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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 29

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BGH, KRB 59/07, Beschluss v. 04.10.2007, HRRS 2008 Nr. 29


BGH KRB 59/07 - Beschluss vom 4. Oktober 2007 (OLG Düsseldorf)

BGHSt 52, 58; Zulässigkeit der Aktensicht in Akten eines Nebenbetroffenen (einheitlicher Gesamtkomplex; Geschäftsgeheimnisse; Kartellbußgeldverfahren; Einschränkung der Akteneinsicht durch den Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege).

Art. 6 EMRK; § 46 Abs. 1 OWiG; § 147 Abs. 1 StPO

Leitsätze

1. Dem Verteidiger eines Nebenbetroffenen ist Akteneinsicht auch in die Bußgeldakten der anderen Betroffenen und Nebenbetroffenen zu gewähren, wenn diese sich auf einen einheitlichen Gesamtkomplex beziehen und gleichfalls dem Beschwerdegericht vorliegen. (BGHSt)

2. Mögliche Geschäftsgeheimnisse der anderen (Neben-)Betroffenen hindern die Akteneinsicht grundsätzlich nicht. (BGHSt)

3. Gegenüber den Prozessbeteiligten und damit auch gegenüber der Verteidigung darf ein Geschäftsgeheimnis, soweit es für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch Entscheidungserheblichkeit entfalten kann, nicht verschwiegen werden. (Bearbeiter)

4. Der Rechtsanwalt wird als "Organ der Rechtspflege" seinem Mandanten in diesem Fallgestaltungen nur solche Auskünfte zukommen lassen, die für eine Durchführung einer sachgerechten Verteidigung erforderlich sind (vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2007, 1052, 1053). (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird die Verfügung des Vorsitzenden des 1. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 16. Juli 2007 aufgehoben.

Das Akteneinsichtsgesuch der Antragstellerin ist neu zu bescheiden.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Antragstellerin entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

Beim Oberlandesgericht Düsseldorf ist ein Kartellbußgeldverfahren gegen die Antragstellerin anhängig. Ihr wird als Nebenbetroffener vorgeworfen, sich durch ihre Mitarbeiter an Preisabsprachen im Bereich von Sach- und Transportversicherungen beteiligt zu haben. Dieses Verfahren ist Teil eines Gesamtkomplexes von 38 Bußgeldverfahren, die sich wegen der Mitwirkung an diesen Preisabsprachen gegen andere Versicherer, deren Vorstände oder leitende Mitarbeiter richten. Das Verfahren wurde zunächst einheitlich als Gesamtverfahren geführt, bevor es noch vom Bundeskartellamt vor Erlass der Bußgeldbescheide getrennt wurde. Die Akten liegen mittlerweile - nachdem Einspruch gegen die Bußgeldbescheide eingelegt worden ist - dem Kartellsenat vor.

Die Antragstellerin begehrt Einsicht in die Akten der Parallelverfahren. Der Vorsitzende des 1. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf hat diesem Antrag hinsichtlich bestimmter Aktenteile entsprochen, den Antrag aber im Übrigen zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin. Der Vorsitzende des Kartellsenats hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt. Die Beschwerde hat Erfolg.

I. Der Vorsitzende des Kartellsenats hat insoweit Akteneinsicht bewilligt, als der Aktenbestand zu dem gegen die Antragstellerin geführten Kartellbußgeldverfahren gehört. Hierzu hat er auch den Aktenbestand gezählt, der sich auf das Kartellbußgeldverfahren gegen die Go. Versicherung AG bezieht, weil das Verfahren gegen diese Nebenbetroffene zu dem Verfahren gegen die Antragstellerin verbunden sei. Der Vorsitzende hat hingegen die Akteneinsicht in diejenigen Akten verweigert, die das Bundeskartellamt gegen andere Betroffene und Nebenbetroffene angelegt hat. Diese Akten seien für die Antragstellerin verfahrensfremd. Zudem enthielten sie keine für sie schuld- oder rechtsfolgenrelevante Gesichtspunkte.

II. Die Beschwerde zum Bundesgerichtshof ist statthaft. Da das Oberlandesgericht in Kartellbußgeldsachen im ersten Rechtszug zuständig ist, ist nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 304 Abs. 4 Nr. 4 StPO gegen Beschlüsse und Verfügungen, welche die Akteneinsicht betreffen, die Beschwerde zum Bundesgerichtshof zulässig.

Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall gegeben, weil sich die Antragstellerin gegen die teilweise Versagung der Akteneinsicht wendet. Der Bundesgerichtshof hat allerdings ausgeführt, dass beschwerdebefugt nach dieser Bestimmung nur derjenige ist, der Verfahrensbeteiligter im anhängigen Kartellbußgeldverfahren ist, nicht aber ein Verletzter, der lediglich im Zusammenhang mit der Kartellordnungswidrigkeit Schadensersatzansprüche geltend macht (BGHSt 36, 338, 339). An einer solchen Stellung als Verfahrensbeteiligte könnte hier bei der Antragstellerin gezweifelt werden, weil sich ihr Akteneinsichtsbegehren auf die anhängigen Parallelverfahren bezieht, an denen die Antragstellerin nicht beteiligt ist. Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin ihren Anspruch jedoch auch daraus hergeleitet, dass es sich der Sache nach um ein einheitliches Verfahren handelt. Im Rahmen der Zulässigkeit reicht eine solche Begründung aus. Dies ergibt sich aus dem Zweck der gesetzlichen Regelung des § 304 Abs. 4 Nr. 4 StPO, die den Streit um den Umfang der Akteneinsicht im Hinblick auf ein anhängiges Straf- (bzw. Bußgeld-)Verfahren einer Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht zuführen will. Davon ist auch die Frage umfasst, was Bestandteil der gerichtlichen Akten und damit Gegenstand des Akteneinsichtsrechts ist. Insoweit ist die Fallgestaltung zu unterscheiden von Akteneinsichtsgesuchen Dritter, die nicht selbst Betroffene eines Kartellbußgeldverfahrens sind, sondern lediglich ein wirtschaftliches Interesse an dem anhängigen Kartellbußgeldverfahren haben. Jedenfalls nach der Behauptung der Antragstellerin geht es um die Einsicht in Akten, die dem anhängigen Bußgeldverfahren zugeordnet sind. Da die Antragstellerin ihrer Zielrichtung nach eine sachgerechte Verteidigung und Mitwirkung in dem gegen sie anhängigen Bußgeldverfahren durchsetzen will, ist ihre Beschwerde als statthaft anzusehen (vgl. BGH, Beschl. v. 18.1.2005 - StB 6/04, BGHR StPO § 304 Abs. 4 Akteneinsicht 3).

III. Das Beschwerdeverfahren hat sich durch die seit dem 24. September 2007 wirksame Verschmelzung der Nebenbetroffenen auf die H. AG nicht erledigt.

1. Das Verfahren richtet sich nunmehr gegen ihre Rechtsnachfolgerin, die H. G. AG. Zwar ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass Bußgelder nach § 30 OWiG nur unter eingeschränkten Voraussetzungen im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf den Rechtsnachfolger des Unternehmens übergehen. Danach darf ein Bußgeld gegenüber dem Unternehmen, auf das die Nebenbetroffene verschmolzen wurde, nur dann festgesetzt werden, wenn das Vermögen des verschmolzenen Unternehmens noch in gleicher oder ähnlicher Weise eingesetzt wird und in der neuen juristischen Person einen wesentlichen Teil des Gesamtvermögens ausmacht (BGH, Beschl. v. 11.3.1986 - KRB 8/85, wistra 1986, 221, 222; Beschl. v. 23.11.2004 - KRB 23/04, NJW 2005, 1381, 1383). Ob diese weiteren Voraussetzungen vorliegen, betrifft aber nicht die Stellung der Rechtsnachfolgerin als Nebenbetroffene, sondern lediglich die Frage, ob die Rechtsnachfolgerin mit einem Bußgeld belastet werden darf, das gegen ihre Rechtsvorgängerin wegen eines Fehlverhaltens ihrer Mitarbeiter verhängt wurde.

Das Verfahren kann im Übrigen selbst dann gegen die H. -G. AG als Rechtsnachfolgerin des G. -Konzerns geführt werden, wenn gegen H. aus dem Gesamtkomplex ein eigenständiges Bußgeldverfahren anhängig sein sollte. Im Falle einer Verschmelzung zweier Unternehmen bleibt es grundsätzlich möglich, zwei getrennte Bußgelder zu verhängen, falls durch Kartellordnungswidrigkeiten ihrer Mitarbeiter für jedes der beiden Unternehmen ein Bußgeld verwirkt ist (vgl. Raum in Langen/Bunte, Kartellrecht, 10. Aufl., § 81 GWB Rdn. 36).

2. Die prozessualen Handlungen der erloschenen Nebenbetroffenen wirken für und gegen ihre Rechtsnachfolgerin. Dies umfasst auch das angebrachte Akteneinsichtsgesuch und die gegen die teilweise Versagung der Akteneinsicht eingelegte Beschwerde. Das Akteneinsichtsgesuch besteht deshalb weiter fort. Hiervon ist zu unterscheiden, welcher Verteidiger die Akteneinsicht als Person konkret wahrnimmt. Dies hat der Vorsitzende des Kartellsenats des Oberlandesgerichts zu klären. Deshalb kann es im Beschwerdeverfahren auch dahinstehen, ob die Auffassung der Verteidiger zutrifft, dass mit der Verschmelzung ihr Wahlverteidigermandat erloschen sei, oder ob in dieser gegenüber dem Bundesgerichtshof abgegebenen Erklärung konkludent eine Mandatsniederlegung zu erblicken ist.

IV. Die Beschwerde der Antragstellerin ist begründet.

1. Im Ansatz zutreffend bestimmt der Vorsitzende des 1. Kartellsenats den Umfang der Akteneinsicht danach, welche Akten dem Gericht in dem gegen die Antragstellerin geführten Verfahren vorliegen (BGHSt 49, 317, 327; BGH, Beschl. v. 2.2.1999 - 1 StR 636/98, NStZ 1999, 371). Das Akteneinsichtsrecht in die dem Gericht vorliegenden Akten ist umfassend. Es erstreckt sich auf sämtliche Aktenbestandteile, mithin auch auf die vom Gericht beigezogenen Akten anderer Behörden und Gerichte. Insoweit gilt das Akteneinsichtsrecht uneingeschränkt und ist auch nicht im Wege eines sogenannten "In Camera"-Verfahrens beschränkbar (BGHSt 49, 317, 327; BGH, Urt. v. 11.2.2000 - 3 StR 377/99, NJW 2000, 1661, 1662). Damit ist ausgeschlossen, dass Erkenntnisse, die das Verfahren betreffen, von der Verfolgungsbehörde nicht gemäß § 69 Abs. 3 OWiG dem Gericht zugänglich gemacht oder - unter Ausschluss der Verteidigung - nur dem Gericht zur Verfügung gestellt werden. Das bedeutet aber auch, dass das Gericht die der Verteidigung zu überlassenden Aktenbestandteile weder vorher sichten noch einer Auswahl unterziehen darf (BGHSt 37, 204, 206).

Das Akteneinsichtsrecht bezieht sich grundsätzlich nur auf das gegen den jeweils Betroffenen geführte Verfahren. Es erfasst weiterhin hinzuverbundene Verfahren wie hier das Verfahren gegen die Go. Versicherung AG, weil es sich insoweit um ein einheitliches Verfahren handelt. Aktenbestandteile anderer Verfahren unterliegen dem Akteneinsichtsrecht nach § 147 Abs. 1 StPO selbst dann nicht, wenn die Verfahren zeitweise gemeinsam geführt und später getrennt wurden. Deshalb hat es der Bundesgerichtshof für zulässig erachtet, dem Verteidiger die Einsicht in die Verfahrensakten zu verweigern, die sich auf einen Mitbeschuldigten beziehen, gegen den das Verfahren vorher abgetrennt wurde. Jedenfalls wenn die Abtrennung nicht willkürlich erfolgt sei, dürfe die Einsicht nach § 147 Abs. 2 StPO verweigert werden, soweit durch eine Einsichtnahme der Untersuchungszweck gefährdet sei (BGHSt 50, 224, 228). Die Akten der Parallelverfahren sind im formellen Sinne "fremde" Akten (a.A. im Sinne eines generellen Akteneinsichtsrechts: Laufhütte in KK 5. Aufl. § 147 StPO Rdn. 6; OLG Karlsruhe AnwBl. 1981, 18). Es bedarf deshalb eines legitimierenden Interesses, um in diesen Fällen eine Akteneinsicht zu rechtfertigen (Lüderssen in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 147 Rdn. 72).

2. Bei der hier gegebenen Fallkonstellation begegnet eine Beschränkung des Akteneinsichtsrechts auf die verfahrensgegenständlichen Akten durchgreifenden Bedenken.

a) Sämtliche Verfahren betreffen Absprachen auf dem Markt für Versicherungsdienstleistungen. Den Personen, gegen die sich die Verfahren richten, wird die Beteiligung an diesen Absprachen vorgeworfen. Gleiches gilt für die hinter diesen Personen stehenden Unternehmen, gegen die als Nebenbetroffene Geldbußen festgesetzt wurden. Es lässt sich aufgrund dieser Verfahrenssituation nicht von vornherein ausschließen, dass sich in den später abgetrennten Verfahren gegen andere Betroffene oder Nebenbetroffene für das streitgegenständliche Verfahren relevante Gesichtspunkte ergeben könnten. Für die Verteidigung der Antragstellerin kann das Einlassungsverhalten anderer Betroffener oder Nebenbetroffener ebenso von Bedeutung sein wie neuere Ermittlungen der Verfolgungsbehörden, die möglicherweise gegen andere Betroffene oder Nebenbetroffene geführt wurden. All dies kann Rückschlüsse auf das vorliegende Verfahren zulassen.

b) Im vorliegenden Fall besteht noch eine weitere Besonderheit, die eine Gewährung von Akteneinsicht in die Parallelverfahren erforderlich macht. Sowohl den Verfolgungsbehörden (Bundeskartellamt und Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht) als auch dem Gericht liegen diese Akten in ihrer Gesamtheit vor. Diese können damit weitergehende Informationen aus diesen Verfahren auch im Verfahren gegen die Antragstellerin nutzen. Insoweit unterscheidet sich diese Verfahrenskonstellation von den Fällen, in denen Akten von anderen Behörden oder Gerichten noch beigezogen werden müssen und ihr Inhalt sämtlichen Beteiligten erst durch Einsicht in die beigezogenen Verfahrensakten vermittelt wird. Hier sind die Akten der Parallelverfahren dem Gericht und den Verfolgungsbehörden jederzeit zugänglich. Bei einer solchen Fallkonstellation gebietet es der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 MRK), der Verteidigung dasselbe Maß an Kenntnis des Akteninhalts einzuräumen wie den übrigen Verfahrensbeteiligten. Dem Fairnessgrundsatz würde es widersprechen, der Verteidigung die Kenntnis von Aktenbestandteilen zu verweigern, die einen Bezug zu dem Verfahren gegen die Antragstellerin haben könnten. Die Verteidigung braucht sich auch nicht darauf verweisen zu lassen, dass der Vorsitzende festgestellt hat, in den Akten der Parallelverfahren befänden sich keine Aktenbestandteile, die schuld- oder rechtsfolgenrelevanten Inhalt hätten (BGHSt 37, 204, 206). Ob Informationen für die Verteidigung von Bedeutung sein können, unterliegt allein ihrer Einschätzung. Um dies zu überprüfen, muss sie durch Einsichtnahme von dem Inhalt der Akten Kenntnis nehmen können.

V. Der Vorsitzende des Kartellsenats des Oberlandesgerichts hat das Akteneinsichtsgesuch der Antragstellerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden. An einer dem Gesuch der Antragstellerin entsprechenden Entscheidung ist der Senat gehindert, weil ihm in diesem Verfahrensstadium die Aktenführung nicht obliegt. Zudem sieht er sich nicht in der Lage, die Akten, auf die sich das Akteneinsichtsrecht der Antragstellerin bezieht, aus dem Gesamtverfahren genau zu bezeichnen. Weiterhin wird nach der Verschmelzung zu klären sein, durch welchen Verteidiger die Akteneinsicht wahrgenommen wird.

Aus den dargelegten Gründen ergibt sich, dass der Vorsitzende des Kartellsenats Akteneinsicht zu gewähren hat. Die Akteneinsicht schließt grundsätzlich auch solche Aktenbestandteile ein, die als Geschäftsgeheimnisse gekennzeichnet sind und mit der Bitte um vertrauliche Behandlung vorgetragen wurden. Solche Geschäftsgeheimnisse anderer Unternehmen können, wenn sie dem Gericht übermittelt worden sind, gegenüber der Verteidigung grundsätzlich nicht verheimlicht werden. Anders als die für das Verfahren vor der Verfolgungsbehörde geltende Regelung des § 49 Abs. 1 OWiG (vgl. Bohnert/Lampe in KK-OWiG 3. Aufl. § 49 Rdn. 1), die für das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen selbst eine Beschränkung insoweit vorsieht, als überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen, gewährt § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 147 Abs. 1 StPO im gerichtlichen Verfahren dem Verteidiger ein umfassendes Akteneinsichtsrecht. Dieses weitergehende Akteneinsichtsrecht des Verteidigers, das durch einen Rechtsanwalt wahrgenommen wird, rechtfertigt sich auch deshalb, weil dieser als Organ der Rechtspflege in einer besonderen Pflichtenstellung steht. Er wird seinem Mandanten nur solche Auskünfte zukommen lassen, die für eine Durchführung einer sachgerechten Verteidigung erforderlich sind (vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2007, 1052, 1053).

Das besondere Akteneinsichtsrecht des § 72 GWB und insbesondere das Verfahren nach Absatz 2 dieser Bestimmung über die Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen ist auf das Bußgeldverfahren nicht anwendbar. Dies ergibt sich schon aus der systematischen Stellung dieser Vorschrift, die im Zusammenhang mit den Regelungen über das Kartellverwaltungsverfahren steht. Eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts ist zudem mit dem im Bußgeldverfahren gleichermaßen geltenden (§ 71 Abs. 1 OWiG) strafprozessualen Grundsätzen nicht vereinbar. Danach ist es grundsätzlich ausgeschlossen, dass Aktenbestandteile, die der Verfolgungsbehörde oder dem Gericht bekannt sind, der Verteidigung vorenthalten werden. Auch die "vertrauliche" Mitteilung an das Gericht ist den Verfahrensbeteiligten bekannt zu machen (BGHSt 42, 71). Ebenso wenig dürfen - im Gegensatz zur Regelung nach § 99 VwGO - Aktenteile nur exklusiv dem Gericht zur Verfügung gestellt werden (BGH, NJW 2000, 1661, 1662).

Während im zivilgerichtlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahren ein Zeugnisverweigerungsrecht anerkannt ist, wenn der Zeuge ein Geschäftsgeheimnis offenbaren müsste (§ 384 Nr. 3 ZPO i.V.m. § 98 VwGO), gilt dies im Straf und Bußgeldverfahren nicht. Dies zeigt den im Verhältnis zum Aufklärungsinteresse geringeren Schutz auf, den Geschäftsgeheimnisse im Straf- und Bußgeldverfahren genießen. Dort sind sie grundsätzlich immer dann zu offenbaren, wenn es die Ermittlung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit gebietet. Ein Schutz besteht lediglich durch die Möglichkeit nach § 172 Nr. 2 GVG, die Öffentlichkeit auszuschließen. Gegenüber den Prozessbeteiligten und damit auch gegenüber der Verteidigung darf dagegen ein Geschäftsgeheimnis, soweit es für den Schuld oder Rechtsfolgenausspruch Entscheidungserheblichkeit entfalten kann, nicht verschwiegen werden. Insoweit unterscheidet sich diese Fallkonstellation von derjenigen, die der Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Oktober 2006 (BVerfG, NJW 2007, 1052) zugrunde lag und bei der eine Abwägung zwischen dem Geheimhaltungsinteresse des von der Akteneinsicht Betroffenen und dem Informationsbedürfnis des um Akteneinsicht nachsuchenden (verfahrensfremden) Dritten für erforderlich gehalten wurde. Zwar ist die Antragstellerin im Blick auf diese Parallelverfahren bei formaler Betrachtung auch Dritte. Bei einer solchen Sichtweise bliebe jedoch unbeachtet, dass es in der Sache um einen untrennbar verwobenen Gesamtkomplex geht. Dies rechtfertigt es, das Akteneinsichtsrecht, das dem Betroffenen über seine Verteidiger zusteht, auch auf diesen Gesamtkomplex zu erstrecken und insoweit das Geheimhaltungsinteresse im Hinblick auf mögliche Geschäftsgeheimnisse zurücktreten zu lassen. Das leitende Interesse für die Akteneinsicht ist hier die Vorbereitung der Verteidigung in einem im Wesentlichen gleichgelagerten Bußgeldverfahren, nicht ein aus einer anderen Rechtsbeziehung folgendes Interesse.

In erster Linie werden Geschäftsgeheimnisse von anderen Nebenbetroffenen in Betracht kommen, die sich sowohl aus eigenen Angaben, beschlagnahmten Unterlagen als auch aus Zeugenaussagen Dritter ergeben können. Ein besonderes Schutzbedürfnis ist für diesen Kreis nicht zu erkennen. Würde man nämlich die Verfahren verbinden, was letztlich nur eine nach verfahrensökonomischen Gesichtspunkten zu treffende Entscheidung wäre, bestünde keine Handhabe, der Antragstellerin die Einsicht in diese Aktenbestandteile zu verweigern. Der zufällige Gesichtspunkt der Verfahrenstrennung bzw. -verbindung kann deshalb kein Grund sein, der Antragstellerin die Einsicht in diese Aktenbestandteile zu verweigern, die sie in ihrem Rechtskreis berühren könnten.

Der Kreis der Betroffenen und Nebenbetroffenen ist zudem weniger schutzwürdig, weil er nicht auskunftspflichtig ist (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 136, 55 StPO). Damit entfällt eine wesentliche zusätzliche Legitimation für einen Geheimhaltungsschutz. Die besondere Rechtfertigung für eine Geheimhaltung der durch die Auskunft erlangten Daten ist in erster Linie darin zu sehen, dass der Auskunftspflichtige gegenüber der Kartellbehörde einer bußgeldbewehrten Pflicht (§ 81 Abs. 2 Nr. 6 GWB) nachkommt (vgl. Kollmorgen in Langen/Bunte aaO § 72 GWB Rdn. 8). Dann muss sich der Auskunftspflichtige auch auf eine vertrauliche Behandlung verlassen dürfen. Anhaltspunkte dafür, dass sich auch Geschäftsgeheimnisse von am Preiskartell nicht beteiligten Dritten bei den Akten befinden, die das Bundeskartellamt durch solche verbindliche Auskunftsverlangen nach § 59 GWB erlangt hat, sind nicht ersichtlich. Es kann deshalb offenbleiben, ob die Antragstellerin auch in solche Aktenbestandteile Einsicht nehmen dürfte.

VI. Der Senat hat die Kosten der Staatskasse auferlegt, weil die Antragstellerin mit ihrem Akteneinsichtsgesuch im Wesentlichen Erfolg hat. Für das Beschwerdeverfahren, das mit dieser Entscheidung seinen Abschluss findet (vgl. Meyer-Goßner StPO 50. Aufl. § 464 Rdn. 11a), ist zugunsten der Antragstellerin eine Kostenerstattung zu Lasten der Staatskasse auszusprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 29

Externe Fundstellen: BGHSt 52, 58; NJW 2007, 3652; NStZ 2008, 104; StV 2008, 452

Bearbeiter: Stephan Schlegel