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HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 732

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 218/09, Beschluss v. 27.05.2009, HRRS 2009 Nr. 732


BGH 1 StR 218/09 - Beschluss vom 27. Mai 2009 (LG Landshut)

Rechtsfehlerhaft wegen völliger Ungeeignetheit abgelehnter Beweisantrag (Erinnerungsfähigkeit des Zeugen; Begriff des Beweisantrages: konkrete Beweistatsache, Verbescheidungspflicht).

§ 244 Abs. 3, Abs. 6 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Als völlig ungeeignet im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO ist ein Beweismittel nur dann einzustufen, wenn das Gericht ohne jede Rücksicht auf das bisher gewonnene Beweisergebnis sagen kann, dass sich mit diesem Beweismittel das im Beweisantrag in Aussicht gestellte Ergebnis nach sicherer Lebenserfahrung nicht wird erzielen lassen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 12 und 15). Die absolute Untauglichkeit muss sich aus dem Beweismittel im Zusammenhang mit der Beweisbehauptung selbst ergeben. Bei der Annahme, die Erhebung eines Beweises erscheine von vornherein gänzlich nutzlos, ist ein strenger Maßstab anzulegen.

2. Dies gilt vor allem für die Annahme, ein Zeuge sei deswegen ein völlig ungeeignetes Beweismittel, weil er sich wegen des Zeitablaufs voraussichtlich an die Beweistatsache nicht mehr erinnern könne (vgl. BGH NStZ 2004, 508). Insofern kommt es darauf an, ob Umstände vorliegen, die eindeutig dagegen sprechen, er könne im Falle einer Aussage vor Gericht etwas zur Sachaufklärung beitragen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 12 m.w.N.), oder ob der Vorgang, zu dem er aussagen soll, für ihn bedeutsam gewesen ist, sein Interesse geweckt hat und er sich auf Erinnerungshilfen stützen kann (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 23). Ergibt diese Prüfung einen lediglich geminderten, geringen oder zweifelhaften Beweiswert, so darf dieser nicht mit völliger Ungeeignetheit gleichgesetzt werden.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 9. Dezember 2008 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten B. wegen Vergewaltigung der Nebenklägerin Br. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und den an derselben Tat beteiligten Angeklagten C. wegen sexueller Nötigung zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Hiergegen wenden sich die Angeklagten mit ihren Revisionen. Diese haben jeweils mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Eines Eingehens auf die weiteren Verfahrensrügen und die jeweils erhobene Sachrüge bedarf es danach nicht mehr.

1. Nach den Feststellungen wurde die Tat am 7. April 2008 nach 3.15 Uhr in der Wohnung des Angeklagten B. begangen. Diese konnte die Nebenklägerin zwischen 4.00 Uhr und 4.30 Uhr verlassen. Im Haus ihrer Eltern, wo sie wohnte, kam sie erst Stunden später an, da sie den 18 km langen Heimweg zu Fuß zurücklegte. Von dort war sie gegen 2.45 Uhr geflüchtet, da der Angeklagte B. ihr gegen Mitternacht angedroht hatte, vorbeizukommen, ihr das Gesicht zu zerschneiden und sie zu vergewaltigen, "wenn sie nicht mitmache".

Bereits zuvor hatte er sie in den späten Abendstunden des 6. April 2008 mehrfach in Handyanrufen und per SMS aufgefordert, zu ihm zu kommen und an ihm sexuelle Handlungen vorzunehmen. Im Rahmen der Beweiswürdigung führt das Landgericht aus, an dem primär von der Nebenklägerin, aber auch von deren Mutter genutzten einzigen Computer im Haus habe ein Benutzer um 5.03 Uhr des Tattages Dateien erstellt. Die - am 3. Dezember 2008 als Zeugin gehörte - Mutter habe angegeben, "es sei ... recht wahrscheinlich, dass sie ... ab 5.03 Uhr den Computer benützt habe. Sie erinnere sich ... noch in etwa an die Nacht ... auf Montag, den 7. April 2008. Ihr Mann habe nämlich am 7. April 2008 Geburtstag...".

2. Die Revisionen machen einen Verstoß gegen § 244 Abs. 3 StPO geltend.

Beide Angeklagten hatten in der Hauptverhandlung jeweils beantragt, den als Lkw-Fahrer tätigen Vater der Nebenklägerin als Zeugen zum Beweis der Tatsache zu hören, dass er am 7. April 2008 um 5.03 Uhr von seiner Ehefrau, der Mutter der Nebenklägerin, zu seiner Arbeitsstelle gefahren worden sei. Diese übereinstimmenden Beweisanträge hat das Landgericht am 9. Dezember 2008 mit der Begründung abgelehnt, das benannte Beweismittel sei völlig ungeeignet. Denn es widerspreche "der gesicherten Lebenserfahrung, dass der Zeuge im Hinblick auf den langen Zeitablauf und das Fehlen einer früheren Vernehmung noch eine Erinnerung an die präzise zeitliche Einordnung der in sein Wissen gestellten Tatsachen haben könnte", zumal "im einstelligen Minutenbereich".

a) Mit dieser Begründung durfte das Landgericht die Beweisanträge nicht ablehnen.

aa) Als völlig ungeeignet im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO ist ein Beweismittel nur dann einzustufen, wenn das Gericht ohne jede Rücksicht auf das bisher gewonnene Beweisergebnis sagen kann, dass sich mit diesem Beweismittel das im Beweisantrag in Aussicht gestellte Ergebnis nach sicherer Lebenserfahrung nicht wird erzielen lassen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 12 und 15). Die absolute Untauglichkeit muss sich aus dem Beweismittel im Zusammenhang mit der Beweisbehauptung selbst ergeben. Bei der Annahme, die Erhebung eines Beweises erscheine von vornherein gänzlich nutzlos, ist ein strenger Maßstab anzulegen.

Dies gilt vor allem für die Annahme, ein Zeuge sei deswegen ein völlig ungeeignetes Beweismittel, weil er sich wegen des Zeitablaufs voraussichtlich an die Beweistatsache nicht mehr erinnern könne (vgl. BGH NStZ 2004, 508). Insofern kommt es darauf an, ob Umstände vorliegen, die eindeutig dagegen sprechen, er könne im Falle einer Aussage vor Gericht etwas zur Sachaufklärung beitragen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 12 m.w.N.), oder ob der Vorgang, zu dem er aussagen soll, für ihn bedeutsam gewesen ist, sein Interesse geweckt hat und er sich auf Erinnerungshilfen stützen kann (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 23). Ergibt diese Prüfung einen lediglich geminderten, geringen oder zweifelhaften Beweiswert, so darf dieser nicht mit völliger Ungeeignetheit gleichgesetzt werden.

bb) Bei Anwendung dieser Grundsätze gibt es für die Annahme des Landgerichts, der benannte Zeuge werde sich an die in sein Wissen gestellte Tatsache nicht mehr erinnern können, keine ausreichende Grundlage. Der Zeitraum vom 7. April 2008 bis 9. Dezember 2008 ist bereits für sich genommen nicht derart lang, dass er eine Erinnerung als von vornherein ausgeschlossen erscheinen lassen würde. Dementsprechend konnte sich die Ehefrau des benannten Zeugen in ihrer Vernehmung am 3. Dezember 2008 "noch in etwa an die Nacht ... auf Montag, den 7. April 2008", erinnern. Dabei hat sie sich auf den Geburtstag ihres Mannes als Erinnerungsbrücke berufen. Angesichts dessen lag es zumindest nicht fern, dass der Zeuge sich an Einzelheiten des Ablaufs seines eigenen Geburtstags, in den er nach den Feststellungen hinein gefeiert hatte, ebenfalls hätte erinnern können, auch wenn er bislang im Rahmen der Ermittlungen hierzu noch nicht vernommen worden war. Zudem kam in Betracht, dass er seine Erinnerung durch eine Einsichtnahme in das am 7. April 2008 in dem von ihm geführten Lkw befindliche Fahrtschreiberschaublatt (Tachoscheibe) hätte auffrischen können.

b) Auf dem aufgezeigten Verfahrensfehler kann das Urteil beruhen. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin anders beurteilt hätte, wenn ihr Vater die in sein Wissen gestellten Umstände bekundet hätte.

3. Der Senat bemerkt ergänzend: Soweit seitens der Verteidigung in der Hauptverhandlung zudem beantragt worden war, die Handys der Nebenklägerin und eines ihrer Bekannten einschließlich der SIM-Karten kriminaltechnisch auszuwerten, ist der Senat der Auffassung, dass es sich hierbei um Beweisanträge handelt, da eine hinreichend konkrete Beweistatsache behauptet wird. Denn als durch die Auswertung unter Beweis gestelltes Ergebnis wird jeweils angegeben, dass es in einem näher bezeichneten Zeitraum zu keinem telefonischen oder SMS-Kontakt zwischen der Nebenklägerin und den Angeklagten gekommen sei. Damit aber wird trotz der Negativformulierung eine bestimmte Tatsache angegeben, deren Nachweis auf die beantragte Weise prinzipiell hätte erbracht werden können. Aus diesem Grund genügte die Begründung des vom Landgericht gefassten Ablehnungsbeschlusses, die beantragte Auswertung sei "zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich", nicht den Anforderungen des § 244 Abs. 6 StPO. Selbst wenn damit hätte zum Ausdruck gebracht werden sollen, die Tatsache sei für die Entscheidung im Sinne des § 244 Abs. 3 StPO ohne Bedeutung, hätte ausgeführt werden müssen, ob die angenommene Irrelevanz auf tatsächlichen oder rechtlichen Gründen beruht und auf welchen (vgl. BGH NStZ 2000, 267, 268). Daran fehlt es.

HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 732

Externe Fundstellen: NStZ 2010, 52; StV 2010, 117

Bearbeiter: Karsten Gaede