HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 129
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 341/11, Urteil v. 30.11.2011, HRRS 2012 Nr. 129
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 16. März 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie beanstandet mit der Sachrüge die unterbliebene Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Sollte insoweit eine Beschränkung der Revision erfolgen, ist diese unwirksam. Eine getrennte Prüfung von § 63 StGB und der Schuldunfähigkeit i.S.v. § 20 StGB ist nicht möglich, weil das Bejahen von § 20 StGB eine Voraussetzung der Unterbringung nach § 63 StGB ist. Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte leidet nach langwierigem Verlauf an einer krankhaften seelischen Störung in Form eines schizophrenen Residuums. Von Januar bis Juli 2011 stand er unter Betreuung, ohne den Kontakt zum Betreuer einzuhalten. Seit ca. 15 Jahren ist er ohne dauerhaften festen Wohnsitz. Er lebt überwiegend im Wald. Die Nutzung von Unterkünften für Obdachlose lehnt er ab. Er trinkt seit Jahren verstärkt Alkohol in Form von Bier und war deswegen wiederholt zur Ausnüchterung in Kliniken. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er durch freiwillige Leistungen Dritter. Er ist vielfach vorbestraft. Die letzten beiden Vorstrafen ergingen wegen einschlägiger Delikte.
2. Am 11. Mai 2009 verurteilte ihn das Amtsgericht Nürnberg wegen Beleidigung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat. Der Angeklagte hatte am 4. Juli 2008 gegen 7.15 Uhr eine ihm unbekannte Frau auf offener Straße mit den Worten beleidigt: "Du blöde Fotze, was schaust du so blöd? Du kriegst ein paar auf Dein Maul" und hatte sich ihr laut schreiend mit erhobener, zur Faust geballter Hand genähert, um sie zu schlagen. Er setzte der Fliehenden nach, konnte aber sein Vorhaben nur deshalb nicht umsetzen, weil zwei Passanten dazwischen gingen.
Am 24. Februar 2010 verurteilte das Amtsgericht Nürnberg den Angeklagten wegen einer am 2. Juli 2009 gegen 16.00 Uhr begangenen vorsätzlichen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten. Er hatte einen damals 9-jährigen Jungen auf der Straße am Nacken gepackt und ihn gegen eine Häckselmaschine gestoßen. Das Kind erlitt eine Rötung im Nackenbereich.
3. Am 29. Juni 2010 hielt sich der Angeklagte gegen 18.20 Uhr in Nürnberg auf dem Albrecht-Dürer-Platz auf. Er hatte eine offene Bierflasche in der linken Hand. Die Nebenklägerin lief schnellen Schrittes in seine Richtung. Der Angeklagte nahm sie wahnbedingt als Bedrohung für sich wahr. Als sie an ihm vorbeigehen wollte, sagte er zu ihr: "Immer schön locker bleiben" und schlug ihr mit der rechten Faust ins Gesicht. Er traf sie im Bereich des linken Auges. Anschließend ging er im normalen Tempo weiter.
Der Nebenklägerin brach durch den Schlag ein Teil eines oberen Schneidezahnes auf der linken Seite ab. Sie erlitt einen gut vier Wochen lang sichtbaren Bluterguss und eine Schwellung im Gesicht. Sie hatte eine Woche lang starke Schmerzen und ist insofern dauerhaft beeinflusst, dass sie die Straßenseite wechselt, wenn ihr alkoholisierte oder obdachlose Personen begegnen.
Sie stellte Strafantrag.
4. Der Angeklagte hatte zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration von 2,56 ‰. Infolge eines akuten psychotischen Schubs fehlte ihm bei der Tatbegehung die Einsicht, Unrecht zu tun. Die sachverständig beratene Kammer geht davon aus, dass der Angeklagte wegen einer krankhaften seelischen Störung in Form eines schizophrenen Residuums dauerhaft in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert ist. Darüber hinaus komme es in unregelmäßigen Abständen zu akuten psychotischen Schüben, die seine Einsichtsfähigkeit aufheben.
Gleichwohl lehnt sie eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ab, weil sie die vom Angeklagten infolge seines Zustandes mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Taten als "nicht zwingend erheblich" (UA S. 20) einstuft und daher eine Gefahr für die Allgemeinheit verneint.
Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Der gehörte Sachverständige, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, schloss die Alkoholisierung des Angeklagten als Ursache für dessen wahnhaftes Erleben aus. Er prognostizierte, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder zu akuten psychotischen Schüben kommen und der Angeklagte aggressive Handlungen begehen werde, die mit der Anlasstat vergleichbar seien, wenn er nicht medikamentös mit Neuroleptika behandelt werde. Es sei zu erwarten, dass sich die Tatfrequenz, aber nicht die angewendete Gewalt, steigern werde. Nach seiner Auffassung belegten bereits die beiden letzten Vorstrafen einen Hang des Angeklagten zu aggressiven rechtswidrigen Handlungen (UA S. 18).
2. Die Ablehnung der Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB beruht auf einem Wertungsfehler.
Bereits die Anlasstat, die die Kammer selbst der mittleren Kriminalität zuordnet, ist symptomatisch für künftige Taten, die vom Angeklagten infolge seines Zustandes bei einem psychotischen Schub zu erwarten sind. Dass dadurch der Rechtsfrieden erheblich gestört wird, versteht sich aus der Tat selbst. Die mittlere Kriminalität wird vom Anwendungsbereich des § 63 StGB miterfasst (vgl. BGHR § 63 StGB Gefährlichkeit 9 mwN). Die Kammer bezeichnet die beiden Körperverletzungstaten aus den Vorstrafen als mit der Anlasstat vergleichbare Taten, ordnet sie jedoch abweichend vom Sachverständigen als Bagatelldelikte ein, die den Rechtsfrieden nicht erheblich stören. Dabei hat sie nicht hinreichend bedacht, dass der Angeklagte bei Taten, bei denen er sich in einer wahnhaften Bedrohungssituation befindet und ihm die Einsichtsfähigkeit fehlt, Unrecht zu tun, es nicht in der Hand hat, die Verletzungsfolgen seines aggressiven Vorgehens zu steuern. Der Umfang der Verletzungen bleibt vielmehr dem Zufall überlassen, wie die drei Körperverletzungsdelikte zeigen. Nur durch das Eingreifen Dritter blieb es in einem Fall beim Versuch; auch die geringfügige Verletzung des 9-jährigen Jungen hing vom Zufall ab. Vorsätzliche Körperverletzungen gegen bislang völlig unbekannte Personen stören in der Regel den Rechtsfrieden erheblich. Der Täter stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit dar.
3. Das Übermaßverbot nach § 62 StGB führt hier zu keinem anderen Ergebnis.
Bei einer Abwägung der Gefahr für die Allgemeinheit aufgrund der vom Angeklagten begangenen und zu erwartenden Taten gegen die körperliche Unversehrtheit willkürlicher Opfer und des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht des von der Maßregel nach § 63 StGB Betroffenen steht dieser Eingriff hier nicht außer Verhältnis.
4. Das Urteil ist wegen des aufgezeigten Rechtsfehlers insgesamt aufzuheben.
Eine beschränkte Aufhebung kommt hier, wie oben dargelegt, nicht in Betracht, um Wertungswidersprüche zu vermeiden. Auch die zugrunde liegenden Feststellungen können nicht bestehen bleiben. Da der Angeklagte das Urteil nicht hätte anfechten können, obwohl die Begehung einer rechtswidrigen Tat durch ihn festgestellt ist, scheidet die Möglichkeit, ihn belastende Feststellungen - etwa zum äußeren Tatgeschehen - aufrechtzuerhalten von vorneherein aus (vgl. BGHSt 16, 374; BGH, Urteil vom 23. Februar 2000 - 3 StR 595/99).
HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 129
Bearbeiter: Karsten Gaede