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HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 819

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 314/09, Beschluss v. 19.08.2009, HRRS 2009 Nr. 819


BGH 1 StR 314/09 - Beschluss vom 19. August 2009 (LG Essen)

Anwendung von ausländischem Recht und von Gemeinschaftsrecht bei der gewerbsmäßigen Steuerhehlerei und der Steuerhinterziehung (Berechnungsdarstellung; Verkürzung von Einfuhrabgaben; Auswirkungen der EU-Osterweiterung; Bestimmung des Zollwerts geschmuggelter Zigaretten durch Schätzung nach Art. 31 Zollkodex); redaktioneller Hinweis.

§ 374 AO; § 370 AO; Art. 29 Zollkodex; Art. 31 Zollkodex

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Ermittlung des Zollwerts nach den Art. 29 ff. ZK ist Rechtsanwendung, die der Tatrichter selbst vorzunehmen hat. Kommt bei geschmuggelter Ware, für die es im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften keinen legalen Markt gibt, zur Bestimmung des Zollwerts nur die Schlussmethode nach Art. 31 ZK in Betracht, muss der Tatrichter in den Urteilsgründen grundsätzlich zum Ausdruck bringen, ob und gegebenenfalls auf welcher Grundlage er eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen vorgenommen hat. Die Angaben der Finanzverwaltung darf er nur übernehmen, wenn er diese eigenverantwortlich nachgeprüft hat und von ihrer Richtigkeit auch unter Zugrundelegung strafrechtlicher Verfahrensgrundsätze überzeugt ist (st. Rspr., vgl. nur BGH wistra 2004, 348; BGH wistra 2007, 346).

2. Der Verweis auf eine Dienstvorschrift des Finanzministeriums genügt diesen Anforderungen nicht. Ebenfalls rechtsfehlerhaft ist die Würdigung, ein als Zeuge gehörter erfahrener Zollbeamter habe "glaubhaft, weil in sich schlüssig und plausibel, bekundet, der sog. Zollwert sei vorgegeben und folge aus einer Dienstvorschrift des Ministeriums".

3. Die bloße Wiedergabe von Aussagen, die Finanzbeamte zur Behandlung steuerlicher Fragen gemacht haben, macht die eigene Rechtsanwendung des Tatgerichts nicht entbehrlich (vgl. BGH wistra 2001, 308, 309; 2003, 266, 269).

4. Zu den Anknüpfungspunkten für eine rechtsfehlerfreie Zollwertbestimmung durch Schätzung nach Art. 31 ZK.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 10. März 2009 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei in zehn Fällen, jeweils in Tateinheit mit Steuerhinterziehung, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es den Angeklagten freigesprochen.

Gegen seine Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift bemerkt der Senat zur Verurteilung des Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei gemäß § 374 AO:

Zwar tragen die insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen den Schuldspruch. Jedoch hält die Bestimmung des Umfangs der bei der Einfuhr der verfahrensgegenständlichen Zigaretten in die Europäische Gemeinschaft verkürzten Einfuhrabgaben rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Senat schließt allerdings angesichts der Ausführungen der Strafkammer zur Strafzumessung aus, dass das Landgericht bei zutreffender Bestimmung der Einfuhrabgaben auf geringere Einzelstrafen oder eine niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte.

a) Das Landgericht hat im Rahmen der Bestimmung der bei der Einfuhr der Zigaretten, die Gegenstand der von dem Angeklagten begangenen Steuerhehlerei waren, in die Europäische Gemeinschaft hinterzogenen Einfuhrumsatzsteuer fälschlich die Hinterziehung polnischer Einfuhrumsatzsteuer zugrunde gelegt. Es hat dabei nicht berücksichtigt, dass die nach den Feststellungen im Jahr 2007 aus der russischen Exklave Kaliningrad (Königsberg) über Litauen und Polen nach Deutschland verbrachten Zigaretten der Marke "Jin Ling" bereits in Litauen unter Verkürzung der Einfuhrabgaben in das Zollgebiet der Europäischen Gemeinschaft eingeführt worden waren. Denn Litauen gehörte ebenso wie Polen bereits seit dem 1. Mai 2004 zur Europäischen Union. Somit war die gemäß § 374 Abs. 2 AO aF maßgebliche Einfuhrumsatzsteuer nicht nach polnischem, sondern nach litauischem Recht zu bestimmen (vgl. auch Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht 7. Aufl. § 370 Rdn. 27, 28a, sowie Jäger, Die Auswirkungen der Osterweiterung der Europäischen Union auf das deutsche Steuerstrafrecht, in: Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag, 2009, S. 447, 454 ff.). Damit betrug die Einfuhrumsatzsteuer gemäß Art. 2 Abs. 27 i.V.m. Art. 2 Abs. 7 und Art. 3 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes der Republik Litauen Nr. IX-751 vom 5. März 2002 18 Prozent und somit 4 Prozentpunkte weniger als der vom Landgericht zugrunde gelegte polnische Steuersatz von 22 Prozent. Erst mit Wirkung vom 1. Januar 2009 wurde der Einfuhrumsatzsteuersatz auf 19 Prozent erhöht (Änderungsgesetz Nr. XI-114 vom 23. Dezember 2008).

b) Rechtsfehlerhaft ist auch die Bestimmung der Bemessungsgrundlage der Einfuhrumsatzsteuer durch die Strafkammer. Zum einen hat sie in die Bemessungsgrundlage statt der litauischen die polnische Tabaksteuer einberechnet, die im Tatzeitraum höher war als die der Republik Litauen. Zum anderen hält die Bestimmung des Zollwerts der Zigaretten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Zwar ist das Landgericht im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass zur Steuerbemessungsgrundlage für die Einfuhrumsatzsteuer neben den aufgrund der Einfuhr geschuldeten Steuern (mit Ausnahme der zu erhebenden Mehrwertsteuer) der Betrag gehört, der durch die geltenden Gemeinschaftsvorschriften als Zollwert bestimmt ist (vgl. Art. 85, 86 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem; ABl. EU Nr. L 347 S. 1, ber. ABl. EU 2007 Nr. L 335 S. 60 - Mehrwertsteuersystemrichtlinie - sowie Art. 93 des Mehrwertsteuergesetzes der Republik Litauen Nr. IX-751 vom 5. März 2002). Das Landgericht hat jedoch den Zollwert nicht rechtsfehlerfrei nach den Vorschriften des Zollkodexes (ZK) festgestellt.

Hierzu hat der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt:

"Die Ermittlung des Zollwerts nach den Art. 29 ff. ZK ist Rechtsanwendung, die der Tatrichter selbst vorzunehmen hat. Kommt bei geschmuggelter Ware, für die es im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften keinen legalen Markt gibt, zur Bestimmung des Zollwerts nur die Schlussmethode nach Art. 31 ZK in Betracht, muss der Tatrichter in den Urteilsgründen grundsätzlich zum Ausdruck bringen, ob und gegebenenfalls auf welcher Grundlage er eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen vorgenommen hat. Die Angaben der Finanzverwaltung darf er nur übernehmen, wenn er diese eigenverantwortlich nachgeprüft hat und von ihrer Richtigkeit auch unter Zugrundelegung strafrechtlicher Verfahrensgrundsätze überzeugt ist (st. Rspr., vgl. nur BGH wistra 2004, 348; BGH wistra 2007, 346). Gemessen daran genügt der Verweis der Strafkammer auf eine Dienstvorschrift des Finanzministeriums (UA S. 89) den Anforderungen nicht. Dies gilt umso mehr, als die Strafkammer den Zollwert bei der Berechnung der polnischen Einfuhrumsatzsteuer anders veranschlagt als bei der Berechnung der hinterzogenen Zölle (UA S. 82), was mit einem einheitlichen Außenzoll für das gesamte Gemeinschaftsgebiet nicht zu vereinbaren ist."

Rechtsfehlerhaft ist insbesondere die Würdigung der Strafkammer, ein als Zeuge gehörter erfahrener Zollbeamter habe "glaubhaft, weil in sich schlüssig und plausibel, bekundet, der sog. Zollwert sei vorgegeben und folge aus einer Dienstvorschrift des Ministeriums" (UA S. 89). Hieraus ergibt sich, dass dem Landgericht nicht bewusst war, dass es im Wege der Rechtsanwendung den Zollwert nach den Vorschriften der Art. 29 ff. ZK selbst ermitteln und, wenn erforderlich, eigenverantwortlich schätzen muss. Die bloße Wiedergabe von Aussagen, die Finanzbeamte zur Behandlung steuerlicher Fragen gemacht haben, macht die eigene Rechtsanwendung des Tatgerichts nicht entbehrlich (vgl. BGH wistra 2001, 308, 309; 2003, 266, 269; zur Stellung des Finanzbeamten im Steuerstrafverfahren vgl. auch Harms in Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, 2002, S. 451 ff.).

Den Urteilsgründen kann hier zwar noch entnommen werden, dass eine Zollwertbestimmung nach Art. 29 ZK und Art. 30 ZK nicht in Betracht kam. Insbesondere war der Transaktionswert der Zigaretten, d.h. der Schwarzmarktimportpreis, nicht bekannt, was einer Anwendung des Art. 29 ZK entgegenstand. Dies erlaubte jedoch nicht die ungeprüfte Übernahme von "als vorgegeben" bezeichneten Werten der Zollverwaltung. Vielmehr hatte das Tatgericht den Zollwert gemäß Art. 31 Abs. 1 ZK nach der Schlussmethode auf der Grundlage von in der Europäischen Gemeinschaft verfügbaren Daten zu bestimmen (vgl. dazu Jäger aaO S. 453). Insoweit können Preislisten und Preisangebote für Lieferungen in das Zollgebiet der Gemeinschaft geeignete Bewertungsgrundlagen sein, um den Zollwert nach Maßgabe des Art. 31 ZK zu ermitteln (vgl. Reiche in Witte, Zollkodex 5. Aufl. Art. 31 Rdn. 4). Sind für die eingeführten Zigaretten solche Bewertungsgrundlagen nicht vorhanden, kann die vorzunehmende Schätzung am üblichen Importpreis für Markenzigaretten des unteren Preissegments ansetzen (zum Kleinverkaufspreis bei der Tabaksteuerberechnung vgl. Senat, Beschl. vom 20. November 2008 - 1 StR 546/08 - Rdn. 11). Anknüpfungspunkte für die Schätzung können bei Fehlen besserer Erkenntnisse auch die vom Bundesministerium der Finanzen festgesetzten "Anhaltswerte" sein (vgl. BGH wistra 2004, 348; siehe auch Krüger in Dorsch, Zollrecht, Stand 118. Lfg. Januar 2009, Art. 31 ZK Rdn. 6). Auch solche Wertansätze der Finanzverwaltung, bei denen abgestuft nach der Menge der eingeführten Zigaretten feste Zollwerte zugrunde gelegt werden, dürfen, wenn - wie hier - der tatsächlich für die Zigaretten gezahlte Preis nicht nachgewiesen werden kann, aber nur dann in das Strafverfahren übernommen werden, wenn das Tatgericht von ihrer Richtigkeit auch bei Zugrundelegung der strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls überzeugt ist (st. Rspr., vgl. nur BGH wistra 2001, 308, 309 m.w.N.).

c) Der Senat kann trotz der aufgezeigten Rechtsfehler - in Übereinstimmung mit der Wertung des Generalbundesanwalts - im Hinblick auf die zutreffende Feststellung des Umfangs der Hinterziehung deutscher Tabaksteuer, der in allen Fällen die weitaus größte Schadensposition bildet, des vom Landgericht vorgenommenen "Sicherheitsabschlags" und der von der Strafkammer zugrunde gelegten Maßstäbe bei der Strafzumessung (UA S. 92) ausschließen, dass das Landgericht bei fehlerfreier Bestimmung der Einfuhrabgaben für das als tateinheitlich begangen ausgeurteilte Delikt der gewerbsmäßigen Steuerhinterziehung auf niedrigere Einzelstrafen oder eine geringere Gesamtstrafe erkannt hätte.


[Redaktioneller Hinweis: Zur gebotenen Fremdrechtsanwendung und ihrer Darstellung auch Gaede wistra 2008, 184 f.]

HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 819

Externe Fundstellen: NStZ 2010, 338

Bearbeiter: Karsten Gaede