HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 865
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 248/08, Urteil v. 29.07.2008, HRRS 2008 Nr. 865
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 8. Januar 2008 insoweit mit den Feststellungen aufgehoben, als das Landgericht von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen hat, sowie zu Gunsten des Angeklagten im Strafausspruch.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere, als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts Ellwangen zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 60 Fällen und sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Von der Anordnung der Sicherungsverwahrung hat es abgesehen. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen das Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), indem sie geltend macht, dass die Strafkammer das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB rechtsfehlerhaft verneint habe. Die beschränkte Revision hat Erfolg; sie führt zugleich zur Aufhebung des Strafausspruchs zu Gunsten des Angeklagten (§ 301 StPO).
Die Begründung, mit der das Landgericht die Anordnung der Sicherungsverwahrung abgelehnt hat, begegnet Bedenken.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte eine einschlägige Voreintragung. Er wurde durch das Landgericht Stuttgart am 13. Januar 2000 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, nachdem er sich im August 1999 an einem zwölf Jahre alten Mädchen, welches im Einverständnis seiner Eltern bei ihm übernachtet hatte, um am nächsten Morgen auf einer LKW-Tour mitfahren zu dürfen, vergangen hatte. Zwei der ihm nun vorgeworfenen Taten fanden im Zeitraum Februar 1994 bis Februar 1996 statt, sämtliche weiteren Taten beging der Angeklagte 2002 und hauptsächlich im Zeitraum ab Juni 2004 bis August 2006.
2. Die formellen Voraussetzungen der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB sind, wovon offenbar auch das Landgericht ausgegangen ist, vorliegend gegeben. Die Strafkammer hat jedoch, in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Sachverständigen G s die Voraussetzungen eines Hangs im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB abgelehnt.
Diese Darlegungen halten rechtlicher Überprüfung nicht stand. Ob ein Hang zur Begehung erheblicher Straftaten anzunehmen ist, beurteilt sich bei § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB wie auch im Fall des § 66 Abs. 2 StGB danach, ob die Vorverurteilung und/oder die abzuurteilenden Anlasstaten symptomatisch für die verbrecherische Neigung des Täters und die von ihm ausgehende Gefährlichkeit sind, das heißt, die Anlasstaten sind daraufhin zu würdigen, ob aus ihnen bereits auf einen Hang zur Begehung "erheblicher Straftaten", namentlich solcher, die unter den Katalog des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB fallen, geschlossen werden kann, ob sich also bereits in ihnen ein solcher Hang hinreichend deutlich manifestiert hat (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 3 Katalogtat 1; BGH, Urt. vom 23. August 2000 - 3 StR 307/00).
Bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Prüfung hat das Landgericht einen unzutreffenden Maßstab angelegt. Es hat die Ausführungen des Sachverständigen übernommen, wonach beim Angeklagten "zwar fest eingeschliffene Verhaltensmuster" vorliegen, "eine Erhöhung seiner Aggressionsbereitschaft" aber nicht gegeben sei. Die Ursachen der Straftaten lägen "in einer Störung seiner Persönlichkeit dahingehend, dass er von sich selbst ein schlechtes Bild als Mann" habe "und Kinder in einer ‹Surrogathandlung› als Sexualobjekte" benutze, "weil sie schlicht für ihn ‹verfügbar›" seien. "Ab einem bestimmten Zeitpunkt des sich Annäherns an die Kinder" sei "der Angeklagte auch nicht mehr in der Lage, seine sexuellen Handlungen zu stoppen und damit aufzuhören".
Auch unter Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten ergebe sich kein Bild des Hangtäters. Er habe zwar eine einschlägige Vorverurteilung, von einer hohen Rückfallgeschwindigkeit könne dennoch nicht gesprochen werden. Anfangs hätten mehrere Jahre zwischen den Taten gelegen, eine zeitliche Häufung sei erst ab dem Sommer 2004 gefolgt, "als L. dem Angeklagten zeitlich in großem Umfang ‹zur Verfügung›" stand.
Zurecht legt die Revision demgegenüber dar, dass der überwiegende Teil der Straftaten vom Angeklagten im Zeitraum Juli 2002 bis August 2006 - und offenbar unbeeindruckt von der einschlägigen Vorverurteilung im Jahre 2000 - begangen wurde, wobei auch in diesem Zeitraum eine zahlenmäßig starke Zunahme ab Ende 2004 feststellbar ist. Allein die vom Landgericht angeführten Umstände, dass der Angeklagte die Taten jeweils völlig ungeplant beging und sich ihm bietende Angelegenheiten spontan ausnutzte, ohne Vorbereitungen für die Taten zu treffen, schließt einen Hang nicht aus. Vielmehr ist "Hangtäter" auch schon derjenige, der aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung, deren Ursache unerheblich ist, immer wieder straffällig wird, wenn sich Gelegenheit bietet (BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 1 und Hang 3). Auch die vom Landgericht angeführten charakterlichen Eigenschaften des Angeklagten, welcher die Taten zutiefst bedauere, welche zudem weder von Gemütsarmut noch Gefühlskälte geprägt gewesen seien, schließen einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten nicht aus. Gerade wenn eine offenbar nicht zu kontrollierende Willensschwäche vorliegt, welcher der Angeklagte nicht begegnen kann und demgemäß jegliche Gelegenheit zu sexuellen Misshandlungen an Kindern ausnutzt, deutet dies auf das Vorliegen eines Hanges im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB hin. Vielmehr hätte das Landgericht sich damit auseinandersetzen müssen, dass als "Hangtäter" auch in Betracht kommt, wer willensschwach ist, aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht genügend widerstehen kann und so jeder neuen Versuchung zum Opfer fällt. Mit diesem Aspekt hätte sich die Strafkammer auch unter Berücksichtigung der hohen Rückfallgeschwindigkeit, die bei dem Angeklagten zuletzt aufgetreten ist, näher befassen müssen (BGH MDR 1994, 761, 762; zu dem bedenklichen Kriterium des mittleren Rückfallrisikos vgl. BGH NStZ 2007, 464, 465).
3. Unter diesem Blickwinkel wird der neue Tatrichter Gelegenheit haben, nochmals eine umfassende Würdigung des Angeklagten und seiner Taten vorzunehmen, wobei sich empfiehlt, einen mit der Begutachtung von Sexualstraftätern besonders erfahrenen Sachverständigen zu beauftragen.
Der Senat hebt zugleich den Strafausspruch zu Gunsten des Angeklagten auf, weil der Senat hier nicht ausschließen kann, dass die an sich rechtsfehlerfrei zugemessene Strafe bei Verhängung von Sicherungsverwahrung (gegebenenfalls auch vorzubehaltender Sicherungsverwahrung) geringer ausgefallen wäre.
HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 865
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2008, 337
Bearbeiter: Karsten Gaede