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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 786

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 24/16, Beschluss v. 29.06.2016, HRRS 2016 Nr. 786


BGH 1 StR 24/16 - Beschluss vom 29. Juni 2016 (LG München II)

BGHSt 61, 208; sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses (Begriff des Missbrauchs: Verschleifungsverbot, Ausnutzug der Autoritäts- oder Vertrauensstellung, erforderliche Einzelfallbetrachtung; Begriff des Anvertrautseins: durch besondere Vertrauensstellung des Täters gekennzeichnetes fürsorgerische Verhältnis zum Opfer).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 174c Abs. 1 StGB

Leitsätze

1. Zur Eigenständigkeit des Merkmals „Missbrauch“ bei § 174c Abs. 1 StGB. (BGHSt)

2. Für die Beurteilung, ob ein Missbrauch im Sinne von § 174c Abs. 1 StGB vorliegt, kommt es auf die konkrete Art und Intensität des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses an. (BGHSt)

3. Der Tatbestand des § 174c Abs. 1 StGB fordert den Missbrauch eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses. Dabei handelt es sich um ein einschränkendes Tatbestandsmerkmal, dem eine eigenständige Bedeutung zukommt. Die Auslegung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten bezeichnet hat, darf nicht dazu führen, dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen deshalb nicht so ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen; st. Rspr). (Bearbeiter)

4. Deshalb kann nicht schon jeder sexuelle Kontakt im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses per se missbräuchlich im Sinne von § 174c StGB sein, ansonsten würde das Tatbestandsmerkmal „unter Missbrauch“ jede Bedeutung verlieren (vgl. BGH NStZ 1999, 349). (Bearbeiter)

5. Vor dem Hintergrund der innerhalb von Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnissen üblicherweise bestehenden Vertrauens- und Abhängigkeitsbeziehung soll durch § 174c Abs. 1 StGB ein Missbrauch derselben durch sexuelle Handlungen verhindert werden. Kommt es in Zusammenhang mit einem solchen Verhältnis zu sexuellen Handlungen zwischen dem behandelnden Arzt und einem Patienten, kann ein Missbrauch auch vorliegen, wenn das Opfer mit dem Sexualkontakt einverstanden ist (vgl. BGHSt 56, 226, 230). (Bearbeiter)

6. In den meisten Fällen wird sich von selbst verstehen, dass ein Arzt, der sexuelle Handlungen an einer Patientin oder einem Patienten im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses vornimmt, dieses besondere Verhältnis missbraucht, etwa wenn er vorgibt, die sexuelle Handlung sei medizinisch notwendig, wenn er behandlungsbezogene Nachteile beim Zurückweisen seines Ansinnens in den Raum stellt oder wenn er die schutzlose Lage einer (entkleideten) Patientin zur Vornahme sexueller Handlungen ausnutzt (vgl. BGHSt 56, 226, 234 mwN). (Bearbeiter)

7. An einem Missbrauch in dem vom Gesetz vorausgesetzten Sinne fehlt es aber, wenn der Täter im konkreten Fall nicht eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses bestehende Autoritäts- oder Vertrauensstellung gegenüber dem Opfer zur Vornahme der sexuellen Handlung ausgenutzt hat (vgl. BGHSt 56, 226, 232 mwN). Der Missbrauch setzt die illegitime Wahrnehmung einer Chance voraus, die das Vertrauensverhältnis im Sinne dieser Vorschrift mit sich bringt (BGHSt 28, 365, 367). (Bearbeiter)

8. Entscheidend kommt es für die Beurteilung, ob ein Missbrauch vorliegt, zudem auf die konkrete Art und Intensität des Beratungs-, Behandlungs-oder Betreuungsverhältnisses an. Je intensiver die Kontakte zwischen Täter und Opfer im Rahmen dieses Verhältnisses sind, desto geringere Anforderungen sind an das Vorliegen eines Missbrauchs zu stellen. Je weniger der Täter hingegen im Rahmen dieses Verhältnisses mit dem Opfer befasst ist, desto höher sind die Anforderungen. (Bearbeiter)

9. An einem Missbrauch fehlt es deshalb, wenn eine bereits in ärztlicher Behandlung befindliche Patientin von sich aus das schon vorhandene Interesse eines mit ihr privat bekannten Arztes an ihrer Person ausnutzt, um sich im Rahmen einer lockeren freundschaftlichen Beziehung lediglich auf diesem Weg sonst nicht erhältliche Medikamente verschreiben zu lassen, dabei dem Arzt aufgrund ihrer beruflichen Stellung und Persönlichkeit „auf Augenhöhe“ begegnet und der Entschluss, mit dem Arzt sexuell zu verkehren, nicht auf wesentliche (krankheitsbedingte) Willensmängel zurückzuführen ist. (Bearbeiter)

10. Das für die Tatbestandserfüllung notwendige „Anvertrautsein“ setzt weder das Vorliegen einer rechtsgeschäftlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer voraus noch kommt es darauf an, auf wessen Initiative das Verhältnis begründet wird. Das Verhältnis muss auch nicht von einer so besonderen Intensität und Dauer sein, dass eine Abhängigkeit des Behandelten vom Arzt entstehen kann; es ist ausreichend, wenn das Opfer die fürsorgerische Tätigkeit des Täters entgegennimmt (vgl. BGH NStZ 2012, 440). Entgeltlichkeit ist nicht entscheidend, sondern das durch eine besondere Vertrauensstellung des Täters gekennzeichnete fürsorgerische Verhältnis zum Opfer. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 15. Juli 2015 aufgehoben.

Der Angeklagte wird freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last. Die Nebenklägerin trägt ihre notwendigen Auslagen selbst.

Die Entscheidung über die Entschädigung des Angeklagten wegen erlittener Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratungs- oder Behandlungsverhältnisses in zwei Fällen“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die mit der näher ausgeführten Sachrüge geführte Revision des Angeklagten führt zu dessen Freispruch.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

1. Der Angeklagte ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und in dieser Funktion in verschiedenen Positionen tätig gewesen, u.a. als Landgerichtsarzt beim Landgericht München II, als Psychiater in den Justizvollzugsanstalten Straubing und München-Stadelheim und als stellvertretender Chefarzt einer forensischen Abteilung. Seit 2001 ist der Angeklagte als freier (forensischer) Gutachter tätig. In dieser Funktion lernte der Angeklagte die Nebenklägerin, die Zeugin S., im Jahr 2007 kennen. Die Nebenklägerin war zu dieser Zeit Richterin in einer Strafvollstreckungskammer beim Landgericht München I und hatte mit einem (anderweitig verheirateten) Kollegen der Strafvollstreckungskammer ein Verhältnis begonnen. Dieser Kollege, der Zeuge W., war damals mit dem Angeklagten eng befreundet und machte ihn mit der Nebenklägerin bekannt. Sie erteilte in der Folgezeit gelegentlich Gutachtenaufträge an den Angeklagten. W. sagte der Nebenklägerin, dass der Angeklagte Interesse an ihr habe. Als die Beziehung der Nebenklägerin mit W. Ende 2007 in eine Krise geriet, verabredete sie sich Anfang 2008 mit dem Angeklagten zum Abendessen in einem Münchener Lokal. Dort erzählte sie ihm von ihrer Alkoholabhängigkeit. Beim Abschied versuchte der Angeklagte, der Nebenklägerin einen Zungenkuss zu geben, was diese abwehrte. In der Folgezeit gab es nur noch zufällige Begegnungen der beiden.

2. Die Nebenklägerin war seit Ende 2004 alkoholabhängig und wurde deshalb mehrfach stationär behandelt. Bei einem viermonatigen Aufenthalt in der Oberbergklinik im Jahr 2006 wurden neben der Alkoholabhängigkeit eine bipolare affektive Störung und eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, bei einem zweiwöchigen Aufenthalt im Jahr 2009 ein Rückfall bei Alkoholabhängigkeit, eine Benzodiazepin-Abhängigkeit und eine bipolare affektive Störung und bei einem weiteren zweiwöchigen Aufenthalt im Februar 2010 ein Rückfall bei Alkoholabhängigkeit, eine Angststörung und eine bipolare affektive Störung. Bei ihrem letzten Aufenthalt wurde sie u.a. mit dem Benzodiazepin Tavor behandelt, das in der Klinik langsam reduziert und bis Ende Februar 2010 abgesetzt wurde. Anschließend war die Nebenklägerin weiterhin in ambulanter Behandlung.

3. Nach dem letzten Klinikaufenthalt gingen die dienstlichen Leistungen der Nebenklägerin, die nunmehr in der Funktion „Staatsanwältin als Gruppenleiterin“ in der politischen Abteilung der Staatsanwaltschaft München I tätig war, merklich zurück. Anfang Juni 2010 hielt ihr Vorgesetzter ihr dies in einem Gespräch vor und mahnte eine Verbesserung der Arbeitsleistung oder den Wechsel in eine andere Abteilung bzw. zu einer anderen Behörde an. Hierdurch fühlte sich die Nebenklägerin unter Druck gesetzt und konnte sich nicht mehr vorstellen, ohne die Einnahme von Benzodiazepinen weiter zu arbeiten. Sie ging davon aus, dass ihr behandelnder Psychotherapeut ihr diese nicht verschreiben würde. In dieser Situation kam ihr der Gedanke, sich an den Angeklagten zu wenden und sein Interesse an ihr auszunutzen, um ihn zur Verschreibung von Benzodiazepinen zu bewegen.

a) Am 5. Juni 2010 rief die Nebenklägerin beim Angeklagten an, sagte, ihr gehe es sehr schlecht, und fragte ihn zum Schein, ob es in einer Notfallambulanz Psychiater gebe. Dabei hoffte sie, er würde ihr seine Hilfe anbieten. Der Angeklagte bot ihr (ihrem Plan entsprechend) an, sie solle doch zu ihm in die Praxis kommen, was die Nebenklägerin tat. Dort diagnostizierte er bei ihr eine massive Angstattacke und verschrieb ihr - medizinisch vertretbar - auf ihre Bitte hin 10 Tabletten mit dem Wirkstoff Tavor, einem Benzodiazepin. Beide besprachen die von der Nebenklägerin auf Verschreibung ihres Psychotherapeuten eingenommene Medikation, der Angeklagte schlug aufgrund erheblicher Nebenwirkungen (Gewichtszunahme) eine Änderung vor. Die Nebenklägerin stellte dem Angeklagten in diesem Zusammenhang ein privates Treffen in Aussicht, was dieser annahm. Sie hoffte dabei, den Angeklagten durch eine sexuelle Beziehung als Tablettengeber zu gewinnen. Zugleich kam ihr entgegen, dass sie damit ihren früheren Geliebten W. ärgern konnte.

b) Der Angeklagte ließ sich von der Nebenklägerin eine Schweigepflichtentbindung unterschreiben und forderte von der Oberbergklinik die Arztberichte an, die er noch im Juni 2010 erhielt und las. Daraus ergab sich für den Angeklagten, dass bei der Nebenklägerin das Risiko einer Benzodiazepin-Abhängigkeit bestand. Im Juni sandte der Angeklagte der Nebenklägerin auf ihre Bitte hin mindestens einmal ein weiteres Benzodiazepinrezept zu, das die Nebenklägerin mittels Fertigung einer Kopie zweimal einlöste. In der Folgezeit kam es zu mehrfachem Kontakt zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten. Ende Juni 2010 sandte die Nebenklägerin dem Angeklagten eine SMS mit einem eindeutigen sexuellen Angebot, die folgenden SMS waren dann von beiden Seiten in einem sexuellen Bereich angesiedelt.

c) Anfang Juli 2010 verabredeten sich beide in der Wohnung der Nebenklägerin, um dort sexuell miteinander zu verkehren. Man einigte sich auf Initiative des Angeklagten auf „soften SM“, der Angeklagte brachte entsprechende Utensilien wie Schlagwerkzeuge mit, die anschließend zum Einsatz kamen. Es kam auch zum ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr. In der Folgezeit kam es ungefähr zu zwei weiteren, in gleicher Weise verlaufenden Intimkontakten (nicht verfahrensgegenständlich).

Dem Angeklagten war dabei bekannt, dass die Nebenklägerin ihn in seiner Eigenschaft als Arzt aufgesucht, er sie über ihre Medikation beraten und ihr Rezepte ausgestellt hatte. Er machte sich bei der Aufnahme der intimen Beziehungen zunutze, dass sie sich in einem psychisch angeschlagenen Zustand befand und dass sie für die von ihr begehrten Benzodiazepine von ihm als ärztlichem Rezeptgeber abhängig war. Der Angeklagte hätte zwar gerne eine Lebenspartnerschaft mit der Nebenklägerin begonnen, wollte ein Kind von ihr, überlegte, eine gemeinsame Wohnung zu nehmen, und sprach ihr gegenüber halb im Scherz und halb im Ernst an, sie zu heiraten. Die Nebenklägerin lehnte dies aber alles ab, so dass es nicht zu einer beidseitigen „echten Liebesbeziehung“ oder Lebenspartnerschaft kam. In dieser Zeit war der Angeklagte vielmehr weiterhin mit P. liiert.

d) In den folgenden Wochen fuhren der Angeklagte und die Nebenklägerin an zwei Wochenenden jeweils in das Ferienhaus des Angeklagten am Gardasee, wo sie Sexualverkehr in der beschriebenen Weise hatten (insoweit hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt). Sie gingen auch in Verona einkaufen und besuchten die Oper.

e) Im August 2010 wollte der Angeklagte Urlaub in seinem Ferienhaus in Kreta machen und bat die Nebenklägerin um Begleitung. Als diese ablehnte, erklärte er, dann nehme er seine bisherige Lebensgefährtin P. mit. Dies empfand die Nebenklägerin als Unverschämtheit, weil der Angeklagte ihr noch kurz zuvor erklärt habe, er liebe sie und wolle sie heiraten. Sie forderte vom Angeklagten, er müsse ihr weiter die Medikamente geben. Der Angeklagte, der die Nebenklägerin als Sexualpartnerin nicht verlieren wollte, ging darauf ein und überließ ihr zwei Blankorezepte, die sie anschließend zur Medikamentenbeschaffung (Tavor, Zyprexa) verwendete.

f) Ende Oktober 2010 trafen sich die Nebenklägerin und der Angeklagte zum Frühstück in einem Lokal. Er meinte zu ihr, sie beide „könnten doch mal wieder Sex haben“. Zunächst begaben sich beide in die Praxisräume des Angeklagten, wo er ihr einen alten Rezeptblock mit fünf blanko unterzeichneten Rezepten überließ. Dann begaben sie sich in die Wohnung der Nebenklägerin und hatten dort Geschlechtsverkehr.

g) Aufgrund einer Bitte des Angeklagten, ihm einen Rezeptblock im Internet zu bestellen, bestellte sich die Nebenklägerin mit den Daten des Angeklagten selbst einen Rezeptblock sowie einen passenden Praxisstempel, fälschte anschließend die Unterschrift des Angeklagten und versorgte sich mit hohen Mengen von Tavor. Der steigende Konsum führte im Dezember 2010 zum Zusammenbruch der Nebenklägerin mit einer schweren Diazepamintoxikation. Es gelang ihr noch, den Angeklagten anzurufen, der ihr in ihrer Wohnung Hilfe leistete und ihre Einweisung in eine Klinik veranlasste. In der Klinik trat er teils als einweisender Arzt, teils als Lebensgefährte auf.

4. Im Rahmen der Hauptverhandlung verpflichtete sich der Angeklagte, der Nebenklägerin als „symbolischen Ausgleich für sein Verhalten“ insgesamt 20.000 Euro zu zahlen, wovon 2.100 Euro sofort beglichen wurden.

II.

Der Angeklagte ist freizusprechen (§ 354 Abs. 1 StPO). Ein Freispruch durch das Revisionsgericht erfolgt, wenn die zu einem bestimmten Anklagepunkt fehlerfrei und erkennbar vollständig getroffenen Feststellungen ergeben, dass sich der Angeklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt strafbar gemacht hat, und weitere Feststellungen, die zu einer Verurteilung führen könnten, auch unter Berücksichtigung des Gebots umfassender Sachaufklärung und erschöpfender Beweiswürdigung nicht zu erwarten sind (vgl. BGH, Urteile vom 7. März 1995 - 1 StR 523/94, StV 1996, 81; vom 19. Januar 1999 - 1 StR 171/98, NJW 1999, 1562, 1564 und vom 22. April 2004 - 5 StR 534/02, NStZ-RR 2004, 270, 271; Gericke in KK-StPO, 7. Aufl., § 354 Rn. 3 mwN). Dies ist vorliegend der Fall.

1. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Landgerichts hat sich der Angeklagte nicht strafbar gemacht.

a) Insbesondere belegen die Feststellungen keine Strafbarkeit des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs der Nebenklägerin unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses (§ 174c Abs. 1 StGB). Die Voraussetzungen dieser Strafnorm liegen nicht vor. Zwar hat der Angeklagte mehrfach sexuelle Handlungen an der Nebenklägerin vorgenommen und von ihr an sich vornehmen lassen. Dies geschah aber nicht unter Missbrauch eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses.

aa) Zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin bestand ein Beratungs- und Behandlungsverhältnis. Die Nebenklägerin hatte sich mit der Bitte um ärztlichen Rat an den Angeklagten gewandt. Der Angeklagte hatte ihr als Arzt Medikamente verschrieben, ärztliche Berichte über Vorbehandlungen angefordert und sie ärztlich, auch in seiner Praxis, beraten.

Die Nebenklägerin hatte sich dem Angeklagten auch wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit einschließlich einer Suchtkrankheit anvertraut. Sie hatte sich vor dem Hintergrund der bei ihr zuletzt diagnostizierten Störungen (Alkoholabhängigkeit, Angststörung und bipolare affektive Störung) aufgrund einer als besonders belastend empfundenen beruflichen Situation an den Angeklagten gewandt. Das für die Tatbestandserfüllung notwendige „Anvertrautsein“ setzt weder das Vorliegen einer rechtsgeschäftlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer voraus noch kommt es darauf an, auf wessen Initiative das Verhältnis begründet wird. Das Verhältnis muss auch nicht von einer so besonderen Intensität und Dauer sein, dass eine Abhängigkeit des Behandelten vom Arzt entstehen kann; es ist ausreichend, wenn das Opfer die fürsorgerische Tätigkeit des Täters entgegennimmt (vgl. BGH, Urteil vom 1. Dezember 2011 - 3 StR 318/11, NStZ 2012, 440; vgl. zu den Anforderungen an dieses Verhältnis auch BGH, Beschluss vom 2. Mai 2016 - 4 StR 133/16). Entgeltlichkeit ist nicht entscheidend, sondern das durch eine besondere Vertrauensstellung des Täters gekennzeichnete fürsorgerische Verhältnis zum Opfer (vgl. KG, Beschluss vom 27. Januar 2014 - [4] 161 Ss 2/14 [11/14], NStZ-RR 2014, 178).

bb) Der Angeklagte hat dieses Verhältnis aber nicht zur Vornahme sexueller Handlungen an der Nebenklägerin „missbraucht“.

1) Der Tatbestand des § 174c Abs. 1 StGB fordert den Missbrauch eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses. Dabei handelt es sich um ein einschränkendes Tatbestandsmerkmal, dem eine eigenständige Bedeutung zukommt (vgl. BT-Drucks. 13/8267 S. 7; OLG Karlsruhe, Urteil vom 4. Juni 2009 - 3 Ss 113/08, BeckRS 2009, 20082). Die Auslegung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten bezeichnet hat, darf nicht dazu führen, dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen deshalb nicht so ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen; st. Rspr.; vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 28. Juli 2015 - 2 BvR 2558/14 u.a., NJW 2015, 2949, 2954 mwN). Deshalb kann nicht schon jeder sexuelle Kontakt im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses per se missbräuchlich im Sinne von § 174c StGB sein, ansonsten würde das Tatbestandsmerkmal „unter Missbrauch“ jede Bedeutung verlieren (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Februar 1999 - 4 StR 23/99, NStZ 1999, 349 [zu § 174a Abs. 1 StGB], OLG Karlsruhe aaO).

§ 174c StGB dient dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung in Situationen, in denen dieses Rechtsgut aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit der durch Krankheit oder Behinderung belasteten Rechtsgutsträger und der Eigenart von Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnissen typischer Weise besonders gefährdet ist (vgl. BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR 669/10, BGHSt 56, 226, 230). Vor dem Hintergrund der innerhalb von Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnissen üblicherweise bestehenden Vertrauens- und Abhängigkeitsbeziehung soll ein Missbrauch derselben durch sexuelle Handlungen verhindert werden (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Mai 2016 - 4 StR 133/16 mwN). Kommt es in Zusammenhang mit einem solchen Verhältnis zu sexuellen Handlungen zwischen dem behandelnden Arzt und einem Patienten, kann ein Missbrauch auch vorliegen, wenn das Opfer - wie hier - mit dem Sexualkontakt einverstanden ist (vgl. BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR 669/10, BGHSt 56, 226, 230; Beschluss vom 2. Mai 2016 - 4 StR 133/16). In den meisten Fällen wird sich von selbst verstehen, dass ein Arzt, der sexuelle Handlungen an einer Patientin oder einem Patienten im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses vornimmt, dieses besondere Verhältnis missbraucht, etwa wenn er vorgibt, die sexuelle Handlung sei medizinisch notwendig, wenn er behandlungsbezogene Nachteile beim Zurückweisen seines Ansinnens in den Raum stellt oder wenn er die schutzlose Lage einer (entkleideten) Patientin zur Vornahme sexueller Handlungen ausnutzt (BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR 669/10, BGHSt 56, 226, 234 mwN).

An einem Missbrauch in dem vom Gesetz vorausgesetzten Sinne fehlt es aber, wenn der Täter im konkreten Fall nicht eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses bestehende Autoritäts- oder Vertrauensstellung gegenüber dem Opfer zur Vornahme der sexuellen Handlung ausgenutzt hat (vgl. BGH aaO S. 232 mwN). Der Missbrauch setzt die illegitime Wahrnehmung einer Chance voraus, die das Vertrauensverhältnis im Sinne dieser Vorschrift mit sich bringt (BGH, Urteil vom 4. April 1979 - 3 StR 98/79, BGHSt 28, 365, 367 [zu § 174 StGB]). Ein Missbrauch liegt deshalb etwa bei einvernehmlichen sexuellen Handlungen des Ehepartners oder Lebensgefährten während eines Betreuungsverhältnisses oder bei einer von dem Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis unabhängigen „Liebesbeziehung“ und in deren Folge nur gelegentlich der Behandlung oder nach deren Abschluss vorgenommenen sexuellen Handlung nicht vor (vgl. BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR 669/10, BGHSt 56, 226, 234 mwN).

Entscheidend kommt es für die Beurteilung, ob ein Missbrauch vorliegt, zudem auf die konkrete Art und Intensität des Beratungs-, Behandlungs-oder Betreuungsverhältnisses an. Je intensiver die Kontakte zwischen Täter und Opfer im Rahmen dieses Verhältnisses sind, desto geringere Anforderungen sind an das Vorliegen eines Missbrauchs zu stellen. Je weniger der Täter hingegen im Rahmen dieses Verhältnisses mit dem Opfer befasst ist, desto höher sind die Anforderungen (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 4. Juni 2009 - 3 Ss 113/08, BeckRS 2009, 20082; vgl. auch BGH, Beschluss vom 29. September 1998 - 4 StR 324/98, NStZ 1999, 29 [zu § 174a StGB]).

(2) An einem Missbrauch fehlt es deshalb, wenn - wie hier - eine bereits in ärztlicher Behandlung befindliche Patientin von sich aus das schon vorhandene Interesse eines mit ihr privat bekannten Arztes an ihrer Person ausnutzt, um sich im Rahmen einer lockeren freundschaftlichen Beziehung lediglich auf diesem Weg sonst nicht erhältliche Medikamente verschreiben zu lassen, dabei dem Arzt aufgrund ihrer beruflichen Stellung und Persönlichkeit „auf Augenhöhe“ begegnet und der Entschluss, mit dem Arzt sexuell zu verkehren, nicht auf wesentliche (krankheitsbedingte) Willensmängel zurückzuführen ist.

Die Nebenklägerin wurde im anklagegegenständlichen Zeitraum vorrangig von F. behandelt. Diesen betrachtete sie selbst als ihren „Hauptarzt“, während sie den Angeklagten weniger als behandelnden Arzt ansah (UA S. 13). Mit dem Angeklagten ging die Nebenklägerin eine Beziehung ein, bei der nicht die regelmäßige intensive ärztliche Beratung oder Betreuung im Vordergrund stand, sondern unentgeltlicher ärztlicher Rat auf freundschaftlicher Basis.

Die Nebenklägerin hat sich bereits vor Beginn des Behandlungsverhältnisses von sich aus dazu entschlossen, den vorher nicht als Arzt mit ihr befassten Angeklagten zu instrumentalisieren, um sich durch sein sexuelles Interesse an ihr Zugang zu Medikamenten zu verschaffen, die sie auf anderem Wege nur schwer besorgen konnte. Nach ihren, von der Kammer als glaubhaft gewerteten Angaben, hat sie den Plan gefasst, durch Aufnahme einer sexuellen Beziehung mit dem Angeklagten nicht nur ihren früheren Kollegen und Liebhaber W. zu ärgern, sondern sich aufgrund des starken Interesses des Angeklagten an ihr Rezepte zu verschaffen, die sie von ihrem behandelnden Arzt nicht ausgestellt bekommen hätte (UA S. 13). Diesen Plan hat die Nebenklägerin in der Folge zielgerichtet umgesetzt und die Aufnahme des Behandlungsverhältnisses durch eine List erreicht. Ihr Angebot „Sex für Tabletten“ (UA S. 11) hat der Angeklagte aus Sicht der Nebenklägerin aufgrund seines vorhandenen Interesses an ihr angenommen. Damit stellt sich das Vorgehen der Nebenklägerin im Ergebnis als Ausdruck ihrer sexuellen Selbstbestimmung dar, nicht als deren Missbrauch durch den Angeklagten.

Diese Entscheidung der Nebenklägerin war auch frei von wesentlichen Willensmängeln. Die Nebenklägerin war nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Landgerichts im anklagegegenständlichen Zeitraum nicht abhängig von Benzodiazepinen. Der Angeklagte ging nach Einholung der ärztlichen Berichte der Oberbergklinik von einer bloßen - falsch behandelten - Alkoholabhängigkeit der Nebenklägerin aus (UA S. 11). Die Nebenklägerin befand sich bereits in ärztlicher Behandlung und konnte sich dort die von ihr benötigte Hilfe holen. Zwar gab es ein auch krankheitsbedingt besonders gesteigertes Interesse an der Verschreibung angstunterdrückender Medikamente. Dieses Interesse war aber nicht derart übermächtig, dass es die freie Willensentschließung der Nebenklägerin normativ relevant beeinträchtigt hätte. Die Nebenklägerin blieb im anklagegegenständlichen Zeitraum nach den Feststellungen des Landgerichts vielmehr Herrin ihrer Entscheidungen, was sich auch daran zeigt, dass sie auf die weitergehenden Avancen des Angeklagten durchweg ablehnend reagierte.

Die Nebenklägerin begegnete dem Angeklagten zudem auf „Augenhöhe“. Eine für andere Konstellationen des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses typische Abhängigkeitsbeziehung bzw. ein Autoritätsvorsprung des Arztes ist nach den Feststellungen des Landgerichts ausgeschlossen. Die promovierte Nebenklägerin war in einer verantwortungsvollen Stelle als „Staatsanwältin als Gruppenleiterin“ bei der politischen Abteilung der Staatsanwaltschaft München I tätig und hatte früher dem Angeklagten als Richterin am Landgericht Gutachtenaufträge erteilt. Aufgrund dieser Position hatte sie eher einen Autoritätsvorsprung im Verhältnis zum Angeklagten als umgekehrt. Dies zeigt sich auch im Verhalten der Nebenklägerin, die keineswegs blind den Wünschen des Angeklagten folgte, sondern etwa seinen Wunsch, mit ihr nach Kreta in Urlaub zu fahren, einfach ausschlug.

b) Die rechtsfehlerfreien Feststellungen belegen auch nicht, dass sich der Angeklagte im Rahmen des anklagegegenständlichen Tatvorwurfs wegen einer anderen noch verfolgbaren Straftat strafbar gemacht hätte. Über naheliegende Verstöße gegen das berufliche Standesrecht hat der Senat nicht zu entscheiden.

2. Es ist auszuschließen, dass ein neues Tatgericht Feststellungen treffen wird, die einen Schuldspruch gegen den Angeklagten tragen würden.

Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist umfassend. Die umfangreichen Angaben des Angeklagten und der Nebenklägerin zur Sache, die lediglich in wenigen Punkten voneinander abweichen, sind in den Urteilsgründen ausführlich wiedergegeben. Weitere erhebliche Beweismittel in Bezug auf den übersichtlichen Sachverhalt sind schon nach dem Urteilsinhalt nicht ersichtlich. Angesichts dieser Umstände hat der Senat im konkreten Fall keinen Anlass gesehen, zur Prüfung dieser Frage den gesamten Akteninhalt ergänzend heranzuziehen (vgl. hierzu näher BGH, Urteil vom 7. März 1995 - 1 StR 523/94, StV 1996, 81; KG, Beschlüsse vom 3. April 2006 - [5] 1 Ss 329/05 [12/06], NStZ-RR 2006, 276 und vom 17. Januar 2007 - [2/5] 1 Ss 448/06 [73/06], StraFo 2007, 245; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, 59. Aufl., § 354 Rn. 3).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 und § 472 Abs. 1 Satz 1 StPO.

IV.

Die Entscheidung über eine Entschädigung des Angeklagten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht überlassen (vgl. BGH, Urteile vom 19. Januar 1999 - 1 StR 171/98, NJW 1999, 1562, 1564 und vom 22. April 2004 - 5 StR 534/02).

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 786

Externe Fundstellen: BGHSt 61, 208; NJW 2016, 2965; StV 2017, 382

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede