung mit Cannabis- und Alkoholkonsum des Beschuldigten, ohne den Konsum und dessen Umfang allerdings näher zu belegen, grundsätzlich prognostisch ungünstige Umstände nennt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht bei Meidung der Rechtsfehler zu einer anderen Beurteilung der zukünftigen Gefährlichkeit des Beschuldigten gelangt wäre.
4. Allerdings lässt sich auch nicht ausschließen, dass bei umfassender Würdigung der Persönlichkeit des Beschuldigten, seiner Erkrankung und der Anlasstat die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommt. Nach den Feststellungen zur Anlasstat kann es sich angesichts der konkludenten Drohung mit dem Einsatz des Messers gegen den Unterleib des Geschädigten um eine erhebliche rechtswidrige Tat im Sinne von § 63 Satz 1 StGB handeln (vgl. BGH, Urteil vom 29. September 2015 - 1 StR 287/15, NJW 2016, 341, 342 bzgl. Todesdrohungen).
5. Die Darlegungsmängel führen zur Aufhebung des Urteils einschließlich der Feststellungen. Davon sind auch diejenigen zur Anlasstat betroffen (§ 353 Abs. 2 StPO). Angesichts der unzureichenden Ausführungen zu dem konkreten Wahnsystem des Beschuldigten einerseits und des offenbar vorhandenen Alkohol- und zumindest Cannabiskonsum des Beschuldigten andererseits bedarf auch die Frage der Schuldfähigkeit neuer Aufklärung und Bewertung. Selbst die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen können nicht aufrecht erhalten bleiben. Dem genauen Tatablauf und den Verhaltensweisen des Beschuldigten bei der Ausführung der Anlasstat kann Bedeutung sowohl für die Schuldfähigkeit als auch für die Anordnungsvoraussetzungen insgesamt zukommen.
Im Hinblick auf das bislang nur unklar beschriebene konkrete Störungsbild des Beschuldigten kann sich die Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen anbieten. Der Senat erinnert daran, dass das Tatgericht sowohl die Schuldfähigkeit als auch die Voraussetzungen der Unterbringung gemäß § 63 StGB in eigener Verantwortung zu beurteilen hat. Schließt es sich den Ausführungen des Sachverständigen an, muss es sich grundsätzlich mit dem Gutachteninhalt auseinandersetzen und die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise im Urteil mitteilen (st. Rspr.; siehe nur BGH, Beschluss vom 29. Juli 2015 - 4 StR 293/15, NStZ-RR 2015, 315 f. mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 744
Externe Fundstellen: StV 2019, 252
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede