HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 1087
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 387/14, Beschluss v. 17.09.2014, HRRS 2014 Nr. 1087
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 18. Februar 2014 im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte in den Fällen D 11 und D 12 der Urteilsgründe der Vergewaltigung und der Entziehung Minderjähriger in Tateinheit mit Nötigung schuldig ist.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in vier Fällen, wegen schweren sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen, wegen gefährlicher Körperverletzung in fünf Fällen, wegen Körperverletzung, wegen Entziehung Minderjähriger und wegen Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Sein Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO; dies gilt auch, soweit der Angeklagte im Falle D 12 der Urteilsgründe neben der tatmehrheitlich begangenen Entziehung Minderjähriger auch wegen Vergewaltigung seiner Ehefrau verurteilt wurde.
Die im Falle D 11 der Urteilsgründe begangene Nötigung und die im Falle D 12 der Urteilsgründe (tatmehrheitlich zur Vergewaltigung) begangene Entziehung Minderjähriger stehen hier im Verhältnis der Tateinheit und nicht der Tatmehrheit, wie das Landgericht angenommen hat.
1. Das Landgericht hat insoweit folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte und seine Ehefrau haben zwei gemeinsame Kinder: die am 15. Dezember 2004 geborene M. und den am 14. April 2006 geborenen Y. Nach jahrelangen Ehestreitigkeiten ließ der Angeklagte, der eine neue Lebensgefährtin hat, im Januar 2012 beim Familiengericht in Istanbul eine Scheidungsschrift einreichen und beantragte die Übertragung der elterlichen Sorge für die beiden gemeinsamen Kinder auf seine Ehefrau.
Er fasste dann den Entschluss, sich seiner Ehefrau "gänzlich zu entledigen" (UA S. 35), indem er sie auf Dauer in die Türkei zu deren Familie zurückschickte, während er die beiden Kinder bei sich in Deutschland behalten wollte.
Anfang 2012 eröffnete er seiner Ehefrau, dass er sie in die Türkei abschieben werde, die beiden Kinder aber bei sich behalten wolle. Als seine Frau erklärte, sie werde das nicht tun, drohte der Angeklagte ihr mit dem Tode, wenn sie nicht in die Türkei ginge. Die Geschädigte nahm die Drohung ernst und ließ sich vom Angeklagten gegen ihren Willen dazu zwingen, ein Flugzeug in die Türkei zu besteigen und ihre Kinder in Deutschland zu lassen. Erst im Dezember 2012 kehrte sie mit Hilfe Dritter nach Deutschland zurück.
2. Die Verurteilung wegen Entziehung Minderjähriger (§ 235 StGB) ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Der Angeklagte hat eine Person (hier sogar zwei) unter achtzehn Jahren durch Drohung mit einem empfindlichen Übel einem Elternteil entzogen (§ 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB).
Den Eltern "entzogen" ist der Minderjährige schon dann, wenn das Recht zur Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbestimmung durch räumliche Trennung für eine gewisse, nicht nur ganz vorübergehende Dauer so beeinträchtigt wird, dass es nicht ausgeübt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 7. März 1996 - 4 StR 35/96, NStZ 1996, 333, 334 mwN).
Eine Entziehung im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht nur vor, wenn der Minderjährige unter den Voraussetzungen des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB vom Elternteil entfernt wird, sondern auch, wenn der Elternteil unter diesen Voraussetzungen vom Minderjährigen entfernt und ferngehalten wird (vgl. hierzu auch Eser/Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 235 Rn. 6; MüKo-StGB/Wieck-Noodt, 2. Aufl., § 235 Rn. 38; SK-StGB/Wolters, 8. Aufl., § 235 Rn. 4; LK-StGB/Gribbohm, 11. Aufl., § 235 Rn. 49 ff.). Denn das von § 235 StGB vorrangig geschützte Rechtsgut des Sorgerechts der für den jungen Menschen verantwortlichen Personen und das daraus abgeleitete Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 - 4 StR 594/98, BGHSt 44, 355, 357) sind auch verletzt, wenn ein Elternteil selbst räumlich entfernt wird und seine Rechte deshalb nicht wahrnehmen kann.
Dass der Angeklagte selbst ebenfalls sorgeberechtigt war (das Ergebnis seiner Anträge vor dem Familiengericht in Istanbul ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen; ohnehin hätte die Ehefrau dann das alleinige Sorgerecht für beide Kinder), steht der Anwendung des § 235 StGB nicht entgegen. Grundsätzlich kann eine Kindesentziehung auch von einem Elternteil gegenüber dem anderen begangen werden, sofern jedem Elternteil das Personensorgerecht zumindest teilweise zusteht (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 - 4 StR 594/98, BGHSt 44, 355, 358). Die räumliche Trennung war im vorliegenden Fall auch nicht von nur ganz vorübergehender Dauer.
Die Staatsanwaltschaft hat das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht (§ 235 Abs. 7 StGB; UA S. 39).
3. Auch die Verurteilung wegen Nötigung (§ 240 StGB) weist keinen Rechtsfehler auf. Der Angeklagte hat durch Todesdrohung erzwungen, dass seine Ehefrau in die Türkei flog und längere Zeit nicht zurückkehrte.
4. Die Annahme von Tatmehrheit durch den Tatrichter zwischen Entziehung Minderjähriger und Nötigung begegnet jedoch rechtlichen Bedenken. Die Nötigung gemäß § 240 StGB ist die Drohung mit einem empfindlichen Übel im Rahmen des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Es liegt Handlungseinheit im Sinne von § 52 Abs. 1 StGB vor, da eine Teilidentität der Ausführungshandlungen gegeben ist; denn sie werden durch eine einzige (fortwirkende) Nötigungshandlung begangen. Auch wenn die Todesdrohung einige Tage vor dem Abflug ausgesprochen worden war, wirkte sie dahingehend fort, dass die Geschädigte das Flugzeug bestieg und längere Zeit in der Türkei verblieb.
5. Im vorliegenden Fall tritt die Nötigung auch nicht hinter der Entziehung Minderjähriger zurück, sondern steht in Tateinheit. Erschöpft sich der Nötigungserfolg in der Kindesentziehung, so tritt allerdings nach verbreiteter Meinung § 240 StGB hinter § 235 StGB zurück (vgl. u.a. LK-StGB/Gribbohm, § 235 Rn. 135; MüKo-StGB/Wieck-Noodt, § 235 Rn. 105; SSW-StGB/Schluckebier, 2. Aufl., § 235 Rn. 18; SK-StGB/Wolters, § 235 Rn. 21; grds. für Gesetzeskonkurrenz Lackner/Kühl, StGB, 8. Aufl., § 235 Rn. 10).
Hier geht der Nötigungserfolg aber über die Kindesentziehung hinaus, da der Angeklagte insbesondere auch das Ziel verfolgte, sich seiner Ehefrau durch deren zwangsweise Entfernung "gänzlich zu entledigen". Er wollte also insoweit nicht nur eine räumliche Trennung von gewisser Dauer, die bei § 235 StGB unter Umständen einige Stunden betragen kann (vgl. u.a. BGHSt 10, 376 ff.). Jedenfalls wenn der angestrebte Nötigungserfolg über die Tatbestandserfüllung der Kindesentziehung hinausreicht, ist von Tateinheit auszugehen (vgl. MüKo-StGB/Wieck-Noodt, aaO; SSW-StGB/Schluckebier, aaO; SK-StGB/Wolters, aaO; LK-StGB/Gribbohm, aaO; für grundsätzliche Tateinheit Fischer, StGB, 61. Aufl., § 235 Rn. 22; Eser/Eisele, aaO, § 235 Rn. 26).
6. Die unzutreffende Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses der vom Angeklagten in den Fällen D 11 und D 12 der Urteilsgründe begangenen Taten hat die Änderung des Schuldspruchs durch den Senat zur Folge. § 265 StPO steht nicht entgegen. Der Senat schließt aus, dass der Angeklagte sich nach einem entsprechenden Hinweis anders, insbesondere erfolgreicher als geschehen, hätte verteidigen können. Infolge der Änderung des Schuldspruchs entfällt die vom Landgericht wegen Nötigung verhängte Einzelstrafe von sechs Monaten Freiheitsstrafe, es verbleibt insoweit die Einzelstrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe wegen Entziehung Minderjähriger.
Die Gesamtstrafe bleibt von der Änderung des Schuldspruchs und dem Entfallen der Einzelstrafe von sechs Monaten unberührt.
Angesichts der Einsatzstrafe von vier Jahren und sechs Monaten und der verbleibenden weiteren Einzelfreiheitsstrafen von drei Jahren neun Monaten, drei Jahren drei Monaten, zwei Jahren neun Monaten, zwei Jahren sechs Monaten, dreimal einem Jahr, neun Monaten, acht Monaten und sechs Monaten kann sicher ausgeschlossen werden, dass das Landgericht auf eine geringere Gesamtstrafe erkannt hätte. Am Unrechtsgehalt des Geschehens hat sich durch die geänderte Würdigung des Konkurrenzverhältnisses nichts geändert.
Der nur geringfügige Erfolg der Revision macht es nicht unbillig, den Angeklagten mit den gesamten Kosten seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 1 und 4 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 1087
Externe Fundstellen: BGHSt 59, 307; NJW 2014, 3589; NStZ 2015, 85; StV 2015, 175
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel