HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 423
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 659/15, Beschluss v. 18.02.2016, HRRS 2016 Nr. 423
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 15. Oktober 2015 mit den Feststellungen aufgehoben, jedoch bleiben die Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten aufrecht erhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter Nötigung in Tateinheit mit Bedrohung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Brandstiftung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der bereits mehrfach vorbestrafte Angeklagte wurde zuletzt im Jahr 1997 wegen schwerer räuberischer Erpressung, bei deren Begehung seine Schuldfähigkeit aufgrund einer chronischen schizophrenen Psychose in Verbindung mit massivem Alkoholgenuss erheblich vermindert war (§ 21 StGB), zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Er leidet seit vielen Jahren an einer paranoiden Schizophrenie, die das Eingangsmerkmal des § 20 StGB der krankhaften seelischen Störung erfüllt, sowie an einer manifesten Alkoholabhängigkeit.
2. Im Juli 2014 befand sich der Angeklagte in psychiatrischer Behandlung in der Institutsambulanz des Bezirkskrankenhauses K. Am 10. Juli 2014 gegen 13.00 Uhr hielt sich die Zeugin D. als Haushaltshilfe in einem Wohnheim in K. auf, in dem der Angeklagte ein Zimmer bewohnte. Als ein Mitarbeiter der Institutsambulanz wegen des Angeklagten im Wohnheim anrief und die Zeugin D. den Angeklagten an das Telefon holen wollte, reagierte er abweisend und äußerte, man solle ihn in Ruhe lassen.
Kurze Zeit später betrat er unvermittelt die Küche des Wohnheims, wo sich die Zeugin D. aufhielt, beleidigte diese als „blöde Kuh“ und forderte sein Taschengeld von ihr. Dieses wurde dem Angeklagten von seinem Betreuer aus seiner Grundsicherungsrente wöchentlich nur in Höhe von 10 Euro ausbezahlt, um einen unkontrollierten Alkoholkonsum des Angeklagten zu verhindern. Nachdem ihm die Zeugin erklärt hatte, er habe das Taschengeld für diese Woche bereits erhalten, ergriff der Angeklagte ein etwa 30 Zentimeter langes Messer und schlug mit der Faust, die Messerspitze nach oben gerichtet, mehrfach mit voller Wucht auf den Küchentisch, um die Zeugin einzuschüchtern. Anschließend fuchtelte er damit vor dem Bauch der Zeugin herum und schrie: „Ich stech dich ab, wenn du mir mein Geld nicht gibst“. Die Zeugin versuchte den Angeklagten zu beruhigen und erklärte ihm, sie werde das Geld holen. Der Angeklagte ging dabei irrig davon aus, dass sein Einschüchterungsversuch erfolgreich war und die Zeugin ihm sein Taschengeld, wie angekündigt, bringen werde.
Bei der Tat war der Angeklagte mit einer Blutalkoholkonzentration von maximal 2,72 Promille erheblich alkoholisiert. Die Strafkammer hält es für wahrscheinlich, dass das Handeln des Angeklagten auch durch psychotische Symptome, insbesondere imperative Stimmen, Wahnvorstellungen oder andere psychotische Symptome relevant beeinflusst wurde, da der Angeklagte in den letzten Tagen vor der Tat seine Medikamente nicht mehr in ausreichender Dosierung eingenommen hatte. Eine konkrete Beeinträchtigung konnte die Strafkammer aber nicht sicher feststellen. Sie konnte daher nicht ausschließen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei vorhandener Einsichtsfähigkeit in das Unrecht seines Tuns in Folge des Zusammenwirkens der paranoiden Schizophrenie mit der akuten Alkoholintoxikation erheblich vermindert war (§ 21 StGB).
3. In der Nacht vom 23. auf den 24. April 2015 setzte der Angeklagte in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit der Zeugin Kl. auf deren Idee hin die aus Holz erbaute Vereinshütte eines Feuerwehrvereins mit Feuerzeugbenzin als Brandbeschleuniger in Brand. Infolge des Zusammenwirkens der paranoiden Schizophrenie und der Wirkung des von dem Angeklagten vorher genossenen Alkohols konnte die Strafkammer auch in diesem Fall eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) bei vorhandener Einsichtsfähigkeit nicht ausschließen.
4. In Folge abnehmender Bereitschaft, seine Medikamente regelmäßig und in ausreichendem Maße einzunehmen, ist nach Einschätzung der sachverständig beratenen Strafkammer mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Begehung weiterer gleichartiger Taten zu rechnen. Eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht für einen nachhaltigen Behandlungserfolg im Rahmen einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) besteht nach Auffassung der Strafkammer nicht. Diagnostisch stehe die schizophrene Grunderkrankung des Angeklagten im Vordergrund, so dass eine psychotherapeutische Suchttherapie sinnlos sei. Eine Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) lehnte die Strafkammer aber ab, weil sie deren Voraussetzungen ebenfalls nicht sicher feststellen konnte.
Die Revision hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg.
1. Die Schuldfähigkeitsprüfung des Landgerichts begegnet durchgreifenden Bedenken.
a) Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass die Strafkammer bei der Entscheidung zu der Frage, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten im Sinne von § 20 StGB vollständig aufgehoben war, gegen den Zweifelsgrundsatz verstoßen hat.
Bleiben nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht behebbare tatsächliche Zweifel bestehen, die sich auf die Art und den Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen, ist zugunsten des Täters zu entscheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 19. November 2014 - 4 StR 497/14, NStZ-RR 2015, 71 mwN). Solche Zweifel werden hier in der Beweiswürdigung zur Schuldfähigkeit des Angeklagten angedeutet.
Zwar schloss der Sachverständige Dr. W., dessen Ausführungen sich die Strafkammer ohne Einschränkungen angeschlossen hat, aus, dass von einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit bzw. Einsichtsfähigkeit „ausgegangen werden müsste“ (UA S. 9). Auf Nachfrage der Strafkammer gab der Sachverständige jedoch an, dass er die konkreten Auswirkungen der psychiatrischen Grunderkrankung auf die verfahrensgegenständlichen Taten nicht bestimmen könne. Es sei zwar in Folge der nicht ausreichenden medikamentösen Behandlung in den letzten Tagen vor der Tat vom 10. Juli 2014 wahrscheinlich, dass Symptome der Krankheit aufgetreten seien. Mangels konkreter Aussagen des Angeklagten zu seinem Innenleben könne er dies jedoch nicht sicher feststellen. Auch „hätten sich weder direkt noch indirekt eindeutige Anhaltspunkte für das Vorliegen schwerer, die Tatmotivation relevant mitbegünstigender psychotischer Symptome feststellen“ lassen (UA S. 9). Diese Wendung deutet darauf hin, dass durchaus Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Sachverhalts gegeben waren, der zu einer vollständigen Aufhebung der Steuerungsfähigkeit geführt haben kann, das Landgericht aber eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten schon deshalb für ausgeschlossen erachtet hat, weil dafür kein eindeutiger Nachweis erbracht werden konnte (vgl. BGH aaO).
b) Die Ausführungen, mit denen das Landgericht die Annahme einer lediglich erheblich verminderten Schuldfähigkeit begründet hat, weisen auch nicht die für eine revisionsgerichtliche Nachprüfung erforderliche Begründungstiefe auf.
Das Landgericht beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die Wertung des Sachverständigen zu übernehmen, es könne sicher ausgeschlossen werden, dass von einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit bzw. Einsichtsfähigkeit ausgegangen werden müsste. Ergänzend wies die Strafkammer darauf hin, dass auch die Zeugen von Ausfallerscheinungen des Angeklagten bzw. Auffälligkeiten in Bezug auf eine psychotische Symptomatik nicht berichten konnten und sich der Angeklagte gegenüber den herbeigerufenen Polizeibeamten unauffällig verhielt. Auch habe der Angeklagte angegeben, dass er schon lange keine imperativen Stimmen mehr gehört habe. Dies genügt indes nicht, um eine Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten sicher ausschließen zu können. Hierfür hätte das Landgericht in den Urteilsgründen näher darlegen müssen, welchen Einfluss die psychiatrische Grunderkrankung im Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in den konkreten Tatsituationen haben konnte und welche Aussagekraft das Fehlen erkennbarer Verhaltensauffälligkeiten für die Frage der sicheren Verneinung einer möglichen Schuldunfähigkeit hatte.
2. Da in Betracht kommt, dass der Angeklagte bei Begehung der Taten schuldunfähig war, bedarf die Sache neuer tatrichterlicher Prüfung und Entscheidung. Die Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten bleiben hiervon unberührt. Sie können bestehen bleiben, weil sie rechtsfehlerfrei getroffen worden sind. Zwar hat der Angeklagte die Tatvorwürfe bestritten. Die auf Zeugenaussagen gestützte Beweiswürdigung der Strafkammer, die sich von den Tatvorwürfen überzeugt hat, enthält insoweit jedoch keine Rechtsfehler.
Für die neue Hauptverhandlung bemerkt der Senat:
Sollte die neue Strafkammer wiederum zum Ergebnis gelangen, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten beim Tatgeschehen vom 10. Juli 2014 nicht vollständig aufgehoben war, wird sie im Rahmen der rechtlichen Würdigung in den Blick nehmen können, dass der Tatbestand der Bedrohung auch hinter eine nur versuchte Nötigung zurücktritt (vgl. BGH, Beschluss vom 8. November 2005 - 1 StR 455/05, NStZ 2006, 342).
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 423
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede