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HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 921

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 53/15, Urteil v. 04.08.2015, HRRS 2015 Nr. 921


BGH 1 StR 53/15 - Urteil vom 4. August 2015 (LG Würzburg)

Mord (Heimtücke, niedrige Beweggründe); tatrichterlicher Beweiswürdigung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 211 Abs. 2 StGB; § 261 StPO

Entscheidungstenor

Die Revisionen des Angeklagten, der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Würzburg vom 29. Oktober 2014 werden verworfen. Jeder Rechtsmittelführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. Die Staatskasse trägt die dem Angeklagten durch die Revision der Staatsanwaltschaft entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Die hiergegen jeweils mit der Sachrüge geführten Revisionen des Angeklagten, der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin haben keinen Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:

Der bislang unbestrafte Angeklagte lebte seit seiner Geburt in seinem Elternhaus in R. Nach dem Tod der Eltern bewohnte er das Haus alleine, wobei er die Fenster aus Gründen des Sichtschutzes mit Folie beklebte.

Zutritt zum Haus gewährte er anderen nicht. Der Angeklagte hat weder bislang eine Beziehung unterhalten noch Kontakte innerhalb eines Freundeskreises. Eine emotionale Beziehung bestand nur zu einem Dackel, den der Angeklagte 13 Jahre lang besaß. Der Angeklagte ging nie einer Beschäftigung nach; er lebt von Gewinnen aus Aktiengeschäften und den Einnahmen aus der Vermietung mehrerer Wohnungen in Würzburg, die seine Eltern gekauft hatten.

Das Haus des Angeklagten liegt in dem mit freistehenden Häusern bebauten Wohngebiet K. in R. Hinter der Wohnbebauung beginnen weitläufige Weinberge. Schräg gegenüber vom Haus des Angeklagten steht das im Tatzeitpunkt von dem Tatopfer H. S. und seiner Ehefrau W. S. bewohnte Haus. Wenige Meter rechts vom Haus des Ehepaars S. entfernt führt ein längerer Trampelpfad in ein dicht mit Bäumen, Büschen und Sträuchern bewachsenes Hanggelände, von wo aus ein weiterer, in die Weinberge führender Weg erreicht wird. Diesen Trampelpfad pflegte der Angeklagte und hielt ihn sauber, weil er ihn für seine täglichen Spaziergänge mit seinem Hund nutzte.

Mit den Nachbarn S. befand sich der Angeklagte, der keinerlei soziale Kontakte pflegte, seit Jahren im Streit. Als Enkelkinder der Eheleute S. auf dem vom Angeklagten gepflegten Trampelpfad Kastanien sammelten, beschimpfte der Angeklagte sie und warf anschließend - vom später Getöteten zur Rede gestellt - einen Stein nach H. S. Dem von dem Ehepaar S. um Vermittlung gebetenen Bürgermeister gewährte der Angeklagte keinen Zutritt zu seinem Anwesen; auch sonstige Personen wie etwa den Kaminkehrer ließ er nicht in sein Haus. Die letzte verbale Auseinandersetzung gab es Ende August 2013 als der 76-jährige H. S. auf seinem Grundstück die Scheiben seines PKW putzen wollte. Der Angeklagte wies H. S. darauf hin, dass dort kein Autowaschplatz sei und beschimpfte ihn als „alte Drecksau“. Als H. S. seine Tätigkeit fortsetzte, holte der Angeklagte einen Holzknüppel und äußerte etwas später gegenüber seinem Nachbarn, dass er ihn irgendwann erwischen werde.

Wenige Wochen später - am Tattag, einem Mittwoch - begannen die Eheleute S. morgens mit Gartenarbeiten um ihr Haus herum. Während W. S. im Gartenbereich Unkraut jätete, schnitt H. S. mit einer Astschere Äste von Sträuchern und Büschen, die vom benachbarten öffentlichen Hang in den Garten ihres Hauses wuchsen. Um dorthin zu kommen, hatte H. S. den Trampelpfad betreten und war etwa in der Mitte durch eine enge Öffnung im Pflanzendickicht abgebogen. Er war nun nur wenige Meter von seiner Frau entfernt. Aufgrund des dichten Pflanzenbewuchses bestand kein Sichtkontakt, beide unterhielten sich aber.

Der Angeklagte war darüber verärgert, dass H. S. den Trampelpfad betreten hatte; diesen Fußweg beanspruchte er für sich selbst und wollte seinen Nachbarn deshalb zur Rede stellen. Mit seinem Dackel verließ er das Haus und ging den Trampelpfad hoch bis zum Durchgang, der zu der Stelle abbog, wo H. S. seine Schnittarbeiten verrichtete. Um bei einer eventuellen Konfrontation mit dem zwar deutlich älteren, aber rüstigen und körperlich ebenbürtigen Nachbarn gerüstet zu sein, trug der Angeklagte ein Messer mit einer Klingenlänge von mindestens 15 cm bei sich.

Der Angeklagte trat vor H. S. und es kam nicht ausschließbar zu einem kurzen Wortgefecht. Aufgrund seiner fortbestehenden Verärgerung versetzte der Angeklagte nunmehr H. S. mit dem mitgeführten Messer einen kraftvollen Stich in den Rücken, das Messer bogenförmig um den Körper seines Opfers führend. Hierbei nahm er den Tod seines Opfers wenigstens billigend in Kauf.

Aufgrund der Wucht des Stichs drang die Klinge 20 cm in den Körper von H. S. auf der Höhe des linken Schlüsselbeins ein und durchtrennte die Hauptschlagader, was binnen kurzer Zeit zum Tod führte. Im Augenblick des Stichs stieß H. S. einen gellenden Schrei aus, den seine Ehefrau wahrnahm. Sie fragte ihn, was geschehen sei. Als sie keine Antwort erhielt, lief sie zu der Stelle, wo er gearbeitet hatte, und fand ihn leblos am Boden. Der Angeklagte ging derweil mit seinem Hund spazieren und wurde ca. drei Stunden später einige Kilometer vom Tatort entfernt festgenommen.

2. Seine Überzeugung von der Täterschaft des die Tat leugnenden Angeklagten hat das Schwurgericht auf folgende Indizien gestützt: Aufgrund der glaubhaften Aussage von W. S. stehe fest, dass der Angeklagte ein bis zwei Minuten vor der Tat sein Anwesen verlassen habe. Die Tat müsse von einem Ortskundigen durchgeführt worden sein, weil der Zugang zum Tatort kaum erkennbar gewesen sei. Der Angeklagte habe die Anwesenheit von H. S. am Tatort von seinem Haus aus wahrnehmen können und habe aufgrund der vorangegangenen Streitigkeiten sowie wegen Ärgers über die Benutzung „seines“ Trampelpfades auch ein Motiv zur Tatbegehung. An seiner Kleidung und an seinem Kopf seien Blutspuren des Opfers festgestellt worden. Andere Personen seien aufgrund der zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten als Täter auszuschließen.

3. Das Schwurgericht hat die Tat des Angeklagten rechtlich als Totschlag gewertet. Vom Vorliegen von Mordmerkmalen konnte es sich nicht überzeugen:

Eine heimtückische Begehungsweise hat die Strafkammer nicht angenommen, weil sie nicht habe feststellen können, dass das Tatopfer bezüglich des Angriffs des Angeklagten arg- und wehrlos gewesen sei und der Angeklagte sich diese Situation zunutze gemacht habe. Zwar sprächen das Fehlen von Abwehrverletzungen und die Wunde am Rücken für einen unvorhersehbaren Angriff. Nach Angaben des gerichtsmedizinischen Sachverständigen sei aber näher liegend, dass sich der Angeklagte und H. S. gegenüber gestanden hätten und der Stich schwungvoll um den Körper des Opfers herum geführt worden sei. Weil auch vorstellbar sei, dass es vor der Tat zu einem kurzen Wortwechsel gekommen sei, wobei der Angeklagte H. S. mit dem Messer bedroht habe, könne auch kein Tatablauf festgestellt werden, bei dem der Getötete in hilfloser Lage überrascht worden oder gehindert gewesen sei, dem Angriff auf sein Leben zu entgehen. Zugunsten des Angeklagten sei davon auszugehen, dass er dem Tatopfer in feindseliger Willensrichtung gegenüber getreten sei und ihn mit einem Messer bedroht habe.

Niedrige Beweggründe liegen nach Auffassung des Schwurgerichts ebenfalls nicht vor. Zwar habe der Angeklagte aus nichtigem Anlass gehandelt; entscheidend sei neben dem jahrelangen Streit die Verärgerung über die vom Tatopfer im Bereich des Trampelpfades durchgeführten Gartenarbeiten gewesen. In diesem Zusammenhang sei aber auch die akzentuierte Persönlichkeit des Angeklagten zu berücksichtigen. In einer Gesamtwürdigung könnten die Beweggründe des Angeklagten nicht als niedrig qualifiziert werden.

4. Bei der Strafzumessung hat die Strafkammer zu Gunsten des Angeklagten gewertet, dass er bislang unbestraft ist und es sich bei ihm um eine akzentuierte Persönlichkeit handelt; auch der jahrelange Streit mit den Nachbarn könne nicht unbeachtet bleiben. Zum Nachteil des Angeklagten führt das Schwurgericht an, dass der Angeklagte aus nichtigem Anlass einen Menschen getötet habe und sich diese Tat auch auf Familienangehörige des Tatopfers auswirke, insbesondere die Witwe sei nach mehr als 50 Ehejahren im Alter nunmehr auf sich allein gestellt.

II.

Die Revision des Angeklagten ist unbegründet.

1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält revisionsrechtlicher Überprüfung stand. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, der sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden hat (§ 261 StPO). Die tatsächlichen Schlussfolgerungen des Tatgerichts müssen nicht zwingend sein; es genügt, dass sie möglich sind und das Tatgericht von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. Das Revisionsgericht ist auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist, weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht übereinstimmt oder sich soweit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 1. Oktober 2013 - 1 StR 403/13, NStZ 2014, 475 mwN).

Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten enthält die Beweiswürdigung der Schwurgerichtskammer nicht. Der von ihr angesichts der Beweislage gezogene Schluss auf die Täterschaft des Angeklagten ist vielmehr nachvollziehbar und naheliegend.

2. Die rechtsfehlerfreien Feststellungen tragen den Schuldspruch.

3. Die Strafzumessung weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Soweit die Schwurgerichtskammer strafschärfend gewürdigt hat, dass sich die Tat auch auf Familienangehörige des Tatopfers auswirkt, ist dies in seiner Allgemeinheit zwar nicht unproblematisch (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Februar 2004 - 4 StR 403/03 und vom 27. Oktober 2010 - 2 StR 489/10). Konkretisiert wird diese Wertung aber durch die nachfolgende Erwägung, wonach die Ehefrau des Angeklagten nunmehr im Alter nach 50 Ehejahren auf sich allein gestellt ist, was sich für sie besonders belastend auswirkt (vgl. insoweit auch Senat, Urteil vom 26. Februar 2015 - 1 StR 574/14). Damit hat es auf eine über die bloße Tatbestandserfüllung hinausgehende verschuldete Auswirkung der Tat abgestellt.

III.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin bleiben erfolglos.

1. Die Ablehnung des Mordmerkmals der Heimtücke hält revisionsrechtlicher Überprüfung stand.

Heimtückisch handelt, wer eine zum Zeitpunkt des Angriffs bestehende Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tat ausnutzt (st. Rspr.; vgl. die Nachweise bei Fischer, 62. Aufl., § 211 Rn. 34). Für die Feststellungen von Arglosigkeit im Zeitpunkt der ersten Angriffshandlung gilt der Zweifelsgrundsatz (Fischer, aaO Rn. 38).

Die Schwurgerichtskammer konnte letztlich keine Feststellungen zum konkreten Tatablauf treffen. Dem Fehlen von Abwehrverletzungen und der Stichwunde am Rücken als Indizien für eine heimtückische Begehungsweise hat sie entgegengehalten, dass der Angeklagte bei der Tatausführung nach den Erläuterungen des Sachverständigen zur Stichverletzung näherliegend dem Opfer gegenüberstand. Auch vor dem Hintergrund, dass H. S. bei der Gartenarbeit mit einer Astschere tätig war, als sich der Angeklagte ihm näherte, hat das Landgericht letztlich keinen Tatablauf feststellen können, bei dem der Geschädigte überrascht wurde oder gehindert gewesen war, dem Angriff auf sein Leben zu begegnen.

Soweit die Schwurgerichtskammer in diesem Zusammenhang erwogen hat, dass es vor dem Angriff - wie schon zuvor bei Streitigkeiten zwischen dem Angeklagten und H. S. - zu einem kurzen Wortwechsel gekommen sein könnte, steht dies entgegen den Auffassungen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin zu den zeugenschaftlichen Bekundungen der Ehefrau W. S. nicht in unauflösbarem Widerspruch. Zwar hat die Zeugin S. angegeben, sie habe während ihrer Gartenarbeit wenige Meter vom Tatort entfernt keine Unterhaltung ihres Mannes mit einem Dritten oder ein Hundebellen gehört (UA S. 17). Ein möglicher Wortwechsel muss aber nicht besonders laut gewesen sein. Auch in anderem Zusammenhang (Hundebellen) stellt die Kammer im Hinblick auf die Wahrnehmungssituation von W. S. zudem darauf ab, dass sie durch die Gartenarbeit abgelenkt war.

Vor dem Hintergrund des jahrelangen, auch mit Beschimpfungen durch den Angeklagten einhergehenden Nachbarschaftsstreits und der wenige Wochen vor der Tat erfolgten Beleidigungen und Bedrohungen des Tatopfers durch den Angeklagten, erweist sich die Annahme der Kammer, der Tötung von H. S. könne eine verbale Auseinandersetzung vorausgegangen sein, auch nicht als haltlose Vermutung oder Unterstellung zu Gunsten des Angeklagten, für die es keine Anhaltspunkte gibt.

2. Auch die Ablehnung des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe ist letztlich nicht zu beanstanden.

Zwar kommt bei einer Tötung aus - wie hier - nichtigem Anlass, die Annahme niedriger Beweggründe grundsätzlich in Betracht (vgl. Fischer, aaO § 211 Rn. 18). Die Schwurgerichtskammer durfte im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung aber zur Ablehnung niedriger Beweggründe auf die besonders akzentuierte (schizoide) Persönlichkeit des Angeklagten abstellen. Dieser nahm nach den Ausführungen des Sachverständigen persönlichkeitsbedingt Besitzrechte an dem „Trampelpfad“ für sich in Anspruch und den Weg möglicherweise als eigene Sphäre wahr, den er habe schützen wollen, wobei ihm das Tatopfer zu nahe gekommen sei. Diese Wertung des Schwurgerichts hält sich in dem vom Revisionsgericht bei der Prüfung niedriger Beweggründe hinzunehmenden Beurteilungsspielraum des Tatgerichts (vgl. Fischer, aaO Rn. 15).

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 und 2 StPO (vgl. BGH, Urteil vom 4. September 2014 - 4 StR 473/13 mwN; vgl. aber auch BGH, Urteil vom 30. November 2005 - 2 StR 402/05 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 921

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel