HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 56
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 293/16, Beschluss v. 07.09.2016, HRRS 2017 Nr. 56
1. Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hechingen vom 1. Februar 2016 werden als unbegründet verworfen.
2. Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihres jeweiligen Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und in Tateinheit mit zwei tateinheitlichen Fällen der versuchten räuberischen Erpressung verurteilt und gegen den Angeklagten J. eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten sowie gegen den Angeklagten S. unter Einbeziehung von drei früheren Verurteilungen eine Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verhängt. Die Revisionen der Angeklagten sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Das Landgericht hat vorliegend folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Die Angeklagten J. und S. waren in nicht aufklärbarer Weise in den Verkauf von 50 Ecstasy-Pillen an B. verwickelt und versuchten, ab dem 2. März 2015 den Kaufpreis in Höhe von 500 Euro einzutreiben, um ihn für sich zu behalten. Einem für den 9. März 2015 vereinbarten Treffen blieb B. fern, wodurch sich die Angeklagten vorgeführt fühlten, und beschlossen, B. zu verprügeln, vorrangig um das Geld zu erlangen, aber auch um sich Respekt zu verschaffen. Der Angeklagte J. äußerte in diesem Zusammenhang, dass er B. notfalls solange festhalten und schlagen würde, bis dieser zahle. Zur Verfolgung dieses Tatplans lockten die Angeklagten gemeinsam mit den anderweitig Verfolgten Bl. und V. den Geschädigten B. am 14. März 2015 um 17 Uhr unter einem Vorwand zur Hauptschule in H. Da B. beim Anblick der Angeklagten und der anderweitig Verfolgten Bl. und V. sofort klar war, worum es diesen ging, flüchtete er zunächst, fiel jedoch hin, so dass die Angeklagten sowie Bl. und V. ihn einholten und auf ihn einschlugen und -traten. B. erlitt hierbei eine Gehirnerschütterung, eine Distorsion der Halswirbelsäule, diverse Prellungen und Schürfwunden sowie eine circa 1 cm lange oberflächliche Platzwunde an der rechten Schläfe mit einer kastaniengroßen Hämatomschwellung. Zunächst gab B. an, das Geld nicht dabei, aber zuhause zu haben.
Die Angeklagten schlossen daraufhin mit den anderweitig Verfolgten Bl. und V. die stillschweigende Vereinbarung, dass sie gemeinsam mit B. zu dessen Wohnung fahren, um das Geld zu erlangen. Sie stiegen hierzu gemeinsam in den Pkw des anderweitig Verfolgten V. ein, wobei B. auf dem mittleren Platz der Rückbank saß und so keine Möglichkeit hatte, sich dem Zugriff der Angeklagten zu entziehen. Noch auf der Fahrt räumte B. ein, dass er auch zuhause keine 500 Euro habe. Die Angeklagten wollten ihn jedoch nicht unverrichteter Dinge gehen lassen und beschlossen - auf Vorschlag von B. - daher, das Geld nunmehr von Bü., dem Vater des B., zu verlangen. Sie riefen Bü. an und drohten, dass der in ihrer Gewalt befindliche B. eine Tracht Prügel bekomme, falls er ihnen nicht aus Sorge um seinen Sohn 500 Euro aushändige. Als Treffpunkt für die Geldübergabe wurde der Autohof E. vereinbart. Hier trat Bü. so bestimmt auf, dass die Angeklagten und die anderweitig Verfolgten Bl. und V. nach längeren Verhandlungen einwilligten, dass sich B. in das Auto seines Vaters setzen durfte. Sie forderten jedoch weiterhin von Bü. die Zahlung von 500 Euro, bis schließlich die - vom ebenfalls vor Ort befindlichen Bruder des Bü., M., gerufene - Polizei eintraf, ohne dass es zu einer Geldübergabe kam.
Die Verfahrensrüge, mit der ein Verstoß gegen § 265 StPO gerügt wird, hat aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 24. Juni 2016 näher ausgeführten Gründen keinen Erfolg.
1. Die auf einer fehlerfreien Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen tragen den Schuldspruch.
2. Der Strafausspruch weist ebenfalls keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf. Zwar legt der Umstand, dass sie dem Geschädigten gestatteten, sich in das Fahrzeug seines Vaters zu begeben, eine Erörterung der tätigen Reue gemäß § 239a Abs. 4 Satz 1 StGB nahe. Denn B. war aufgrund eines Verhaltens der Angeklagten damit im Sinne der vorgenannten Vorschrift in seinen Lebensbereich zurückgelangt. Die unterbliebene Erörterung der tätigen Reue hat sich jedoch nicht zum Nachteil der Angeklagten ausgewirkt. Eine Strafmilderung auf der Grundlage von § 239a Abs. 4 Satz 1 StGB (i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB) kommt nämlich im Ergebnis nicht in Betracht, weil nicht alle Voraussetzungen der tätigen Reue gegeben sind. Erst dann ist aber das Ermessen des Tatrichters eröffnet, eine Strafmilderung zu gewähren.
a) Entgegen einer in der Strafrechtswissenschaft vertretenen Auffassung (Fischer, StGB, 63. Aufl., § 239a Rn. 20; MüKo-StGB/Renzikowski, 2. Aufl., § 239a Rn. 96) wird der Anwendungsbereich der tätigen Reue nicht bereits dadurch eröffnet, dass der Täter die Leistung nicht mehr mit den Mitteln des § 239a Abs. 1 StGB anstrebt. Vielmehr liegen die Voraussetzungen der fakultativen Strafmilderung gemäß § 239a Abs. 4 Satz 1 StGB erst dann vor, wenn der Täter das Opfer in dessen Lebensbereich zurückgelangen lässt und zudem auf die erstrebte Leistung verzichtet. Dazu muss der Täter vollständig von seiner Forderung Abstand nehmen (so auch LK-StGB/Schluckebier, 12. Aufl., § 239a Rn. 58; vgl. zur parallelen Problematik bei § 239b Abs. 2 i.V.m. § 239a Abs. 4 Satz 1 StGB auch: BGH, Beschlüsse vom 21. Mai 2003 - 1 StR 152/03, NStZ 2003, 605; vom 31. Mai 2001 - 1 StR 182/01, NJW 2001, 2895 und vom 8. Dezember 1999 - 3 StR 516/99, BGHR StGB § 239a Abs. 3 Verzicht 2). Eine solche Abstandnahme wird allerdings regelmäßig konkludent in der Freilassung des Opfers zu sehen sein.
aa) Die Notwendigkeit eines kumulativen Vorliegens ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, der den Verzicht auf die erstrebte Leistung neben der Freilassung des Opfers als Voraussetzung für das Vorliegen einer tätigen Reue gesondert hervorhebt.
bb) Die Gesetzesmaterialien legen ebenfalls nahe, dass es sich bei den typischerweise zusammenfallenden Elementen der Freilassung des Opfers und dem Verzicht auf die erstrebte Leistung um zwei eigenständige Merkmale des § 239a Abs. 4 Satz 1 StGB handelt. Der Gesetzeswortlaut des ursprünglich nur die Kindesentführung erfassenden § 239a StGB wurde mit dem 12. StrÄndG 1971 geändert und es wurde erstmals eine Regelung der tätigen Reue im damaligen Absatz 3 mit dem Wortlaut des heutigen Absatzes 4 aufgenommen. Während die Gesetzesfassung im Entwurf noch lautete „Das Gericht kann die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 15), wenn der Täter aus freien Stücken das Kind, ohne es dabei zu gefährden, freiläßt. (…)“ (BT-Drucks. VI/2139, S. 2), entschied sich der Gesetzgeber letztlich bewusst für die Aufnahme der Einschränkung „unter Verzicht auf die erstrebte Leistung“.
Der Gesetzgeber wollte mit der Einführung des damaligen Absatzes 3 dem Täter im Interesse des Opfers auch nach Vollendung der Tat noch die Möglichkeit geben, Strafmilderung zu erlangen, wenn er das Opfer wieder in seinen Lebenskreis zurückkehren lässt. Die Einschränkung „unter Verzicht auf die erstrebte Leistung“ erschien dem Gesetzgeber jedoch nötig, da andernfalls auch Konstellationen unter den Wortlaut der Vorschrift subsumierbar gewesen wären, bei denen der Täter das Opfer nach Erhalt des Lösegeldes freilässt. Dies dürfe jedoch keinesfalls zu einer Strafmilderung führen. Die gewählte Formulierung gebe der Rechtsprechung die Möglichkeit, auch in Grenzfällen sachgerechte Lösungen zu finden (so BT-Drucks. VI/2722, S. 3). Der Gesetzgeber nahm dabei sowohl den Präventivzweck der Strafe als auch Opferschutzbelange in den Blick, gelangte jedoch zu dem Ergebnis, dass ein Täter, der sich nicht von der Strafdrohung an sich, insbesondere bei der leichtfertigen Tötung nach dem heutigen Absatz 3, abschrecken lasse, sich auch nicht durch die Aussicht auf eine Strafmilderung von seinem Vorhaben abbringen lasse.
Letztlich belegen die Gesetzesgenese und die bewusste Entscheidung, den Entwurf noch um die einschränkende Voraussetzung „unter Verzicht auf die erstrebte Leistung“ zu erweitern, dass der Gesetzgeber dieser Komponente einen eigenständigen Bedeutungsgehalt neben dem Abstandnehmen vom Menschenraub zukommen lassen wollte. Diese klare gesetzgeberische Entscheidung würde umgangen, wenn man „unter Verzicht auf die erstrebte Leistung“ so auslegen würde, dass hiervon bereits jedes Abstandnehmen von einem Verfolgen des Ziels mit den Mitteln des § 239a Abs. 1 StGB erfasst wäre.
cc) Diese Auslegung widerspricht auch nicht der Gesetzessystematik. Andere Vorschriften zur tätigen Reue gewähren dem Täter ebenfalls keine uneingeschränkte „goldene Brücke“ zur Strafmilderung. Das bloße Abstandnehmen von der weiteren Tatbestandsverwirklichung genügt in der Regel nicht. So setzt etwa § 306e StGB voraus, dass der Täter den Brand freiwillig löscht, bevor ein erheblicher Schaden entsteht (ähnlich die Regelung des § 320 Abs. 2 StGB). Es ist hierbei immer im Blick zu behalten, dass die tätige Reue nur ausnahmsweise zu einer Strafmilderung führen soll, obwohl die Schwelle zur Vollendung bereits überschritten war. Welche Anforderungen an die tätige Reue zu stellen sind, ist daher durchaus auch mit Blick auf den Ausnahmecharakter der Vorschrift zu beurteilen.
dd) Schließlich harmoniert die hier vertretene Gesetzesauslegung auch mit den Anforderungen, die bei der parallelen Problematik des Rücktritts vom unbeendeten Versuch gestellt werden. Für diesen ist anerkannt, dass der Täter die Durchführung seines Entschlusses im Ganzen und endgültig aufgeben muss, um die Voraussetzungen eines Rücktritts i.S.d. § 24 StGB zu erfüllen (vgl. z.B. schon BGH, Urteile vom 14. April 1955 - 4 StR 16/55, BGHSt 7, 296 und vom 23. August 1979 - 4 StR 379/79, NJW 1980, 602). Da es oft vom Zufall abhängt, ob sich eine Tat noch im Versuchsstadium befindet oder bereits vollendet ist, liegt es nahe, bei der tätigen Reue ähnliche Anforderungen zu stellen wie beim Rücktritt vom Versuch.
b) Die Angeklagten haben dem Geschädigten B. lediglich gestattet, in seinen Lebensbereich zurückzukehren. Da sie aber weiterhin gegenüber dessen Vater an ihrem unberechtigten Verlangen auf Zahlung von 500 Euro festgehalten haben, haben sie keine tätige Reue gemäß § 239a Abs. 4 Satz 1 StGB geübt. Wegen des ausdrücklichen Festhaltens an der Forderung auf Zahlung von 500 Euro erweist sich im vorliegenden Fall die Freilassung des Geschädigten auch nicht als konkludenter Verzicht auf die erstrebte Leistung.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung für den Angeklagten J. beruht auf § 473 Abs. 1 StPO. Auch der über ein eigenes Einkommen verfügende Angeklagte S. hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen, § 109 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 74 JGG.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 56
Externe Fundstellen: NJW 2017, 1124; NStZ 2017, 412; StV 2019, 99
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede