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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1170

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 334/16, Beschluss v. 09.08.2016, HRRS 2016 Nr. 1170


BGH 1 StR 334/16 - Beschluss vom 9. August 2016 (LG Deggendorf)

Verlesung von Niederschriften über Zeugenaussagen (stillschweigende Zustimmung zur vernehmungsersetzenden Verlesung).

§ 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine stillschweigende Zustimmung zur vernehmungsersetzenden Verlesung kommt nur in Betracht, wenn auf Grund der vorangegangenen Verfahrensgestaltung davon ausgegangen werden darf, dass sich alle Verfahrensbeteiligten der Tragweite ihres Schweigens bewusst waren.

2. Wird eine auf § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestützte oder durch Einverständnis legitimierte Verlesung nicht thematisiert, die Anordnung entgegen § 251 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO vom Gericht nicht beschlossen und der Grund der Verlesung nicht bekanntgegeben, kann dem Angeklagten und dem Verteidiger unter keinen Umständen bewusst sein, dass es entscheidend auf ihre Zustimmung ankommen könnte. Allein ihr Schweigen auf eine Verlesung kann dann nicht dahin gedeutet werden, dass sie mit der Verlesung einverstanden gewesen wären.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 10. März 2016 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 17 tatmehrheitlichen Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Herstellen von kinderpornographischen Bildaufnahmen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit einer Verfahrensrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der Angeklagte beanstandet zu Recht eine Verletzung des § 250 StPO durch Verlesung einer Stellungnahme einer Diplom-Psychologin, bei der die Geschädigte wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in Behandlung war.

a) Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Im Vorfeld der Hauptverhandlung ist auf Anordnung der Vorsitzenden die Stellungnahme der Diplom-Psychologin, die als Sachverständige nicht allgemein vereidigt war, dem Verteidiger zur Kenntnis gebracht worden. Diese Stellungnahme befasste sich mit dem Inhalt der Behandlung der Geschädigten in ihrer Praxis sowie den Diagnosen und Tatfolgen. Zugleich ist durch die Vorsitzende mitgeteilt worden, dass das Gericht beabsichtige, „die Tatfolgen durch Verlesung der beigefügten Stellungnahme festzustellen“. In der Hauptverhandlung ist diese Stellungnahme sodann verlesen worden, ohne dass Erörterungen hierzu stattgefunden hätten. Eine Beanstandung als unzulässig erfolgte nicht. Von keinem Verfahrensbeteiligten ist ein Einverständnis zur Verlesung erteilt worden. Es ist weder ein Grund für die Verlesung angegeben, noch ist ein Beschluss hierzu gefasst worden. Die Diplom-Psychologin ist nicht in der Hauptverhandlung vernommen worden.

Im Urteil ist ausgeführt, dass die Feststellungen hinsichtlich der belastenden Tatfolgen für die Geschädigte auf dem Attest der Diplom-Psychologin beruhten und diese Folgen strafschärfend zu berücksichtigen seien.

b) Die Rüge ist zulässig. Der Angeklagte hat einen Sachverhalt vorgetragen, der es dem Revisionsgericht ohne weiteres ermöglicht, allein aufgrund seines Vortrags zu überprüfen, ob der gerügte Rechtsfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen werden (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 14. Oktober 2014 - 3 StR 167/14, wistra 2015, 148 und vom 29. April 2015 - 1 StR 235/14, NStZ-RR 2015, 278; Urteil vom 15. Dezember 2015 - 1 StR 236/15). Damit sind die Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erfüllt. Insbesondere bedurfte es entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts nicht des Vortrags, dass die vor der Hauptverhandlung erfolgte Mitteilung zur beabsichtigten Verlesung auch an Staatsanwaltschaft und Nebenklägervertreter erfolgt ist. Denn die Frage, ob eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vorlag, kann von der vor der Hauptverhandlung erfolgten und in dieser auch nicht wieder thematisierten bloßen Ankündigung, etwas verlesen zu wollen, nicht beeinflusst werden. Zumal diese Absichtserklärung ohne Angabe eines Verlesungsgrundes erfolgte.

c) Die Rüge zeigt auch einen Rechtsfehler auf. Die Verlesung der Stellungnahme im Wege des Urkundsbeweises war nicht zulässig. Die Voraussetzungen der die vernehmungsersetzende Verlesung ausnahmsweise gestattenden § 251 Abs. 1 StPO oder § 256 StPO lagen nicht vor; einer Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO bedurfte es nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 3 StR 315/11, NStZ 2012, 585).

aa) Schon die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO liegen nicht vor. Ein Einverständnis mit der Verlesung ist weder vom Angeklagten oder seinem Verteidiger noch seitens der Staatsanwaltschaft ausdrücklich erteilt worden. Eine stillschweigende Zustimmung liegt nicht vor. Eine solche kommt überhaupt nur in Betracht, wenn auf Grund der vorangegangenen Verfahrensgestaltung davon ausgegangen werden darf, dass sich alle Verfahrensbeteiligten der Tragweite ihres Schweigens bewusst waren (BGH, Beschluss vom 12. Juli 1983 - 1 StR 174/83, NJW 1984, 65 f.; OLG Köln, Beschluss vom 15. September 1987 - Ss 450/87, NStZ 1988, 31; vgl. auch BGH, Urteil vom 17. Mai 1956 - 4 StR 36/56, BGHSt 9, 230, 232 f.; Löwe/RosenbergSander/Cirener, StPO, 26. Aufl., § 251 Rn. 22 mwN). Daran fehlt es hier. Zu keinem Zeitpunkt ist eine auf § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestützte oder durch Einverständnis legitimierte Verlesung thematisiert worden. Auch ist die Anordnung entgegen § 251 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO vom Gericht nicht beschlossen und der Grund der Verlesung nicht bekanntgegeben worden. Damit konnte dem Angeklagten und dem Verteidiger aber unter keinen Umständen bewusst sein, dass es entscheidend auf ihre Zustimmung ankommen könnte. Allein ihr Schweigen auf eine Verlesung kann daher nicht dahin gedeutet werden, dass sie mit der Verlesung einverstanden gewesen wären.

bb) Die Stellungnahme enthielt auch kein Zeugnis oder ein Gutachten einer öffentlichen Behörde (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 a StPO), eines allgemein vereidigten Sachverständigen (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 b StPO) oder eines Arztes (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 c, Nr. 2 StPO).

2. a) Der Senat kann jedoch ein Beruhen des im Übrigen revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Schuldspruchs auf diesem Rechtsfehler ausschließen. Das Landgericht hat die Stellungnahme für seine diesbezügliche Überzeugung nicht herangezogen, sondern sich insoweit auf andere gewichtige Beweismittel, u.a. das weitreichende Geständnis des Angeklagten, gestützt.

b) Der gesamte Strafausspruch kann hingegen wegen des Rechtsfehlers keinen Bestand haben. Denn die Strafzumessung ist ausweislich der Urteilsgründe maßgeblich durch die Tatfolgen, wie sie sich nur aus der Stellungnahme der Diplom-Psychologin ergeben, beeinflusst.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1170

Externe Fundstellen: NStZ 2017, 299 ; StV 2017, 791

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner