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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 341

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 553/12, Beschluss v. 05.02.2013, HRRS 2013 Nr. 341


BGH 1 StR 553/12 - Beschluss vom 5. Februar 2013 (LG Freiburg)

Ablehnung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit (Beziehung der Beweistatsache zum Verfahrensgegenstand; Anforderung an die Begründung).

§ 244 Abs. 3, Abs. 6 StPO

Leitsätze des Bearbeiters:

1. Allgemeinabstrakte Grundsätze darüber, in welcher Beziehung die Beweistatsache zu dem Verfahrensgegenstand stehen muss, wenn sie für seine Beurteilung Bedeutung haben soll, lassen sich kaum aufstellen. Auch Vorfälle, die dem angeklagten Vorwurf zeitlich nachfolgen, und an denen der Angeklagte nicht beteiligt war, können im Einzelfall auf die Beurteilung des konkreten Falles wichtige Schlüsse zulassen und dadurch Bedeutung erhalten.

2. In einem Beschluss, durch den ein Beweisantrag als aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos abgelehnt wird (§ 244 Abs. 6 StPO), sind die hierfür maßgeblichen Erwägungen aber zumindest in ihrem Kern konkret darzulegen, um dem Antragsteller zu ermöglichen, sein weiteres Prozessverhalten entsprechend einzurichten (st. Rspr.).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 11. Juni 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

Der Angeklagte wurde wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung unter Einbeziehung früher verhängter Strafen zu einer nachträglichen Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.

Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge, mit der sie die nicht rechtsfehlerfreie Ablehnung eines Beweisantrages geltend macht, Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

1. Folgendes ist festgestellt:

Der Angeklagte arbeitete im Nachtclub seiner geschiedenen Frau in W. In einer nicht mehr genau feststellbaren Nacht im April oder Mai 2009 hielten sich dort die Tochter des Angeklagten und deren damals 17 Jahre alte Freundin O. auf; es war vorgesehen, dass diese in B. in der Wohnung der geschiedenen Frau des Angeklagten schlafen sollte. Die beiden jungen Frauen gingen nach ihrem Aufenthalt im Nachtclub zunächst mit zwei jungen Männern in die Wohnung eines dieser jungen Männer im nahegelegenen Frankreich und tranken dort Kaffee. Danach rief die Tochter den Angeklagten an, er solle O. und sie mit dem Pkw abholen. Nach einem Zwischenaufenthalt im Nachtclub brachte er die beiden zum Haus seiner geschiedenen Frau und ordnete dort an, seine Tochter solle aussteigen, mit der Freundin habe er noch zu reden. Anschließend verriegelte er die Beifahrertür und erklärte der Freundin, er wolle mit ihr "ficken". Obwohl diese deutlich machte, dass sie dies alles nicht wolle, brachte er sie wieder in den Nachtclub. Dabei vermittelte er ihr den Eindruck, sie könne nicht weglaufen. Er verschloss die Tür des Nachtclubs, in dem niemand mehr war und führte sie in ein Zimmer mit einem Bett. Aus Furcht entkleidete sie sich und legte sich aufs Bett, er legte sich über sie. Als sie sich herauswinden wollte, hielt er sie fest, sie ließ dann den Geschlechtsverkehr über sich ergehen. Danach brachte er sie wieder in die Wohnung seiner geschiedenen Frau.

2. Die Feststellungen beruhen im Wesentlichen auf den Angaben von O., die die Strafkammer nach sachverständiger Beratung als glaubwürdig angesehen hat.

Der Angeklagte hat die Tat bestritten, die Beschuldigung sei eine Erfindung von O. Eine Autofahrt von Frankreich bzw. der französischen Grenze nach B. habe es nie gegeben. Er habe lediglich einmal die beiden auf ihren Wunsch vom Nachtclub zur Grenze gefahren. Vielleicht ginge die Anzeige darauf zurück, dass er seiner Tochter den Kontakt mit O. verboten habe, weil er erfahren habe, dass deren Bruder Rauschgift konsumiere.

3. Nicht unerhebliche Teile der Beweisaufnahme bezogen sich auf Hilfstatsachen, die die Glaubwürdigkeit von O. hätten möglicherweise in Frage stellen können.

Ohne dass hier die Urteilsgründe in allen Einzelheiten nachzuzeichnen wären, ging es dabei etwa um Folgendes:

O. hat die Tat erst mit zeitlicher Verzögerung bei der Polizei angezeigt. Ihre Freundin M. hat sie zur Polizei begleitet. Diese hat (u.a.) darüber ausgesagt, was ihr O. von der Tat erzählt habe. Im Unterschied zu ihren der Verurteilung zu Grunde gelegten Angaben habe sie, so die Zeugin M., erzählt, sie sei vom Angeklagten in dessen Pkw vor der Einfahrt ihres ( O. s) Wohnhauses vergewaltigt worden.

Diese Schilderung, so legt die Strafkammer näher dar, sei unzutreffend, O. habe M. nicht alles, "sondern nur den Beginn" und die Tatsache der Vergewaltigung erzählt. Sie habe auch gesagt, dass der Angeklagte sie "heimgefahren" habe. Damit habe sie gemeint, er habe sie zur Wohnung ihrer Freundin in B. gebracht. M. habe sich daraus jedoch "zusammengereimt", dass die Tat im Pkw vor dem Wohnhaus von O. stattgefunden habe.

Gegenüber ihrem Bruder, der faktisch den Vater ersetzt habe, hat O. nach dessen Aussage angegeben, der Angeklagte habe sie bei sich (dem Angeklagten) zu Hause vergewaltigt.

Dies, so die Strafkammer, erkläre sich aus dem "soziokulturellen, eher konservativen Hintergrund" der Familie O. Daher habe sie dem Bruder nicht gesagt, dass die Tat in einem Nachtclub stattgefunden habe, sondern "bei ihm", was der Bruder als "bei dem Angeklagten zu Hause" verstanden habe.

II.

Vor dem Hintergrund der nach alledem ersichtlich nicht einfachen Beweislage erweist sich folgender Beweisantrag als nicht rechtsfehlerfrei behandelt:

In das Wissen einer Zeugin, einer langjährigen Freundin von O. war gestellt, dass diese im Sommer 2009, also mehrere Wochen nach der (terminlich nicht genau feststehenden) Tat auf einem Spielplatz in W. ihr gegenüber behauptet habe, ihr Bruder habe sie vergewaltigt. Neige die Zeugin, so ist zur Begründung des Antrags näher ausgeführt, dazu, andere sexueller Übergriffe zu bezichtigen, könne dies die Beurteilung ihrer Aussage beeinflussen, wobei auch eine "weitere psychologisch/psychiatrische Glaubwürdigkeitsbegutachtung" genannt ist.

Die Strafkammer hat den Antrag wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt und zur Begründung ausgeführt:

"Mit der Aussage der Zeugin soll eine Hilfstatsache bewiesen werden. Es ist aber nicht ersichtlich, welche Schlüsse aus dieser Hilfstatsache für die Bewertung der Aussage der Zeugin O. gezogen werden könnten, zumal die Kammer eine weitere Glaubwürdigkeitsbegutachtung nicht beabsichtigt, weil deren Voraussetzungen nicht vorliegen".

Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Ohne dass dies näherer Ausführung bedürfte, ist die Strafkammer zutreffend davon ausgegangen, dass der Beweisantrag auf eine Hilfstatsache gerichtet war.

Zutreffend ist auch der Ansatz, dass eine Hilfstatsache in tatsächlicher Hinsicht - um anderes geht es hier nicht - (auch) dann bedeutungslos ist, wenn nicht erkennbar ist, warum die Beweisbehauptung (Zeugin O. behauptet, von ihrem Bruder vergewaltigt worden zu sein) den behaupteten Schluss auf den Beweiswert einer anderen Aussage dieser Zeugin (der Angeklagte habe sie vergewaltigt) zulässt, wenn also letztlich ein Zusammenhang zwischen der Beweisbehauptung einerseits und dem Anklagevorwurf andererseits fehlt (vgl. zusammenfassend Becker in LR-StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 220 Fn. 1134 mwN).

2. Allgemeinabstrakte Grundsätze darüber, in welcher Beziehung die Beweistatsache zu dem Verfahrensgegenstand stehen muss, wenn sie für seine Beurteilung Bedeutung haben soll, lassen sich kaum aufstellen. Auch Vorfälle, die dem angeklagten Vorwurf zeitlich nachfolgen, und an denen der Angeklagte nicht beteiligt war, können im Einzelfall auf die Beurteilung des konkreten Falles wichtige Schlüsse zulassen und dadurch Bedeutung erhalten.

Im Kern kommt es darauf an, ob im konkreten Fall nach allgemeiner - oder jedenfalls richterlicher - Erfahrung der aufgezeigte Zusammenhang erkennbar ohne weiteres sicher zu verneinen ist (vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess, 5. Aufl., S. 587 f).

3. Gründe, aus denen sich eine solche Bedeutungslosigkeit ergibt, teilt die Strafkammer nicht mit. In einem Beschluss, durch den ein Beweisantrag als aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos abgelehnt wird (§ 244 Abs. 6 StPO), sind die hierfür maßgeblichen Erwägungen aber zumindest in ihrem Kern konkret darzulegen, um dem Antragsteller zu ermöglichen, sein weiteres Prozessverhalten entsprechend einzurichten (st. Rspr., vgl. zusammenfassend Fischer in KK-StPO, 6. Aufl., § 244 Rn. 145 mwN). Dementsprechend hat der Senat, dem im Übrigen eine eigene Beweiswürdigung verwehrt ist, nicht darüber zu befinden, ob und gegebenenfalls wie hier die Annahme einer solchen Bedeutungslosigkeit zu begründen wäre.

4. Der Senat hat erwogen, ob hier - ausnahmsweise - eine nähere Begründung für die Zurückweisung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit entbehrlich sein könnte. Dies ist dann der Fall, wenn die hierfür maßgeblichen Gründe evident auf der Hand liegen (st. Rspr., vgl. zusammenfassend Fischer aaO Rn. 147 mwN).

Dies ist hier nicht der Fall:

O. hat sowohl gegenüber M. als auch gegenüber ihrem Bruder Angaben gemacht, die nach der Bewertung der Strafkammer bei beiden Zeugen Fehlvorstellungen ausgelöst haben. Es ist unter diesen Umständen nicht völlig selbstverständlich, dass von vorneherein keinerlei Schlussfolgerungen daraus gezogen werden könnten, wenn sie in zeitlicher Nähe zu der Anzeige der verfahrensgegenständlichen Vergewaltigung behauptet hat, auch noch von einer anderen Personen vergewaltigt worden zu sein.

5. Es mag dahinstehen, ob der nicht näher erläuterte Hinweis der Strafkammer, eine erneute Begutachtung sei nicht beabsichtigt, daneben auch zum Ausdruck bringen soll, dass jedenfalls nach den konkreten Umständen des Falles selbst bei Gelingen des Beweises ein Schluss auf die Glaubhaftigkeit der Aussage von O. nicht gezogen würde, selbst wenn ein solcher Schluss (doch) möglich sein sollte. Auch dann fehlte aber in gleicher Weise die notwendige konkrete Begründung.

6. Auch sonst ist dieser Hinweis nicht ganz klar.

Es versteht sich von selbst, dass alle vor dem Urteil angefallenen Erkenntnisse zu berücksichtigen und zu bewerten sind. Ist der Richter nach seiner Auffassung hierzu selbst nicht in der Lage, sondern bedarf er hierzu sachverständiger Beratung, muss er sie - erforderlichenfalls ergänzend - einholen. Jedenfalls könnte auf eine Beweiserhebung zu einer Frage, die möglicherweise für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der zentralen Aussage eines Zeugen bedeutsam sein kann, nicht deshalb verzichtet werden, weil dessen Begutachtung bereits erfolgt ist.

III.

Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung, ohne dass es auf das weitere Revisionsvorbringen noch ankäme.

Der Senat bemerkt jedoch, dass gegebenenfalls die nicht völlig klare nachträgliche Gesamtstrafenbildung zu verdeutlichen wäre. Einbezogen ist hier jeweils die Strafe aus Verurteilungen vom 5. Mai 2010 und 14. März 2011. Die Tatzeiten sind nicht mitgeteilt. Durch ein Urteil vom 8. Juni 2011 wurde aus der dort verhängten Strafe und den genannten Strafen eine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet. Diese hat die Strafkammer ohne weitere Ausführungen aufgelöst. Die Strafe für die am 8. Juni 2011 abgeurteilte Tat - es ist weder ihre Höhe noch die Tatzeit mitgeteilt - ist hier nicht einbezogen.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 341

Externe Fundstellen: NJW 2013, 2044; NStZ 2013, 352

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel