HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 460
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 359/11, Beschluss v. 22.03.2012, HRRS 2012 Nr. 460
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 10. Februar 2011 mit den Feststellungen aufgehoben; ausgenommen hiervon sind die Feststellungen zum Geschehen vom 11. März 2009 in der A. schule in Winnenden und den nachfolgenden Ereignissen dieses Tages.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
1. Die Strafkammer hat festgestellt:
Der damals 17 Jahre alte Sohn des Angeklagten, T. K., hatte am 11. März 2009 insgesamt 15 Personen erschossen und 14 Personen durch Schüsse verletzt. Die meisten Opfer waren Schülerinnen, Schüler und Lehrerinnen seiner ehemaligen Schule, der A. schule in Winnenden; T. K. hatte auf sie in Klassenzimmern und darüber hinaus im ganzen Schulgebäude geschossen ("Amoklauf von Winnenden"). Anschließend flüchtete er zunächst auf das Gelände der psychiatrischen Klinik in Winnenden, wo er einen zufällig anwesenden Monteur erschoss. Danach zwang er einen ihm bis dahin unbekannten Kraftfahrer, ihn nach W. zu fahren, wo er sich schließlich auf dem Gelände eines Autohauses eine Schießerei mit der Polizei lieferte, durch die ein Angestellter und ein Kunde des Autohauses zu Tode kamen und mehrere Polizeibeamte verletzt wurden. Am Ende erschoss sich T. K. selbst.
Die Tatwaffe und die Munition stammten aus dem Besitz des Angeklagten, eines passionierten Sportschützen. T. K. hatte unter im Detail nicht feststellbaren Umständen jedenfalls im Zeitraum zwischen Herbst 2008 und dem 11. März 2009 vom Angeklagten unbemerkt insgesamt 285 Schuss von verschiedenen Herstellern stammender Munition an sich gebracht. Diese hatte der Angeklagte an unterschiedlichen Orten innerhalb der Wohnung unverschlossen verwahrt. Ebenso unbemerkt vom Angeklagten hatte T. K. zu einem nicht mehr genauer feststellbaren Zeitpunkt, spätestens am Morgen des 11. März 2009, die dem Angeklagten gehörende Pistole Beretta entwendet, die der Angeklagte nicht ständig verschlossen, sondern (aus Angst vor Einbrechern) häufig unverschlossen in einem Schlafzimmerschrank verwahrt hatte.
T. K. war psychisch auffällig. Seit 2004 hatte er sich immer mehr zu einem Einzelgänger entwickelt. Er beschäftigte sich oft mit Computerspielen, insbesondere mit solchen, in denen er auf virtuelle Personen schoss. Anfang 2008 äußerte er gegenüber seiner Mutter nach entsprechenden Internetrecherchen selbst den Verdacht, dass seine Stimmungsschwankungen und schlechten Schulnoten auf "bipolare Störungen beziehungsweise manisch-depressive Erkrankungen" zurückzuführen seien. Daraufhin veranlassten seine Eltern über den Hausarzt eine ambulante psychotherapeutische Behandlung in der psychiatrischen Klinik in Wei. (Klinikum We.). Schon zu Beginn der Behandlung äußerte er dabei gegenüber der Therapeutin (Fremd-)Tötungsphantasien, worüber diese die Eltern unterrichtete. Im August 2008 wurde T. K. nach fünf ambulanten Gesprächsterminen aus der Behandlung des Klinikums entlassen. Die Klinik bewertete seinen Zustand zwar als deutlich verbessert, empfahl jedoch, dass er auch künftig ambulant psychologisch betreut werden sollte. Da T. K. keine weitere therapeutische Betreuung mehr wollte, unternahmen die Eltern in dieser Richtung nichts, sondern setzten sich über die Empfehlung hinweg. Dabei blieb es selbst dann noch, als sich der psychische Zustand T. K. s wieder deutlich verschlechterte. Dies war für die Familie auch sichtbar, wie sich insbesondere aus dem Inhalt des Chat-Verkehrs der jüngeren Schwester T. K. s mit ihrem Freund ergibt. Statt jedoch für therapeutische Betreuung seines Sohnes zu sorgen, ermöglichte ihm der Angeklagte Schießübungen in seinem Schützenverein.
2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen wurde der Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung in 15 tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in 14 tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit fahrlässigem Überlassen einer erlaubnispflichtigen Schusswaffe und erlaubnispflichtiger Munition an Nichtberechtigte, jeweils begangen durch Unterlassen, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
3. Die Revision des Angeklagten ist auf die näher ausgeführte Sachrüge und auf Verfahrensrügen gestützt. Sie hat mit einer Verfahrensrüge weitgehend Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), mit der geltend gemacht ist, dass die Möglichkeit der Verteidigung, eine für die Beweiswürdigung der Strafkammer wesentliche Zeugin zu befragen, durch die Zubilligung eines Auskunftsverweigerungsrechts rechtsfehlerhaft eingeschränkt worden sei.
a) Folgendes liegt zugrunde:
Der Angeklagte hat sich darauf berufen, dass ihm die Intensität der Erkrankung seines Sohnes, insbesondere dessen Tötungsphantasien, unbekannt gewesen seien. Die Strafkammer hält diese Angabe aufgrund der Aussage der Zeugin L. für widerlegt. Diese ist als Mitglied des bei der Johanniter Unfallhilfe angegliederten Kriseninterventionsteams Stuttgart ehrenamtlich tätig. Sie war noch am Tag des Amoklaufs von der Polizei gebeten worden, der Familie K. als Krisenbetreuerin zur Seite zu stehen, nachdem sämtliche Polizeikräfte, die derartige Aufgaben wahrnehmen konnten, für die Betreuung der überlebenden Tatopfer und von Angehörigen der Tatopfer eingesetzt waren. Frau L. kam der Bitte der Polizei nach. Zwischen ihr und der Familie K. entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis, das dazu führte, dass sie (auf Honorarbasis) ihre Tätigkeit für die Familie K. auch noch fortsetzte, als sie nicht mehr auf die Bitte der Polizei hin tätig war.
Die Vernehmung der Zeugin L. in der Hauptverhandlung gestaltete sich wie folgt: Im Hauptverhandlungstermin vom 11. November 2010 gab sie an, der Angeklagte habe ihr bereits am dritten Tag nach dem Amoklauf berichtet, dass er im Jahre 2008 im Klinikum We. über Tötungsphantasien seines Sohnes unterrichtet worden sei. Nachdem das Gericht, der Vertreter der Staatsanwaltschaft und einige Nebenklägervertreter die Zeugin befragt hatten, wurde die Vernehmung am Nachmittag des 11. November 2010 bis zum 23. November 2010 unterbrochen. Den Verteidigern war das Fragerecht bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht weitergegeben worden.
Zu Beginn der Fortsetzung ihrer Vernehmung im Hauptverhandlungstermin vom 23. November 2010 verlas die Zeugin eine von ihr mitgebrachte, vorgefertigte schriftliche Erklärung. Danach habe sie nicht durch den Angeklagten, sondern erst durch ein Sachverständigengutachten im August 2009 von den Tötungsphantasien T. K. s erfahren.
Nach kurzer Unterbrechung der Hauptverhandlung gab der Vertreter der Staatsanwaltschaft bekannt, dass er soeben ein Ermittlungsverfahren gegen die Zeugin, unter anderem wegen des Verdachts der versuchten Strafvereitelung, eingeleitet habe. Daraufhin gewährte der Vorsitzende der Zeugin - unter entsprechender Belehrung - ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht.
Die Vernehmung wurde erneut bis zum 16. Dezember 2010 unterbrochen.
Zu Beginn dieses Fortsetzungstermins widerrief die Zeugin nach erneuter Belehrung ihre Angaben vom 23. November 2010 und bestätigte die Richtigkeit ihrer ursprünglichen Aussage vom 11. November 2010. Weitere Angaben machte sie nicht und berief sich auf das Auskunftsverweigerungsrecht.
Neben weiterem, hier nicht entscheidungserheblichem Prozessgeschehen widersprachen die Verteidiger im Termin vom 16. Dezember 2010 der Verwertung der Angaben der Zeugin L. wegen des Fehlens jeder Möglichkeit zur Fragestellung an die Zeugin L.
Den Widerspruch der Verteidiger wies das Gericht mit Beschluss vom 21. Dezember 2010 zurück. Zur Begründung führte das Gericht aus, die Belehrung über das Auskunftsverweigerungsrecht sei erfolgt, weil der Vertreter der Staatsanwaltschaft zureichende Anhaltspunkte für eine Straftat (hier: der versuchten Strafvereitelung) gesehen und ein Ermittlungsverfahren gegen die Zeugin eingeleitet habe; das Gericht sei zur korrekten Belehrung verpflichtet gewesen. Zu dieser Belehrungspflicht hatte die Kammer bereits am 16. Dezember 2010 in anderem Zusammenhang ausgeführt, die Zeugin sei verdächtig, die Erklärung nach dem Beginn ihrer Vernehmung am 11. November 2010 als Teil einer Strafvereitelungshandlung angefertigt zu haben.
Weil die Zeugin L. zu diesem Zeitpunkt bereits benannt gewesen sei, könnte durch die Anfertigung der Erklärung die Grenze zum strafbaren Versuch bereits überschritten sein. Die Verteidigung hatte zu keiner Zeit Gelegenheit, die Zeugin L. zu befragen.
b) Dies beanstandet die Revision zu Recht.
Straftaten, die erst durch die Aussage selbst begangen wurden, können ein Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen gemäß § 55 StPO nicht begründen (h.M., vgl. BGHSt 50, 318 ff.; BGH bei Dallinger, MDR 1958, 14; Ignor/Bertheau in LR-StPO, 26. Aufl., § 55 Rn. 12). Dies hat die Strafkammer an sich auch nicht verkannt. Ihre Auffassung, hier gelte anderes, weil die Zeugin durch die Anfertigung der schriftlichen Erklärung den Versuch einer Strafvereitelung zugunsten des Angeklagten begangen habe, hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Herstellung eines schriftlichen Textes, den der Zeuge als seine Aussage bei seiner Vernehmung verlesen will und abliest, enthält keinen über die falsche Aussage hinausgehenden Unrechtsgehalt.
Bei der Anfertigung der Erklärung handelt es sich also um eine straflose Vorbereitungshandlung (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 1982 - 2 StR 314/81, BGHSt 31, 10 ff.; BGH, Urteil vom 18. März 1982 - 4 StR 565/81, JZ 1982, 434 f.).
Die Entscheidungen, auf die sich die Strafkammer zum Beleg ihrer gegenteiligen Auffassung beruft, ergeben nichts anderes. In einem Fall (BayObLG, Beschluss vom 1. April 1999 - 5 St RR 49/99) hatte nicht der Zeuge selbst seine Falschaussage vorbereitet, sondern ein außenstehender Dritter versucht, einen Zeugen zu einer Falschaussage zu veranlassen. In einer weiteren von der Strafkammer herangezogenen Entscheidung (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. November 1992 - 2 Ss 195/92, MDR 1993, 368) hatte ein Bekannter des Angeklagten schriftliche Falscherklärungen angefertigt und diese über die gutgläubige Verteidigerin zu den Akten gegeben, um seine Benennung als Zeuge zu erreichen. Hier liegt der Unterschied zur vorherigen Fallgestaltung darin, dass der Zeuge durch seine inhaltlich falsche schriftliche Erklärung seine Vernehmung erst herbeigeführt hat, während die Zeugin L. ihre ohnehin vorgesehene Vernehmung vorbereitet hat.
Die schriftliche Erklärung der Zeugin war für ihre Vernehmung nicht kausal. Eine versuchte Strafvereitelung könnte daher allenfalls in der Aussage der Zeugin selbst liegen, die, wie dargelegt, ein Auskunftsverweigerungsrecht nicht begründen kann. Auf die Frage, ob die Zeugin durch ihre Aussage vom 16. Dezember 2010 von einem etwaigen Versuch der Strafvereitelung zurückgetreten sein könnte, kommt es daher nicht mehr an.
c) Ob die Rüge der Verletzung des Fragerechts rechtlich an § 338 Nr. 8 StPO oder - wie die Revision meint - an Art. 6 MRK i.V.m. Art. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG zu messen ist, bedarf keiner Entscheidung, da jedenfalls die Voraussetzungen beider Rügen im Hinblick auf § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vollständig vorgetragen worden sind.
d) Der Frage, ob das der Zeugin zu Unrecht zugebilligte Auskunftsverweigerungsrecht rechtlich anders zu gewichten wäre, wenn die Strafkammer, die dies geprüft hat, ihr zu Unrecht ein generelles Zeugnisverweigerungsrecht verweigert hätte, brauchte der Senat nicht nachzugehen. Die Feststellungen der Kammer haben keine zureichenden Anhaltspunkte für eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung oder eine Zugehörigkeit der Zeugin zu den durch § 53 Abs. 1 Satz 1, § 53a StPO privilegierten Berufsgruppen ergeben.
Wie sich aus der Aufzählung der aussageverweigerungsberechtigten Personen in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3-3b StPO ergibt, steht nach gesetzlicher Wertung nicht jedem Berater, der berufsmäßig oder ehrenamtlich in schwierigen Situationen Hilfe leistet, ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Diese Wertentscheidung des Gesetzgebers kann nicht im Wege extensiver Auslegung des Gesetzes abgeändert werden (s.a. Huber in Graf (Hrsg.), BeckOK, Edit. 13, § 53a Rn. 7).
e) Der aufgezeigte Mangel führt zur weitgehenden Aufhebung des Urteils. Ein Zusammenhang zwischen der für die Verteidigung fehlenden Möglichkeit, die Zeugin L. zu befragen, und den Feststellungen zum Geschehen vom 11. März 2009 in der A. schule in Winnenden und den nachfolgenden Ereignissen dieses Tages (Tenor) ist jedoch denknotwendig ausgeschlossen. Auch die sonstigen Verfahrensrügen haben keinen Bezug zu diesen Feststellungen. Da sie auch sonst fehlerfrei getroffen sind, können diese bestehen bleiben (§ 349 Abs. 2 StPO).
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Zur Beanstandung der Revision, die Strafkammer habe die "Epikrise" des Klinikums "We." zu Unrecht nicht verwertet:
a) Die "Epikrise" ist ein erst nach dem Tatgeschehen verfasster Abschlussbericht des Klinikums "We. " über die Behandlung von T. K. Er gelangte zu den Verfahrensakten, nachdem die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren das Klinikum um dessen Übersendung gebeten hatte. Dabei hatte die Staatsanwaltschaft mitgeteilt, die Eltern von T. K. hätten vor der Einleitung des Ermittlungsverfahrens eine "Schweigepflichtentbindung" erteilt, die bislang nicht zurückgenommen worden sei. Eine solche Entbindungserklärung ist nicht aktenkundig. In der Hauptverhandlung stellte die Verteidigung - nicht leicht verständlich - sowohl Anträge, die auf der Behauptung beruhten, eine entsprechende Entbindung sei erteilt worden, also auch auf der Behauptung, eine Entbindung sei nicht erteilt worden.
b) Die Strafkammer ist im Ergebnis davon ausgegangen, dass keine Entbindung erteilt worden ist. Sie hat die "Epikrise" als solche nicht verwertet und zur Begründung ausgeführt: Die Verwertung sei unzulässig, weil die Ärzte und Therapeuten des Klinikums im Verfahren inzwischen von ihrem Recht, die Aussage zu verweigern (§ 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO) Gebrauch machten. Für die Frage der Verwertbarkeit der vorher zu den Akten gelangten "Epikrise" sei daher eine Abwägung (§ 160a Abs. 2 StPO) zwischen dem postmortalen Persönlichkeitsschutz T. K. s und dem Interesse an der Tataufklärung vorzunehmen. Weil es sich bei der Straftat des Angeklagten nur um ein - wenngleich in den Auswirkungen erhebliches - fahrlässiges Delikt handele, die Eltern T. K. s als Hinterbliebene mit einer Offenbarung der "Epikrise" tatsächlich nicht einverstanden waren und die Ärzte der Verwertung des Berichts inzwischen widersprochen hatten, überwiege letztlich der postmortale Persönlichkeitsschutz T. K. s.
c) Diese Ausführungen begegnen Bedenken (aa, bb). Darüber hinaus sind gewichtige Gesichtspunkte nicht angesprochen (cc).
aa) Die Strafkammer ist im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass nach dem Tode des Patienten die verbindliche Entscheidung über die Verwertbarkeit von ihn betreffenden ärztlichen Unterlagen nicht auf die Erben übergeht (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 31. Mai 1983 - VI ZR 259/81, NJW 1983, 2627 ff.). Ob die (hier bereits aktenkundigen) Unterlagen verwertbar sind, ist nach Maßgabe des § 160a Abs. 2 StPO abzuwägen. Das Ergebnis der Abwägung ist vom Revisionsgericht nur auf seine Vertretbarkeit hin zu überprüfen (vgl. BGHSt 41, 30; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 160a Rn. 18); jedoch unterliegen die der Abwägung zugrunde gelegten rechtlichen Maßstäbe revisionsrichterlicher Kontrolle.
Im Rahmen dieser Abwägung kann es freilich eine Rolle spielen, ob der (die) Erbe(n) des Patienten mit der Verwertung der den Patienten betreffenden Unterlagen einverstanden ist (sind). In diesem Zusammenhang kann gegebenenfalls auch zu berücksichtigen sein, dass der Angeklagte einerseits geltend macht, die Heranziehung der "Epikrise" sei zu seiner Entlastung geboten, andererseits aber ihrer Heranziehung im Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten dadurch gleichwohl entgegenwirkt, dass er die Frage nach einer "Schweigepflichtentbindung" nicht nur offen lässt, sondern die Klärung durch widersprüchlichen Vortrag erschwert.
bb) Während dieser Gesichtspunkt sich im Ergebnis eher gegen eine Heranziehung der "Epikrise" auswirken könnte, bestehen andererseits gegen die Gewichtung der Taten, die die Strafkammer zur Begründung der Ablehnung der Verwertung herangezogen hat (§ 160a Abs. 2 Satz 1 StPO), rechtliche Bedenken. Die Strafkammer meint, es liege keine "Straftat von erheblicher Bedeutung" vor, und stellt entscheidend darauf ab, dass es sich nur um eine fahrlässig begangene Straftat handele. Damit legt die Strafkammer hinsichtlich des Begriffs "erhebliche Bedeutung" einen unzutreffenden Maßstab an.
Eine Straftat hat "erhebliche Bedeutung", wenn sie mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 109, 279, 344; 103, 21, 34; BT-Drucks. 16/5846, S. 40). Der Bereich mittlerer Kriminalität bestimmt sich maßgeblich nach den abstrakten Strafrahmen des materiellen Strafrechts, nicht nach der Schuldform. Bei entsprechend hohen Strafrahmen kann daher auch eine fahrlässige Straftat eine solche von "erheblicher Bedeutung" sein. Selbst eine fahrlässige Körperverletzung kann nach den Umständen des Einzelfalls noch ausreichen (vgl. BVerfG NJW 2009, 2431; vgl. auch Rieß, GA 2004, 623, 638 ff. mwN). Hieran gemessen ist die Annahme, fahrlässige Tötungen (Höchststrafe fünf Jahre) seien, zumal unter den hier vorliegenden konkreten Umständen, schon im Ansatz keine erheblichen Straftaten, nicht tragfähig.
cc) Die neue Strafkammer wird deutlicher als bisher im Ansatz auch Gelegenheit haben, Folgendes zu berücksichtigen:
Der Persönlichkeitsschutz des Geheimnisinhabers (Patienten) wird durch dessen Tod in einen allgemeinen, der Abwehr von Angriffen auf die Menschenwürde dienenden Achtungsanspruch umgewandelt; dessen Schutzwirkung reicht jedenfalls weniger weit als das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines Lebenden (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 1998 - 2 StR 189/98). Diesem Interesse des Geheimnisinhabers (Patienten) steht das Interesse des Angeklagten gegenüber, nicht unschuldig verurteilt bzw. nicht schärfer als schuldangemessen bestraft zu werden (vgl. OLG Celle NJW 1965, 362).
Darüber, zu welchem Ergebnis die aufgeführten gegenläufigen Gesichtspunkte und die sonstigen, in diesem Zusammenhang von der Strafkammer angestellten Erwägungen letztlich führen, hat der Senat hier nicht zu befinden.
2. Zum Schuldspruch bemerkt der Senat:
Die Strafkammer hat auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen zutreffend neben den Verstößen gegen das Waffengesetz auch fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung bejaht. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte hätte voraussehen können, dass sein Sohn als Folge der unzulänglichen Sicherung von Waffen und Munition auf Menschen schießen wird, nicht notwendig davon abhängig sein muss, wie präzise die Kenntnis des Angeklagten über das Maß der psychischen Erkrankung seines Sohnes war.
Schon diese unzulängliche Sicherung von Waffen und Munition unter Verstoß gegen die spezifischen waffenrechtlichen Aufbewahrungspflichten kann den Vorwurf der Fahrlässigkeit für Straftaten begründen, die vorhersehbare Folge einer ungesicherten Verwahrung sind. Für die Vorhersehbarkeit könnte hier zudem die - für sich gesehen bislang rechtsfehlerfrei getroffene - Feststellung sprechen, dass der Angeklagte entgegen dem Rat des Klinikums nicht für eine Weiterbehandlung seines Sohnes sorgte, dies selbst dann noch nicht, als sich dessen psychischer Zustand wieder deutlich verschlechterte.
Stattdessen ermöglichte der Angeklagte seinem, wie ihm jedenfalls bekannt war, psychisch sehr labilen Sohn, der seit Jahren in Computerspielen auf andere schoss, sich im Schützenverein im Umgang mit realen Schusswaffen zu üben.
HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 460
Externe Fundstellen: NStZ 2013, 238; StV 2013, 1
Bearbeiter: Karsten Gaede