HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 50
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 457/15, Urteil v. 03.12.2015, HRRS 2016 Nr. 50
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts München I vom 24. April 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten und auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, das Landgericht habe rechtlich fehlerhaft einen Rücktritt des Angeklagten vom versuchten Totschlag angenommen. Mit der sofortigen Beschwerde wendet sie sich gegen die Kostenentscheidung. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hielt sich der Angeklagte in den frühen Morgenstunden des 6. Juni 2014 im „C.“ in München auf. Ihm missfiel, dass der spätere Geschädigte mit seiner älteren Schwester tanzte. Er forderte ihn deshalb außerhalb des Clubs zu einer Unterredung auf. Dabei kam es zu einem Wortgefecht mit wechselseitigen Beleidigungen, wobei nicht festgestellt werden konnte, welcher Beteiligte hiermit begonnen hatte. Als beide bereits mehr als hundert Meter in Richtung eines dem Club benachbarten Innenhofs gegangen waren und sich an einer unbeleuchteten Stelle befanden, versetzte der körperlich überlegene Angeklagte dem Geschädigten, nicht ausschließbar aus Verärgerung über dessen Widerworte, unvermittelt wenigstens einen Schlag gegen den Kopf. Der Geschädigte rief um Hilfe, fiel zu Boden und blieb auf dem Bauch bewegungslos liegen. Der Angeklagte schlug und trat nun mit Fäusten und Füßen vielfach auf den Kopf- und den Gesichtsbereich des Geschädigten ein, um sich abzureagieren, nicht aber, um diesen zu töten. Hierbei führte der Angeklagte, der Turnschuhe trug und Inhaber des schwarzen Gürtels im Taekwondo war, ohne Einsatz von Kampftechniken drei stampfende Tritte von oben nach unten auf den Bereich des linken Ohres und des linken Hinterkopfes des Geschädigten aus.
Er war sich, so stellt es das Landgericht fest, auch aufgrund seiner langjährigen Kampfsporterfahrung, bewusst, dass solche Tritte und die daraus resultierenden Verletzungen grundsätzlich geeignet sind, den Tod herbeizuführen und nahm diese potentielle Gefährlichkeit der Tritte billigend in Kauf.
Nach den Tritten ließ der Angeklagte von dem jedenfalls nun bewusstlosen Geschädigten ab, dessen Bewusstlosigkeit er erkannt hatte. Er blieb bewegungslos in unmittelbarer Nähe des Geschädigten stehen. Zwei Sicherheitskräfte des Clubs, die aufgrund des Hilferufes aufmerksam geworden waren, eilten dem Geschädigten zu Hilfe und informierten die Rettungsleitstelle. Nach dem Eintreffen der Polizei kehrte der Angeklagte auf Aufforderung eines Polizeibeamten in den Club zurück. Dort teilte er seinen Bekannten mit, dass er den Geschädigten zusammengeschlagen habe, wobei er die Frage stellte: „Was hättest du gemacht, wenn einer mit deiner Schwester tanzt?“.
Der Geschädigte erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma zweiten Grades, kleinere Hirnblutungen, Platzwunden und Hämatome. Es bestand zumindest abstrakte Lebensgefahr.
2. Die Jugendkammer hat angenommen, dass der Angeklagte sich lediglich einer gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht hat; eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags oder versuchten Mordes scheide jedenfalls wegen strafbefreienden Rücktritts aus. Die Kammer könne nicht ausschließen, dass der Angeklagte im Zeitpunkt des Eintreffens der Sicherheitskräfte davon ausging, dass zur Vollendung eines Totschlags noch weitere Handlungen, also weitere Tritte oder Schläge, erforderlich seien und er in dieser Vorstellung vom Geschädigten abließ, zumal der Geschädigte noch atmete und - wie später von den Rettungskräften festgestellt wurde - kreislaufstabil war. Abgesehen von der tiefen Bewusstlosigkeit des Geschädigten lägen keine sicheren Feststellungen vor, insbesondere auch nicht zu dem Zeitabstand zwischen dem letzten Tritt und dem Ablassen vom Geschädigten sowie dem Eintreffen der Sicherheitsfachkräfte. Vor diesem Hintergrund könne nicht mit Sicherheit geklärt werden, welche Vorstellungen der Angeklagte zum maßgeblichen Zeitpunkt, also nach dem dritten und letzten Tritt, hatte. Daher könne nicht zweifelsfrei von einem beendeten Versuch ausgegangen werden. Das Ablassen des Angeklagten vom Geschädigten genüge deshalb für einen strafbefreienden Rücktritt vom (unbeendeten) versuchten Tötungsdelikt.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Das angefochtene Urteil weist einen durchgreifenden sachlich-rechtlichen Mangel auf, weil die Erwägungen, mit denen das Landgericht zur Annahme eines unbeendeten Versuchs gelangt ist und daran anknüpfend einen strafbefreienden Rücktritt vom Tötungsdelikt angenommen hat, an einem Erörterungsmangel leiden und deshalb revisionsrechtlicher Überprüfung nicht standhalten.
1. Die Ausführungen zum Tötungsvorsatz begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Die Jugendkammer führt einerseits bei der Mitteilung des festgestellten Sachverhalts aus, der Angeklagte habe nicht mit Tötungsvorsatz gehandelt, als er auf den am Boden liegenden Geschädigten mit Fäusten und Füßen auf dessen Kopf und Gesicht einschlug bzw. eintrat (UA S. 7). Er sei sich aber bewusst gewesen, dass stampfende Tritte von oben nach unten auf den Bereich des linken Ohres und Hinterkopfes des Geschädigten und die daraus resultierenden Verletzungen geeignet sind, den Tod herbeizuführen und nahm die potentielle Gefährlichkeit der Tritte billigend in Kauf.
In der rechtlichen Würdigung (UA S. 7, 8) weist das Landgericht andererseits darauf hin, dass es jedem nach allgemeiner Lebenserfahrung bewusst sein müsse, dass Tritte gegen den Kopf eines am Boden liegenden Menschen möglicherweise tödliche Verletzungen herbeiführen könnten. Insbesondere aber müsse dies dem Angeklagten bewusst gewesen sein.
Die Prüfung eines bedingten Tötungsvorsatzes des Angeklagten bricht die Jugendkammer dann jedoch ab, obwohl die vom Angeklagten ausgeführten Tritte gegen den Kopf des Geschädigten objektive Anhaltspunkte für einen Tötungsvorsatz bilden können; denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt es bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit, das Opfer könne durch diese zu Tode kommen, rechnet und, weil er gleichwohl sein gefährliches Handeln fortsetzt, auch einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt (vgl. Senat, Urteil vom 23. Juni 2009 - 1 StR 191/09, NStZ 2009, 629 mwN).
Die Jugendkammer aber stellt lediglich das Wissenselement eines Tötungsvorsatzes fest, unterlässt es dann jedoch, auch das voluntative Element näher zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Sie behauptet lediglich ohne substantielle Grundlage, der Angeklagte habe sich nur abreagieren wollen, und weicht dann auf die Prüfung eines eventuellen Rücktritts des Angeklagten aus.
Bedingt vorsätzliches Handeln aber setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, ferner, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung zumindest abfindet. Vor der Annahme bedingten Vorsatzes müssen beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Wissens- als auch das Wollenselement geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden (vgl. Senat, Urteil vom 23. Juni 2009 - 1 StR 191/09, NStZ 2009, 629 mwN). Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalles erfolgen, in welchem insbesondere die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung, die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen ist (BGH, Urteil vom 5. Juni 2014 - 4 StR 439/13).
Eine solche Gesamtbetrachtung hat das Landgericht nicht vorgenommen.
2. Auch die Prüfung eines strafbefreienden Rücktritts des Angeklagten vom versuchten Tötungsdelikt hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Zwar ist das Landgericht im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass es für die Abgrenzung eines unbeendeten vom beendeten Versuch darauf ankommt, ob der Täter nach der letzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges für möglich hielt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227 f. mwN) oder sich - nach besonders gefährlichen Gewalthandlungen, die zu schweren Verletzungen geführt haben - keine Vorstellungen über die Folgen seines Handelns machte (vgl. BGH, Urteil vom 2. November 1994 - 2 StR 449/94, BGHSt 40, 304, 316).
Die Annahme eines unbeendeten Versuchs setzt gerade bei besonders gefährlichen Gewalthandlungen eines mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnden Täters voraus, dass Umstände festgestellt werden, die im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller objektiven und subjektiven Elemente der Tat - wie sie auch schon bei der Prüfung des bedingten Vorsatzes relevant waren - die Wertung zulassen, er habe nach Beendigung seiner Tathandlung den tödlichen Erfolg nicht mehr für möglich gehalten (BGH, Urteile vom 8. Dezember 2010 - 2 StR 536/10, NStZ 2011, 209 und vom 28. Mai 2013 - 3 StR 78/13).
Die erforderliche Gesamtschau hat die Jugendkammer unterlassen und lediglich darauf verwiesen, dass die Vorstellungen des Angeklagten zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht sicher festgestellt werden könnten; daher könne nicht zweifelsfrei von einem beendeten Versuch ausgegangen werden. Anhaltspunkte dafür, aus welchen Umständen sie schließen konnte, der Angeklagte habe nach den drei Tritten gegen den Kopf nicht mehr mit einem tödlichen Ausgang gerechnet, lassen sich dem Urteil nicht entnehmen.
Soweit die Jugendkammer zu Gunsten des Angeklagten auf den Zweifelssatz zurückgreift (UA S. 34), kann dies zwar auch im Rahmen der Bewertung des Rücktrittshorizonts veranlasst sein. Aber der Zweifelssatz nötigt nicht dazu, innere Tatsachen zu Gunsten des Angeklagten zu unterstellen, für die es keine Anhaltspunkte gibt (BGH, Beschluss vom 14. August 2013 - 4 StR 308/13 mwN).
Erst müssen alle maßgeblichen objektiven Umstände zusammenfassend gewürdigt werden. Können danach immer noch keine eindeutigen Feststellungen getroffen werden, ist der Zweifelsgrundsatz anzuwenden (BGH, Beschluss vom 22. Mai 2013 - 4 StR 170/13, NStZ 2013, 703, 704 f.).
Diesen Anforderungen werden die Darlegungen in den Urteilsgründen nicht gerecht; denn es gab weitere konkrete Umstände unmittelbar nach der Tat, die Rückschlüsse auf das Vorstellungsbild des Angeklagten zugelassen hätten, im Urteil des Landgerichts aber keine Berücksichtigung gefunden haben:
Die Jugendkammer hat zwar im Rahmen der Prüfung des Vorstellungsbildes des Angeklagten (UA S. 34) angemerkt, dass der bewusstlose Geschädigte noch atmete und sein Kreislauf noch stabil war. Diese Feststellungen trafen jedoch, wie sich aus dem Urteil ergibt (UA S. 15), erst die Rettungskräfte. Diese sagten aus, die Stirn des Geschädigten sei eingedrückt und viel Blut wahrzunehmen gewesen, er habe multiple Risswunden im Kopf- und Gesichtsbereich gehabt, sei nicht ansprechbar und in tiefer Bewusstlosigkeit gelegen.
Feststellungen des Landgerichts dazu, wie der Angeklagte den Zustand des Geschädigten wahrgenommen hat, fehlen. Festgestellt ist nur, dass der Angeklagte dessen Bewusstlosigkeit erkannt hatte und in unmittelbarer Nähe des Geschädigten bewegungslos stehen geblieben ist (UA S. 7), und zwar sei er, wie ein Zeuge angab, mit „geballter Faust“ da gestanden und habe angespannt gewirkt (UA S. 22). Diese Umstände würdigt die Kammer nicht.
Die Frage, aufgrund welcher Umstände der Angeklagte dagegen darauf vertrauen durfte und konnte, dass der Geschädigte den Angriff überleben wird und weitere Handlungen für einen Todeseintritt erforderlich wären, hat die Kammer unbeantwortet gelassen.
Durch die Aufhebung des freisprechenden Urteils wird die gegen die Kostenentscheidung gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegenstandslos (BGH, Urteile vom 25. April 2013 - 4 StR 551/12 und vom 25. März 2010 - 1 StR 601/09, Rn. 20).
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 50
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede