HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 232
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 613/16, Beschluss v. 10.01.2017, HRRS 2017 Nr. 232
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 16. Juni 2016 aufgehoben, soweit von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen verschiedener Straftaten, überwiegend solcher nach dem Betäubungsmittelgesetz, u.a. wegen unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, mit Bestimmen eines Minderjährigen zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, mit unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige sowie mit räuberischer Erpressung unter Einbeziehung der Strafe aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Vom Vorwurf der Begehung einer weiteren Tat ist er freigesprochen worden.
Gegen die Verurteilung richtet sich die auf die Sachrüge gestützte, die Ablehnung der Unterbringung gemäß § 64 StGB nicht vom Rechtsmittelangriff ausnehmende Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, soweit das sachverständig beratene Landgericht von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) abgesehen hat.
1. Nach den Feststellungen erwarb der Angeklagte in den fünf verfahrensgegenständlichen Fällen zweimal 27 g und dreimal 100 g Marihuana mit Wirkstoffkonzentrationen zwischen 10 % und 12 % THC. Von den erworbenen Mengen waren jeweils 2/3 für den gewinnbringenden Weiterverkauf und jeweils 1/3 für den Eigenkonsum des Angeklagten bestimmt. Mit dem Konsum von Marihuana hatte der Angeklagte bereits im Rahmen eines vom Tatgericht so bezeichneten Probierkonsums im Alter von neun Jahren begonnen. Zunächst handelte es sich jedoch um eine seltene und unregelmäßige Einnahme. Ab dem Alter von 15 Jahren begann der heute 25-jährige Angeklagte mit dem täglichen Konsum von Marihuana. Eine längere Konsumpause war lediglich während seines Aufenthalts in einer therapeutischen Wohngruppe zu verzeichnen.
Ab dem Jahr 2012, nach seiner Entlassung aus einer zeitweiligen stationären Unterbringung, setzte er einen Teil der dort verordneten Medikamente ab und nahm stattdessen Cannabis in einer Konsummenge von bis zu 5 g täglich zu sich. Der tägliche Cannabiskonsum in diesem Umfang blieb bis zur Inhaftierung in dem gegenständlichen Verfahren erhalten. Lediglich in einem Zeitraum von sechs bis sieben Wochen verzichtete er auf Marihuana, trank währenddessen aber vermehrt Alkohol (vgl. UA S. 8, 15). Nach dem Antritt der Untersuchungshaft litt der Angeklagte unter Schweißausbrüchen, gesteigerter Nervosität und zeitweise unter Schlafstörungen (UA S. 8).
Das sachverständig beratene Landgericht hat die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt. Bei diesem liege kein Hang i.S.v. § 64 StGB vor. Der Angeklagte habe zwar einen missbräuchlichen Konsum von Cannabis betrieben, aber nicht das Stadium eines schädlichen Gebrauchs erreicht. Durch den Konsum von Cannabis sei es nicht zu einer Einschränkung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Angeklagten gekommen. Er sei auch nicht als sozial gefährdet oder gefährlich einzustufen. Ausweislich der vom Landgericht als nachvollziehbar gewerteten Ausführungen des Sachverständigen sei der Angeklagte nicht nur aufgrund fremdbestimmter Umstände zum Konsumverzicht in der Lage gewesen. Seinem Konsumverhalten wohne nicht die „Dynamik süchtigen Konsums“ inne, sondern der Gebrauch von Marihuana stelle sich eher „als Mittel seiner Wahl zur Dämpfung seiner hyperkinetischen und Impulskontrollstörung“ dar (UA S. 55 und 56).
2. Diese Erwägungen zum Unterbleiben der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt halten rechtlicher Überprüfung nicht in jeder Hinsicht stand. Das Landgericht hat zwar den Begriff des Hangs i.S.v. § 64 StGB als Maßstab für die Maßregelanordnung im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend erfasst. Allerdings hat es nicht alle für die Anwendung dieses Maßstabs bedeutsamen, von ihm festgestellten Umstände zur Persönlichkeit des Angeklagten, insbesondere seinem Konsumverhalten, und zu den verfahrensgegenständlichen Taten in die rechtliche Beurteilung zum Hang eingestellt. Die den Hang ausschließende tatgerichtliche Wertung erweist sich deshalb als rechtsfehlerhaft.
a) Wie das Landgericht an sich zutreffend angenommen hat, ist für einen Hang gemäß § 64 StGB eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer psychischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 26. Oktober 2016 - 4 StR 408/16, Rn. 6; vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113 und vom 21. August 2012 - 4 StR 311/12, RuP 2013, 34 f.). Letzteres ist der Fall bei der Begehung von zur Befriedigung des eigenen Drogenkonsums dienender Beschaffungstaten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Oktober 2016 - 4 StR 408/16, Rn. 6 und vom 2. April 2015 - 3 StR 103/15, Rn. 5; Urteil vom 10. November 2004 - 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210). Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt die Bejahung eines Hangs nicht aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15 aaO; vom 21. August 2012 - 4 StR 311/12 aaO; vom 12. April 2012 - 5 StR 87/12, NStZ-RR 2012, 271 und vom 1. April 2008 - 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198 f.). Ebenso wenig ist für einen Hang erforderlich, dass beim Täter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Oktober 2016 - 4 StR 408/16, Rn. 6; vom 10. November 2015 - 1 StR 482/15 aaO und vom 25. Juli 2007 - 1 StR 332/07, NStZ-RR 2008, 7).
b) Bei der Bewertung der festgestellten Umstände nach diesen Maßgaben hat das Landgericht im Kontext seiner Erwägungen zum auf eigener Willensentscheidung beruhenden Konsumverzicht des Angeklagten nicht erkennbar in den Blick genommen, dass dieser während des seit 2012 maximal siebenwöchigen Konsumverzichts auf Marihuana vermehrt Alkohol - vorzugsweise Wodka oder Rum - getrunken hat (UA S. 8, 15), was von indizieller Bedeutung für eine seitens des Angeklagten nur schwer zu ertragende Cannabisabstinenz und damit für einen Hang zum übermäßigen Konsum sein kann. Die Beurteilung des Landgerichts lässt zudem nicht erkennen, warum es dem aus den getroffenen Feststellungen deutlich hervorgehenden Charakter der Taten als Beschaffungstaten für den Eigenkonsum keine Bedeutung zumisst, obwohl es die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs referiert, nach der Beschaffungskriminalität einen Hang nahe legt. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend aufgezeigt hat, kann dem Urteil auch nicht ausreichend nachvollziehbar entnommen werden, warum nach der vom Landgericht geteilten Bewertung des Sachverständigen die bei dem Angeklagten nach Inhaftierung vorhandenen Entzugserscheinungen „im Ergebnis“ für die Beurteilung des Hangs nicht bedeutsam sein sollen. Denn regelmäßig kommt dem Vorhandensein von Entzugserscheinungen indizielle Bedeutung für einen Hang i.S.v. § 64 StGB zu, weil ihr Auftreten nach Absetzen des Rauschgifts Kennzeichen einer physischen Abhängigkeit ist (vgl. BGH, Beschluss vom 27. März 2008 - 3 StR 38/08, StV 2008, 405 f.; van Gemmeren in Münchener Kommentar zum StGB, Band 2, 3. Aufl., § 64 Rn. 29 mwN; siehe auch Schreiber/Rosenau in Venzlaff/ Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl., Kapitel 8, S. 121). Auch lässt sich nicht erkennen, ob dem Landgericht die lediglich indizielle Bedeutung von Auswirkungen des Rauschmittelkonsums auf die Arbeits- und Leistungsfähigkeit in beide Bewertungsrichtungen deutlich gewesen ist. Wie dargelegt schließt nämlich das Ausbleiben von Einschränkungen der Arbeits- und Leistungsfähigkeit einen Hang zum übermäßigen Rauschmittelkonsum nicht aus. Angesichts der nur lückenhaften Berücksichtigung für die Beurteilung eines möglichen Hangs relevanter, festgestellter Umstände ist die Ablehnung der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nicht tragfähig begründet.
c) Auf diesem Wertungsfehler des Landgerichts beruht das angefochtene Urteil insoweit. Die weiteren Anordnungsvoraussetzungen der Maßregel des § 64 StGB kommen nach den Feststellungen in Betracht. Handelt es sich wie hier um Straftaten, die begangen werden, um Rauschmittel selbst oder Geld für ihre Beschaffung zu erlangen, liegt der erforderliche symptomatische Zusammenhang (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2016 - 1 StR 470/16, Rn. 7 mwN) nahe (BGH aaO sowie Beschluss vom 28. August 2013 - 4 StR 277/13, NStZ-RR 2014, 75). Angesichts des Grades des bisherigen Cannabiskonsums und der bislang nur seltenen und kurzzeitigen Drogenabstinenzphasen ist ohne therapeutische Einwirkung auf den Angeklagten die Begehung weiterer Betäubungsmitteldelikte nicht von vornherein ausgeschlossen. Da das Landgericht selbst von einer Therapiebereitschaft des Angeklagten ausgeht (etwa UA S. 51), kommt auch die Prognose eines hinreichend sicheren Therapieerfolges in Betracht.
3. Es handelt sich lediglich um einen Wertungsfehler des Landgerichts. Die der Entscheidung bezüglich der Maßregel zugrunde liegenden Feststellungen bleiben daher aufrechterhalten (§ 353 Abs. 2 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 232
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede